Stationen

Mittwoch, 30. März 2022

Solschenyzin 2006

Welt: In Rußland ist viel von nationalen Projekten - von einer Reform des Gesundheitswesens bis hin zur Reform der Landwirtschaft - die Rede. Was halten Sie davon?

Solschenizyn: Wenn das Schiff 99 Lecks hat, kann man nicht alle sofort stopfen. Tatsächlich haben all diese Projekte zu Recht den Anspruch, "nationale Projekte" genannt zu werden. Sie sind wichtig und unaufschiebbar. Was die Landwirtschaft und das vernichtete Dorf anbelangt (...), dieses nicht erst seit einem Jahrzehnt ausgebrannte und zerstörte russische Dorf: Hier gibt es die absolut vorrangige Notwendigkeit zu handeln. Anderenfalls werden wir nicht nur in eine hungrige Abhängigkeit hineingezogen, sondern verlieren auch das Recht, den Grund und Boden unseres Landes zu bewirtschaften.

Welt: Es ist anzunehmen, daß Sie dem noch ein demographisches Projekt hinzufügen würden. Was ist nötig, um Rußland vor dem Aussterben zu bewahren?
 
Solschenizyn: Ja! Das "Bewahren des Volkes" - was seine Zahl anbelangt und auch seine physische und moralische Gesundheit - ist die höchste unserer staatlichen Aufgaben. (...) Alle Maßnahmen, um das Lebensniveau des Volkes zu heben, zielen darauf ab, unser Volk zu bewahren.


Welt: Rußland braucht ein demokratisches System. Vollwertige politische Parteien haben es jedoch schwer. Als Parteiengründer betätigt sich vor allem der Kreml.

Solschenizyn: Parteien wachsen schlecht bei uns, weil sie für uns eine unnatürliche Form darstellen. Unsere heutigen Parteien behindern nur die Entwicklung der Demokratie. (Ich habe des öfteren gesagt, daß ich die Idee "politischer Parteien" als Form eines "kollektiven Egoismus" auf Kosten anderer verurteile. Ich will nur an den Satz Trotzkis erinnern: "Eine Partei ist nichts wert, wenn sie nicht das Ziel hat, die Macht zu erlangen.") (...) Eine Demokratie, die auf der Ebene der existierenden örtlichen Selbstverwaltungsorgane beginnt und Stufe für Stufe bis zur Obersten Landesversammlung reicht, ist meines Erachtens die gesündeste Demokratie (...).

Welt: Rußland hat sich das demokratische System des Westens zueigen gemacht. War das richtig?


Solschenizyn: Wir haben tatsächlich so gehandelt wie ein Affe ohne Sinn und Verstand. Die heutige westliche Demokratie steckt in einer ernsthaften Krise, und man kann noch nicht ahnen, wie sie da herauskommen will. Für uns besteht der richtige Weg darin, keine Muster abzupausen, sondern sich, ohne von demokratischen Prinzipien abzukehren, um das physische und moralische Wohlergehen des Volkes zu kümmern.


Welt: Metropolit Kirill, einer der höchsten Würdenträger der Russisch-Orthodoxen Kirche, hat eine neue Definition von Menschenrechten in Rußland gefordert.

Solschenizyn: Metropolit Kirill hat zurecht darauf hingewiesen, daß die "Realisierung der Freiheiten nicht die Existenz des Vaterlandes bedrohen, weder religiöse noch nationale Gefühle verletzen darf". Diese heiligen Werte sind nicht weniger wert als die "Menschenrechte". Grenzenlose "Menschenrechte" - das ist das, was unsere Vorfahren, die Höhlenmenschen, hatten: Nichts konnte ihn daran hindern, seinem Nachbarn erjagtes Fleisch abzunehmen oder ihn zu töten. Daher brauchte jede Gesellschaft eine (...) herrschende Schicht. Im Laufe der Jahrhunderte behielt sie diese "Rechte", jedoch die Masse wurde eingeschränkt. Seit der Aufklärung hören wir vieltausendfach von "Menschenrechten", und in einer Reihe von Ländern sind sie in großem Umfang umgesetzt, nicht immer jedoch im Sinne der Moral. Jedoch: Was ist mit der Verteidigung der "Menschenpflichten"? Selbst die Aufforderung zur Selbstbeschränkung wird als unstatthaft gesehen. Doch gerade die Zurückhaltung gibt uns einen moralischen und zuverlässigen Ausweg aus allen möglichen Konflikten.

Welt: Wie kann die Gesellschaft aus der moralischen Krise finden?
 

Solschenizyn: Die staatliche Macht ist in ihrem Handeln noch mehr der Verantwortlichkeit verpflichtet als der gemeine Bürger, den moralischen Rahmen einzuhalten. Ich sehe hier den Ausweg darin, daß sich besonders die Leute, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die gesellschaftliche Meinung zu beeinflussen, einer bewußten Selbstbeschränkung unterziehen.

Welt: In Rußland gehört es für einen Politiker zum guten Ton, sich als konservativ zu bezeichnen. Was stellt für Sie der moderne russische Konservatismus dar?

