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Mittwoch, 30. März 2022

Solschenyzin 2018

Mit seinem Glauben an eine zivilisatorische Mission Russlands erwies sich Alexander Solschenizyn am Ende seines Lebens trotz seiner Dissidenz zum Sowjetstaat als natürlicher Verbündeter Putins. Zu seinem 100. Geburtstag, am 10. 12. 2018 erschien sein unbedingter Wahrheitsanspruch den Polittechnologen im Kreml jedoch wieder unbequem.

In einem Punkt stimmen Alexander Solschenizyns Anhänger und Gegner auch heute in Russland überein: Er durchlebte eine «schwierige» Biografie. Damit enden aber schon alle Gemeinsamkeiten. Seine Fans verehren Solschenizyn als mutigen Kämpfer für die Freiheit des Wortes. Seine Feinde beschimpfen ihn als Verräter, der die positiven Aspekte der Sowjetzeit verleumde. Die tiefen Gräben in der Bewertung des Literaturnobelpreisträgers haben sich erst nach dem russischen Schicksalsjahr 2014 aufgetan. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte es so ausgesehen, als könne Solschenizyn eine neue geistige Einheit Russlands verbürgen.

Mit seinem feinen Gespür für publikumswirksame Auftritte besuchte Präsident Putin den berühmten Schriftsteller bereits im September 2000. Er besprach mit ihm die Idee eines Denkmals für Piotr Stolypin, der als Premierminister nach der ersten Revolution von 1905 die Modernisierung des russischen Staates energisch vorangetrieben hatte. Putin betrachtet Stolypin wegen seines autoritären und effizienten Regierungsstils seit je als politisches Vorbild. Für Solschenizyn war Stolypin jener russische Geschichtsheld, der die revolutionären Katastrophen des Jahres 1917 hätte abwenden können, wäre er nicht 1911 von einem Terroristen ermordet worden.

Für einen starken Staat

Überhaupt zeigte sich Solschenizyn davon überzeugt, dass nur ein starker Staat das Überleben der russischen Nation garantieren könne. Deshalb hielt er sorgfältige Distanz zu allen Protestbewegungen in der Ära Putin. Anfang 2001 blieb Solschenizyn einem Moskauer Kongress fern, der von über dreihundert russischen Menschenrechtsorganisationen als Zeichen gegen den Demokratieabbau und den wachsenden Einfluss der Sicherheitsdienste unter Putin organisiert worden war. Als der Kreml wenig später den kritischen Fernsehsenders NTV durch eine erzwungene Handänderung disziplinierte, fand Solschenizyn keine tadelnden Worte. Im Jahr 2005 ging in der russischen Präsidialadministration die Angst vor einer «Farbrevolution» nach georgischem oder ukrainischem Vorbild um. Auch in dieser Situation unterstützte Solschenizyn den Kreml moralisch. In einem Fernsehinterview des staatlichen Kanals Rossija verglich er die «orange Revolution» in Kiew mit der Februarrevolution 1917 und warnte vor einem Abgleiten ins Chaos. Der Schriftsteller bekräftigte diese Sicht im April 2006, als er in einer konservativen Moskauer Zeitung die USA für die Unterstützung der ukrainischen Proteste kritisierte und Putin für seine Bemühungen um die Wahrung der russischen Staatlichkeit lobte. Wenig später bedankte sich Putin symbolisch bei Solschenizyn, indem er seinen Namen in der Rede zur Lage der Nation erwähnte.

2007 erhielt Solschenizyn sogar einen Staatspreis. Aus diesem Anlass besuchte Putin den gebrechlichen Schriftsteller in seiner Moskauer Wohnung und erklärte nach dem Treffen, dass seine Vorstellungen über den zukünftigen russischen Staat mit Solschenizyns Position harmonieren. Diese zur Schau gestellte Einmütigkeit erstaunte umso mehr, als Solschenizyn noch 1998 die Verleihung des höchsten Ordens aus den Händen des damaligen Präsidenten Jelzin abgelehnt hatte. Damals begründete der Schriftsteller seine Weigerung damit, dass er keine Auszeichnung von einer Staatsmacht annehmen könne, die Russland in den Abgrund geführt habe.

Gelegenheit zur historischen Legitimierung

Auf den ersten Blick erscheinen Solschenizyn und Putin als höchst ungleiches Paar. Hier der unerschrockene Kämpfer gegen den repressiven Sowjetstaat, dort der Karrierist, der stolz auf seine Vergangenheit als Geheimdienstoffizier blickt. Der Schriftsteller und der Staatslenker fanden sich jedoch in vier Punkten: Beide gingen davon aus, dass sich die russische Staatlichkeit auch auf Belarus und die Ukraine erstrecken müsse, beide unterstrichen die Wichtigkeit der orthodoxen Kirche für die russische Kultur, beide kritisierten die Medienabhängigkeit der westlichen Demokratie, und beide sprachen sich gegen den Raubtierkapitalismus der Oligarchen aus. 

