Stationen

Mittwoch, 16. März 2022

Geschichtslosigkeit führt zu Heimatlosigkeit

"HOC IN DISCRIMINE RERUM..."

WARUM GESCHICHTS- UND HEIMATVEREINE HEUTE WICHTIGER SIND DENN JE

Kulturelle Vereine haben in Deutschland eklatante Nachwuchssorgen. In allen Regionen herrscht nahezu das gleiche Bild: In Gesangsvereinen verhallen die letzten Akkorde, literarische Gesellschaften schließen die Bücher ihres Namenspatrons, Landsmannschaften sterben buchstäblich aus. Vor ein paar Jahren wurde die Eichendorff-Gesellschaft aufgelöst, und kaum jemanden kümmerte es; mit ihr starb die "Aurora", ein renommiertes Forum fachübergreifender Romantikforschung. All diesen Vereinen ist gemein, dass sie vor 100 und mehr Jahren gegründet wurden, zu einer Zeit also, da Literatur, Gesang und historisches Interesse nicht mit einer Vielzahl anderer Freizeitangebote zu konkurrieren hatten und kultureller Erinnerungsarbeit ein besonderer Wert zukam.

Mehr als zehn Jahre lang habe ich über eine Distanz von mehreren hundert Kilometern die Rückert-Gesellschaft in Schweinfurt geleitet und in Personalunion das Jahrbuch herausgegeben, fast ebenso lange die Kölner Sektion der Raabe-Gesellschaft, die in fernen Tagen, als die Mitgliederzahl noch beträchtlich war, Ortsvereinigung hieß. In den vergangenen Wochen wurde ich gleich dreimal angefragt, ob ich nicht eine literarische Gesellschaft bzw. einen Geschichtsverein übernehmen wolle, obwohl ich in allen dreien noch nicht einmal eingetragenes Mitglied war, ansonsten, so sagte man mir, würde der Verein... In einem Fall hängt es tatsächlich nur noch davon ab, ob man meinen Forderungen nach einer Umgestaltung der Gesellschaft nachkommt, die ich für ihren Erhalt als dringend notwendig erachte. Ich habe das im Fall der Rückert-Gesellschaft damals auch getan und lag damit richtig: Lange Zeit war sie eine der größten und zugleich jüngsten literarischen Gesellschaften zu einem Dichter des 19. Jahrhunderts überhaupt. Ganz sicher hätte ich auch die Eichendorff-Gesellschaft wieder auf Kurs bekommen, aber man hatte damals versäumt, an mich heranzutreten.

Literarische Gesellschaften und Geschichtsvereine leisten auch heute noch wichtige Arbeit bei der regionalen und überregionalen Identitätsbildung, wie ich beim Heimatverein der Erkelenzer Lande, bei der Otto von Bylandt-Gesellschaft und beim Colloquium Historicum Wirsbergense immer wieder erfahren durfte. Sie fördern den Dialog und führen zu einem vertieften Verständnis dessen, womit man sich beschäftigt. Aus Bekanntschaften werden dabei zuweilen Freundschaften. Man trifft sich, und das Gespräch verlängert sich über die Zusammenkunft hinaus.

Die Coronakrise und der Krieg in Europa werden in Zukunft dazu führen, dass dem Kulturbetrieb nur noch eingeschränkte Mittel zur Verfügung stehen. Theater werden schließen, Schauspiel- und Konzerthäuser ihr Programm zurückfahren, Vortragsabende zur Seltenheit werden. Geschichtsvereine und literarische Gesellschaften aber leben seit jeher vom ehrenamtlichen Engagement von Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, und die einen Ehrgeiz darin entwickeln, Dinge wichtig zu machen, die nicht unbedingt marktgängig sind. Sie werden damit in jene Lücke stoßen, die sich in den kommenden Jahren auftun wird. Alle Gesellschaften sind freilich gehalten, verstärkt jüngere Mitglieder zu werben und an die Arbeit heranzuführen. Man dient mit der Arbeit für eine Gesellschaft heutzutage vielleicht nicht unbedingt mehr seiner Karriere, aber man dient der Sache, und das macht sie wertvoll.

Literarische Gesellschaften und Geschichtsvereine gibt es fast überall, denn nahezu jeder Ort hat etwas, das der Erinnerung und damit einer eingehenden Beschäftigung wert ist. Ich kann nur jeden dazu ermuntern, einfach einmal vorbeizugehen, wenn regionale Vereine Veranstaltungen ankündigen. Und sollte man danach zu der Auffassung gelangt sein, dass man am falschen Platz war, so ist das immer noch besser, als die Zeit sinnlos vor dem Fernseher oder vor dem Gaming PC vertan zu haben.  Ralf Georg Czapla

 



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