"HOC IN DISCRIMINE RERUM..."
WARUM GESCHICHTS- UND HEIMATVEREINE HEUTE WICHTIGER SIND DENN JE
Kulturelle
Vereine haben in Deutschland eklatante Nachwuchssorgen. In allen
Regionen herrscht nahezu das gleiche Bild: In Gesangsvereinen verhallen
die letzten Akkorde, literarische Gesellschaften schließen die Bücher
ihres Namenspatrons, Landsmannschaften sterben buchstäblich aus. Vor ein
paar Jahren wurde die Eichendorff-Gesellschaft aufgelöst, und kaum
jemanden kümmerte es; mit ihr starb die "Aurora", ein renommiertes Forum
fachübergreifender Romantikforschung. All diesen Vereinen ist gemein,
dass sie vor 100 und mehr Jahren gegründet wurden, zu einer Zeit also,
da Literatur, Gesang und historisches Interesse nicht mit einer Vielzahl
anderer Freizeitangebote zu konkurrieren hatten und kultureller
Erinnerungsarbeit ein besonderer Wert zukam.
Mehr als zehn Jahre
lang habe ich über eine Distanz von mehreren hundert Kilometern die
Rückert-Gesellschaft in Schweinfurt geleitet und in Personalunion das
Jahrbuch herausgegeben, fast ebenso lange die Kölner Sektion der
Raabe-Gesellschaft, die in fernen Tagen, als die Mitgliederzahl noch
beträchtlich war, Ortsvereinigung hieß. In den vergangenen Wochen wurde
ich gleich dreimal angefragt, ob ich nicht eine literarische
Gesellschaft bzw. einen Geschichtsverein übernehmen wolle, obwohl ich in
allen dreien noch nicht einmal eingetragenes Mitglied war, ansonsten,
so sagte man mir, würde der Verein... In einem Fall hängt es tatsächlich
nur noch davon ab, ob man meinen Forderungen nach einer Umgestaltung
der Gesellschaft nachkommt, die ich für ihren Erhalt als dringend
notwendig erachte. Ich habe das im Fall der Rückert-Gesellschaft damals
auch getan und lag damit richtig: Lange Zeit war sie eine der größten
und zugleich jüngsten literarischen Gesellschaften zu einem Dichter des
19. Jahrhunderts überhaupt. Ganz sicher hätte ich auch die
Eichendorff-Gesellschaft wieder auf Kurs bekommen, aber man hatte damals
versäumt, an mich heranzutreten.
Literarische Gesellschaften und
Geschichtsvereine leisten auch heute noch wichtige Arbeit bei der
regionalen und überregionalen Identitätsbildung, wie ich beim
Heimatverein der Erkelenzer Lande, bei der Otto von Bylandt-Gesellschaft
und beim Colloquium Historicum Wirsbergense immer wieder erfahren
durfte. Sie fördern den Dialog und führen zu einem vertieften
Verständnis dessen, womit man sich beschäftigt. Aus Bekanntschaften
werden dabei zuweilen Freundschaften. Man trifft sich, und das Gespräch
verlängert sich über die Zusammenkunft hinaus.
Die Coronakrise
und der Krieg in Europa werden in Zukunft dazu führen, dass dem
Kulturbetrieb nur noch eingeschränkte Mittel zur Verfügung stehen.
Theater werden schließen, Schauspiel- und Konzerthäuser ihr Programm
zurückfahren, Vortragsabende zur Seltenheit werden. Geschichtsvereine
und literarische Gesellschaften aber leben seit jeher vom ehrenamtlichen
Engagement von Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, und
die einen Ehrgeiz darin entwickeln, Dinge wichtig zu machen, die nicht
unbedingt marktgängig sind. Sie werden damit in jene Lücke stoßen, die
sich in den kommenden Jahren auftun wird. Alle Gesellschaften sind
freilich gehalten, verstärkt jüngere Mitglieder zu werben und an die
Arbeit heranzuführen. Man dient mit der Arbeit für eine Gesellschaft
heutzutage vielleicht nicht unbedingt mehr seiner Karriere, aber man
dient der Sache, und das macht sie wertvoll.
Literarische
Gesellschaften und Geschichtsvereine gibt es fast überall, denn nahezu
jeder Ort hat etwas, das der Erinnerung und damit einer eingehenden
Beschäftigung wert ist. Ich kann nur jeden dazu ermuntern, einfach
einmal vorbeizugehen, wenn regionale Vereine Veranstaltungen ankündigen.
Und sollte man danach zu der Auffassung gelangt sein, dass man am
falschen Platz war, so ist das immer noch besser, als die Zeit sinnlos
vor dem Fernseher oder vor dem Gaming PC vertan zu haben. Ralf Georg Czapla
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