Solschenizyn: Ich halte den Konservatismus für das Streben, die besten und vernünftigsten Traditionen, die sich im Laufe von vielen Jahrhunderten in den Handlungen des Volkes als richtig herausgestellt haben, zu erhalten und zu verteidigen. Der Konservatismus, dessen Keime jetzt in Rußland sprießen, wurde geboren als natürliche Antwort auf hemmungslose Haltlosigkeit. Er gibt Hoffnung, wirkt aber noch immer wie ein Versuch, noch nicht ausgearbeitet für die Gegenwart.
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Welt: In Rußland gab es zuletzt zahlreiche fremdenfeindliche Übergriffe, weshalb nun von einem Aufkeimen des russischen Nationalismus, gar Faschismus die Rede ist. Besteht eine solche Gefahr?

 Solschenizyn: Xenophobie ist den Russen historisch nicht eigen, anderenfalls hätte das Imperium nicht aus 120 Nationen bestanden. Mit dem Wort "Faschismus" wird bei uns verantwortungslos um sich geworfen. Der deutsche Nationalsozialismus begründete sich auf der überhöhten Selbsteinschätzung der deutschen Nation (gefüttert lange vor Hitler) - diesen Vorwurf kann man dem heutigen russischen Volk nicht machen. Mit dem Zusammenbruch aller sozialen Garantien und mit dem Beginn der Ära der freien Meinungsäußerung fanden auf gefährliche Art und Weise, häßlich und verzerrt, aggressive Auswüchse, Überfälle und Morde statt, verübt von einer nicht aufgeklärten Jugend. Ja, wir brauchen staatliche Maßnahmen, um derartige wilde Überfälle und Mordtaten zu verhindern. Und wir brauchen eine klare Untersuchung und Analyse der Gründe dieser aggressiven Stimmungen.

Welt: Gibt es einen "Konflikt der Zivilisationen zwischen Christentum und dem Islam? Was kann Rußland in dieser Situation tun?

Solschenizyn: Den globalen Konflikt könnte man am exaktesten so charakterisieren: Die Dritte Welt gegen die Goldene Milliarde. (...) Die Theorie des "Konfliktes der Zivilisationen" verschleiert den abgrundtiefen Unterschied im Wohlstand der Erdbevölkerung. Selbst wenn der christliche Einfluß im globalen Kontext nachläßt und der Islamismus sich kämpferisch gibt, sehe ich dennoch (...) keine Möglichkeiten für den Ausbruch von Religionskriegen, die den Planeten oder ganze Kontinente ergreifen könnten.

 Welt: Sehen Sie eine Islamisierung Rußlands?

Solschenizyn: (...) Die Politik des russischen Staates, die darauf zielt, eine friedliche und von gegenseitiger Achtung geprägte Koexistenz mit dem Islam zu ermöglichen, ist richtig. Wenn man sich jedoch das physische Aussterben des russischen Volkes vor Augen führt, existiert natürlich die Perspektive, daß die russische Kultur auf dem Territorium Rußlands von anderen Religionen und Kulturen (darunter der chinesischen) abgelöst wird. (...)

Welt: Gibt es denn eine Rettung für die euro-atlantische Zivilisation?

Solschenizyn: Der globale politische Prozeß bewegt sich leider nicht in die gewünschte Richtung. Die USA stellen ihre Besatzungstruppen in einem Land nach dem anderen auf. Das ist de facto in Bosnien so, in Kosovo, Afghanistan und im Irak, wird aber noch lange fortdauern. Die Handlungen der Nato und der USA unterscheiden sich nur in Details. Es ist klar ersichtlich, daß das heutige Rußland keine Bedrohung für sie darstellt, dennoch baut die Nato hartnäckig ihre militärische Struktur aus - in Richtung Osteuropa und, um Rußland als Kontinent zu umschließen, von Süden her. Das gilt auch für die offene materielle und ideologische Unterstützung der "bunten Revolutionen" und das paradoxe Eindringen nordatlantischer Interessen nach Zentralasien. All das läßt keinen Zweifel daran, daß eine völlige Umzingelung Rußlands vorbereitet wird - mit dem anschließenden Verlust der Souveränität Rußlands. Eine Anbindung Rußlands an eine solche euroatlantische Allianz (...) würde nicht zur Ausweitung, sondern zum Niedergang der christlichen Zivilisation führen.


Welt: Welche Ideologien dominieren? Ist es noch der Liberalismus?


Solschenizyn: Der "totale Liberalismus" hat sich im globalen Maßstab erschöpft, seine Frist läuft ab. An seine Stelle treten anderen Formen des gesellschaftlichen und staatlichen Bewußtseins.

Welt: Wie stehen Sie zu den Ereignissen in der Ukraine?

Solschenizyn: Was in der Ukraine geschieht (...) erfüllt mich mit ständiger Trauer und Schmerz. Die fanatische Unterdrückung und Verfolgung der russischen Sprache ist nicht nur eine barbarische Maßnahme, sondern richtet sich auch gegen die kulturellen Perspektiven der Ukraine selbst (...) Rußland hat kein Recht, gleichgültig die russische Bevölkerung mit ihren vielen Millionen Einwohnern in der Ukraine zu verraten.

Das Interview führte Vitali Tretjakow, Chefredakteur der Moskauer Wochenzeitung Moskowskije Nowosti“. Die Fragen wurden schriftlich gestellt, wir dokumentieren eine gekürzte Fassung des Gesprächs. Übersetzung: Jens Hartmann

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