Der Pazifismus ist in Verruf geraten. Wieder einmal. Zwar gelten Pazifisten heute nicht mehr als Vaterlandsverräter oder Drückeberger, aber immerhin als Realitätsverweigerer, Traumtänzer oder, wenn es ganz schlimm kommt, als Putin-Versteher. Auch landen Pazifisten nicht mehr im Gefängnis, dafür bekommen sie jedoch die geballte Empörung der aufrechten Kämpfer für Demokratie und die Werte des freien Westens zu spüren.
Pathos des gerechten Krieges
Entsprechend erlebt der Heldentod eine ungeahnte Renaissance, nachdem er für ein paar Jahrzehnte in Verruf geraten war. Man stirbt wieder gerne – noch besser: lässt sterben –, und das mit Überzeugung. Diesmal nicht für Volk und Vaterland, das auch, vor allem aber für Freiheit und Demokratie. Das klingt irgendwie moderner, macht im Endeffekt allerdings keinen grossen Unterschied. Tot ist man so oder so.
Ein unorthodoxer Pazifismus, bisher vager Grundkonsens westeuropäischer Gesellschaften, gilt seit ein paar Wochen wieder als verdächtig. Wer nicht bereit ist, zu den Waffen zu rufen und im heroischen Kampf gegen den Aggressor zur Not auch die halbe Welt in Trümmer zu legen, firmiert als Kleingeist. Entsprechend haben nicht wenige Publizisten den Freiheitshelden in sich entdeckt. Mehr oder minder offen plädiert man etwa für ein Eingreifen der Nato in der Ukraine. Man kokettiert mit gedanklichen Kriegsspielen. Und verkündet vollmundig, nun gelte es, die Freiheit zu verteidigen, die westliche Werteordnung und die Demokratie.
Der hohe Ton gilt auf einmal wieder etwas. Das Pathos des gerechten Krieges, noch vor Wochen unvorstellbar, wabert weihrauchgeschwängert durch die öffentlichen Diskurse. Man schlägt sich wieder mit eiserner Faust an die gepanzerte Brust. Mal fordert man, dass Nato-Truppen direkt in der Ukraine intervenieren sollen. Dann wieder Flugverbotszonen. Wenn der ganze Unfug nicht so brandgefährlich wäre, man müsste eigentlich laut lachen.
Der Westen sollte mehr Selbstbewusstsein haben und auf seine zivilen Werte vertrauen.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Putins Überfall auf die Ukraine ist ein Verbrechen, auch wenn es, wie viele Verbrechen, eine Vorgeschichte hat. Und der Widerstandswille des ukrainischen Volkes ist bewundernswert. Die Versuche der ukrainischen Regierung, immer wieder die Nato oder einzelne Nato-Staaten militärisch mit in den Konflikt hineinzuziehen, sind daher verständlich, im Kern aber ein Spiel mit dem atomaren Feuer.
Gedankenspiele der Schreibtischhelden
Noch gefährlicher sind allerdings die westlichen Schreibtischhelden, die solche Gedankenspiele aufgreifen und unterstützen. Ein Eingreifen der Nato hätte Konsequenzen, die – Wahrheiten können schmerzhaft sein – in keinem Verhältnis zum Anliegen stehen. Deutlich formuliert: Man riskiert keinen Atomkrieg aus humanitären Gründen. Das wäre ein Widerspruch in sich und sollte eigentlich einleuchten.
Doch im Moment triumphiert an manchen Schreibtischen die Gesinnungs- über die Verantwortungsethik. Vernarrt, dogmatisch und selbstgefällig ist man entschlossen, grosse Ideale zu verteidigen, Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie etwa, und ist bereit, dafür Tausende Tote, Zerstörung und eine extrem gefährliche Eskalation in Kauf zu nehmen. Das alte «Lieber tot als rot» wird wieder aus der Mottenkiste geholt, farblich diesmal modisch aktualisiert zu «Lieber tot als weissblaurot».
Doch sogar John F. Kennedy, damals die Ikone der freien westlichen Welt, wollte seine Kinder «Lieber rot als tot» sehen, wie er einmal seiner Geliebten Mimi Alford gestand. Und Kennedy hat natürlich recht. Auch wenn es für viele schwer zu akzeptieren ist: Es gibt keinen Wert, für den zu sterben sich lohnt. Das Leben ist viel zu wertvoll, viel zu einzigartig und viel zu schön, um es für Regierungsformen, Herrschaftsansprüche oder Staatsverfassungen herzugeben. Und perfide ist es, andere in einen solchen Wahn hineinzuziehen. Wer meint, für erhabene Werte den Heldentod sterben zu müssen, soll das tun und sich irgendwelchen Freischärlern andienen. Ganze Völker aber, Millionen von Menschen in eine solche Katastrophe hineinzuziehen, indem man einen Waffeneinsatz des Westens herbeifabuliert, ist mehr als fragwürdig.