Für die Polittechnologen des Kreml war klar, dass sich mit Solschenizyn eine einzigartige Gelegenheit zur historischen Legitimierung und kulturellen Veredelung eines genuin russischen Wertekanons bot. Als Solschenizyn im Jahr 2008 starb, wurde er feierlich auf dem Moskauer Donskoi-Friedhof neben dem konservativen Philosophen Iwan Iljin und dem zaristischen Historiker Wassili Kljutschewski beigesetzt. Putin nahm persönlich an der Zeremonie teil. Wenig später liess die Spitze der Regierungspartei verlauten, dass sie auch in Zukunft Solschenizyns Ideen als ihre ideologische Grundlage betrachte. In Moskau wurde noch im selben Jahr die Große Kommunistische Strasse in Alexander-Solschenizyn-Strasse umbenannt.  

Der damalige Präsident Medwedew nahm für diese Hommage sogar die Verletzung eines Gesetzes in Kauf, das die Benennung einer Straße frühestens zehn Jahre nach dem Tod der namengebenden Persönlichkeit erlaubt. Bereits im Juli 2014 unterzeichnete Putin einen Ukas, der die Hundertjahrfeier von Solschenizyns Geburtstag regelte. Diese frühe Ankündigung zeugte von der symbolischen Wichtigkeit dieses Ereignisses in der offiziellen Gedächtnispolitik – zumindest zum damaligen Zeitpunkt. Zum Vergleich: Den entsprechenden Ukas für das unbequeme 100-Jahr-Jubiläum der Oktoberrevolution erließ Putin mit der extrem knappen Vorlaufzeit von zehn Monaten.

Erstaunlich ruhig

Allerdings ist es in Russland bisher erstaunlich ruhig um Solschenizyns hundertsten Geburtstag geblieben. Von der angekündigten wissenschaftlich kommentierten Ausgabe des «Archipel Gulag» hört man nichts. Das geplante Solschenizyn-Museum in Moskau wird erst nach dem eigentlichen Jubiläum eröffnet. Auch das angekündigte Denkmal beim Taganka-Platz entsteht erst in letzter Minute. Ein weiteres Denkmal in Solschenizyns Geburtsstadt Kislowodsk wurde von einer rechtspopulistischen Bewegung bekämpft. In einem offenen Brief erklärten die Demonstranten, dass Solschenizyn die heldenhafte russische Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Schmutz ziehe und sich im Kalten Krieg auf der Seite des amerikanischen Feindes gegen den Sowjetstaat engagiert habe. 

Eine Gruppe radikaler Neokommunisten forderte, im Jahr 2018 nicht den hundertsten Geburtstag des «Geschichtsfälschers» Solschenizyn zu begehen, sondern den hundertfünfzigsten Geburtstag des «großen Sowjetschriftstellers» Maxim Gorki. Mitglieder der patriotischen Bewegung «Das Wesen der Zeit» führten Mahnwachen durch. Sie trugen Schilder in den Händen mit der warnenden Aufschrift: «Wenn unsere Kinder mit Solschenizyn lernen, dann bekommen wir weitere Reueauftritte im Bundestag.» Damit wurde auf die Rede eines russischen Schülers am Volkstrauertag 2017 vor dem deutschen Parlament angespielt – der Junge hatte vom «unschuldigen Tod» eines Wehrmachtsoldaten auf sowjetischem Boden gesprochen und damit in Russland eine Welle der Empörung ausgelöst. Nun sind solche Pöbeleien gegen Solschenizyn wahrscheinlich nur vorgeschoben. Der große Mahner ist wieder unbequem geworden, weil sein berühmter Aufruf «Lebt nicht mit der Lüge!» im heutigen Russland eine fatale Resonanz auslösen könnte. Solschenizyn hatte sich mit diesem flammenden Plädoyer zu Beginn der siebziger Jahre an die russische Intelligenzia gewandt und sie im verlogenen Sowjetsystem auf die bedingungslose Hochachtung der Wahrheit verpflichtet. Dieses Programm erhält eine neue Aktualität, wenn grüne Männchen auf der Krim auftauchen, Soldaten ihre Ferien kämpfend im Donbass verbringen und russische Touristen die Kathedrale von Salisbury bewundern.   NZZ

 

Solschenyzins als Buch "Offener Brief (an die sowjetische Führung)" erschienener Aufruf "Lebt nicht mit der Lüge!" sollten auch die bundesdeutschen Wähler lesen, in Zeiten, in denen Claas Relotius von seinen Kollegen mit Preisen überhäuft wurde. Ich fand die Lektüre schon 1976 (und mehr noch 1977) erbaulich. Damals erstand ich auch "Drei Reden an die Amerikaner" die Solschenyzin vor amerikanischen Gewerkschaften gehalten hatte (unter anderem zum heute heiß umworbenen Thema Ökologie). Dass Solschenyzin heute von der woken Meute verleumdet wird, ist nicht nur eine himmelschreiende Geschmacklosigkeit, sondern ein unheilvolles Zeichen. Die jungen Menschen von heute sind nicht zu beneiden.




 

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