Stationen

Donnerstag, 31. März 2022

"Wer versteht, der rechtfertigt"

Ich kann nicht mehr tun, als den Menschen meiner Zeit signifikante Mosaiksteinchen anzubieten.


"Wer versteht, der rechtfertigt", sagte Amos Luzzatto sehr bedauerlicherweise vor Gymnasiasten in einem Vortrag über die Shoah (auf Primo Levi Bezug nehmend). Dieses sehr persönliche Dogma war damals eine fast geflüsterte, wenn auch sehr entschieden, unerbittlich deutlich gemachte Außenseiterposition; jetzt schallt sie aus den Gurgeln eines quasi einstimmigen deutschen Journalistenchors in Bezug auf einen Mann, der bisher nicht einmal so brutal vorgegangen ist wie Katherina die Große, die ihren Gatten ermorden ließ, um auf den Thron zu gelangen. In Deutschland ist das Nichtverstehen mindestens seit den 70-ern beliebter als das Verstehen. Damals unterstrich Peter Brückner, dass "die Dinge nicht einfach vom Himmel fallen" in einem Buch über die Radikalisierung Ulrike Meinhofs und Gudrun Ensslins. Ich glaube inzwischen, dass sie zum Teil tatsächlich vom Himmel fallen bzw. dass sie von unten, aus des Teufels Küche, wo der verdorbene Brei entsteht, den Leute wie Klaus Schwab, Claas Relotius, Karl Lauterbach und Lex Luthor zusammen mit den Köchen der Spectre zusammenrühren, als Ausdünstung des Freudschen Unbewussten und der Selbsbehauptungsenergien, die Konrad Lorenz als das "sogenannte Böse" bezeichnete (und Freud nicht wusste, ob er sie dem "Es", dem "Narzissmus" oder dem "Über-Ich" anlasten sollte), auch dann noch nach oben quillen werden, wenn Immanuel Kants und Francis Fukuyamas Wunschvorstellungen eines Tages tatsächlich wahr geworden sein sollten.

Primo Levi drückte sich in Wirklichkeit sehr viel vager, anspielender und behutsamer aus: «forse, quanto è avvenuto non si può comprendere, anzi, non si deve comprendere, perché comprendere è quasi giustificare». Übersetzt heißt das: "Vielleicht kann man, was geschehen ist, nicht verstehen bzw. darf man es nicht verstehen [wobei comprendere auch die Bedeutung "Verständnis dafür haben" hat], weil verstehen ja fast schon rechtfertigen ist". So drückte er sich in einem nachträglich geschriebenen Anhang seines Buches "Ist das ein Mensch?" aus. Primo Levis Vorsicht entspricht einer ganz anderen Absicht als es die Amos Luzzatos ist! Letzterem ging es darum, Deutungshoheit bei der politischen Bewertung der Vergangenheit und der Gegenwart zugunsten der italienischen Kommunisten durchzusetzen; dabei schreckte er nicht davor zurück, Primo Levi zu instrumentalisieren (die Methode der moralischen Erpressung, die inzwischen die deutschen Leitmedien auf die vorstellbar plumpeste Weise beherrscht, wandte Luzzatto noch sehr, sehr subtil an). 

Primo Levi dagegen versuchte uns für die anthropologische Bedeutsamkeit des "timor sacro", der "heiligen Scheu" zu sensibilisieren, die auch dem Gebot "Non adsumes nomen Domini Dei tui in vanum" zugrunde liegt. Man kann nicht alles begreifen, vor allem das Beste nicht und das Schlimmste nicht, deswegen gelten beide als unnennbar. Man soll nicht vom Teufel sprechen, weil man ihn dadurch auf den Plan rufen könnte, und in der jüdischen Religion soll man nicht einmal Gottes Namen nennen, weil dies eine unzulässige Reduzierung dessen auf ein ungeeignetes Wort wäre, von dem man laut Maimonides allenfalls sagen kann, was ER nicht ist.

Ich ziehe das Verstehen dem Nichtverstehen allemal vor. Das ist eine Frage des Temperaments. Wahrheit ist jedoch nur das Zweitbeste, was wir haben können. Denn sie ist gefährlich: Wenn sie göttlich ist, erzeugt sie Neid, wenn sie teuflisch ist, erzeugt sie Unruhe; deshalb halten Mütter sie unter Verschluss

Die Tatsache, dass die Liebe wichtiger ist als die Wahrheit, kann einem allerdings auch zum Verhängnis werden: All den von moralischer Eitelkeit durchdrungenen Gutmeinenden, die heute das Leben in Deutschland mehr und mehr zur Hölle machen, wurde diese Tatsache zum Verhängnis.

 

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