Wären sie wirklich willens, das Leben ihrer Kinder herzugeben, ihr Lachen, ihre Zukunft, ihre Liebe?
Auch wenn es schwerfällt: Manchmal ist es hilfreich, Dinge zu Ende zu denken, radikal und in aller Konsequenz. All jene, die heute mit einem Eingreifen der Nato in der Ukraine kokettieren, sollten sich überlegen, ob sie bereit wären, ihre eigenen Kinder für Demokratie und Freiheit zu opfern. Wären sie wirklich willens, das Leben ihrer Kinder herzugeben, ihr Lachen, ihre Zukunft, ihre Liebe, ihr Glück? Der grosse John F. Kennedy war ehrlich. Unsere neuen Hobby-Bellizisten sollten es auch sein. Die Antwort kann nur lauten: Nein, niemals.
Doch es herrscht wieder der Ungeist der politischen Romantik. Man greift wieder zur Waffe, zumindest rhetorisch, man steht wieder für etwas ein, für etwas Grosses, Erhabenes und Ewiges. Der aufgeblasene Schmierenton dominiert die Gazetten. Autoren, die noch vor wenigen Wochen den Moralismus öffentlicher Debatten beklagten, produzieren auf einmal selbst schwärmerisches Moralin im Überschuss.
In ihrer ideologischen Verblendung übersehen sie, dass auch die berechtigte Verteidigung eines Landes ethische Grenzen kennt. Auch moralisch gerechtfertigter Widerstand verliert irgendwann seine moralische Legitimität. Die gerechte Sache kann durch die Wahl der Mittel zu einer zweifelhaften werden. Denn die Aufgabe jeder verantwortungsvollen Regierung ist es, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Regierungsverantwortliche, die immer mehr Männer in den Tod schicken und die Bombardierung ihrer Städte hinnehmen, allein aus dem eitlen Bewusstsein heraus, im Recht zu sein, handeln kurzsichtig.
Differenziert denken
Genauso wie der Krieg das Mittel der Politik ist, so ist es auch der Friede. Für verantwortungsethisch denkende Menschen kann es sinnvoll sein, die Waffen niederzulegen, um weiteres sinnloses Blutvergiessen zu verhindern – selbst dann, wenn man prinzipiell das Recht auf Selbstverteidigung auf seiner Seite hat. Aber recht haben ist eben nicht alles.
Denn liberale Gesellschaften opfern keine Menschen für die gute Idee. Das machen nur totalitäre Regime und autoritäre Ideologien. Diese sind stets bereit, das Glück, die Zukunft und die Lebensfreude des Individuums für etwas Grösseres hinzugeben: für die Nation, den Klassenkampf, die Ehre. «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», formulierte einst Al-Qaida-Führer Abu Dudschan al-Afghani. Und er hatte recht.
Liberale Gesellschaften lieben das Leben. Jedes einzelne ist ihnen heilig und steht höher als irgendwelche Kollektivwerte oder gar Institutionen. Auch Menschen, die für die Demokratie sterben, sind tot. Und jeder tote Mensch ist eine Tragödie. Für die Freiheit zu sterben, ist kein bisschen besser, als für ein russisches Grossreich zu krepieren. Am Ende stehen immer nur Schmerz und Leid, zerstörte Sehnsüchte und nie gelebte Träume.
In ihrer verständlichen Empörung über die russische Okkupation lassen sich allzu viele Liberale hinreissen und beginnen, zwischen dem sinnvollen und dem sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld zu unterscheiden. Doch der Tod auf dem Schlachtfeld ist immer sinnlos. Daher Kennedys Wunsch, seine Kinder lieber rot als tot zu sehen.
Die mächtigsten Waffen der freien Welt sind ohnehin keine Luftgeschwader oder Panzerbrigaden. Die mächtigsten Waffen der freien Welt sind ihre Lebenslust, ihre Daseinsfreude, ihr Spass am Genuss. Putin hat seinen jungen Soldaten nicht mehr zu bieten als leere Regale und den Tod für Mütterchen Russland. Mit diesem kargen Angebot muss er langfristig scheitern. Der Westen sollte mehr Selbstbewusstsein haben und auf seine eigenen zivilen Werte vertrauen, statt sich romantischer Kriegsrhetorik hinzugeben.
Orthodoxer Pazifismus ist blauäugig. Und ein von blindem Idealismus und dem Rausch moralischer Rechthaberei getriebener Bellizismus ist brandgefährlich. Wie immer, so gilt auch hier: Differenziert zu denken, kann nicht schaden. Wehrhaft sein ist gut. Doch im richtigen Moment muss man auch den Mut haben, mehr Pazifismus zu wagen! Alexander Grau
Blick zurück ins Jahr 2013 und 2003
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