Stationen

Sonntag, 13. Oktober 2019

Eigentlich hätte ihn Bernhard Lassahn bekommen müssen

Peter Handke erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis. Ich gratuliere aufrichtig und weise bei der Gelegenheit auf meine kleinen Beiträge auf der Achse zu dem wunderbaren Film von Corinna Belz hin – hier und hier. Ich war auch selber einmal Peter Handke.
Nicht wirklich. Kleiner Scherz. Ich habe nur so getan, als wenn ich Peter Handke wäre. Das heißt: Ich habe nicht einmal selber so getan. Ich wurde irgendwie mit Peter Handke verwechselt. Oder mit jemandem, der eine Bedeutung hat wie Peter Handke.

Wann genau das war, weiß nicht mehr. Vielleicht im Jahr 2000. Ich lebte damals schon in Berlin, ich hatte noch ein Auto, aus dem die Musikanlage noch nicht geklaut war und war gerade in Begleitung meiner mir lieb gewordenen CDs von Goran Bregović nach Bad Zwischenahn gefahren zu einem Programm, das sich ‚Lange Nacht der Poesie‘ nannte, das in der Stadthalle stattfand und zumeist von Rentnern und Kurgästen besucht wurde.
Zwar mochte ich – abgesehen von dem Pantomimen – die Kollegen gerne, dennoch fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft zunehmend fremd, ich kannte diese Sorte von Kleinkunst schon zu lange, um noch Überraschungen zu erwarten.
Das Beste bei solchen Veranstaltungen ist sowieso immer das gesellige Hinterher. Wir wollten anschließend zum Griechen gehen, der unseretwegen noch geöffnet hatte, so dass wir das Lokal für uns alleine hätten, und wir aus dem gemeinsamen Auftritt ein kleines Fest machen konnten, als hätten wir mit der ‚langen Nacht der Poesie‘ etwas von Wert geschaffen, das es zu feiern galt.

Ich wurde offensichtlich bevorzugt behandelt

Manfred Hausin hatte – wie immer – alles vortrefflich organisiert. Er wusste natürlich von meiner Außenseiterrolle, er kannte mich schon lange und fürchtete meine kritischen Bemerkungen und missbilligenden Blicke. Deshalb wollte er mir den Wind aus den Segeln nehmen und rief, sobald ich das Restaurant betrat, für alle hörbar laut polternd durch den Raum: „Na, Professor! Diesmal gab es aber nichts zu meckern – oder?“ Alle wussten, dass ich kein Professor bin. Manfred sagte das nur, um mich zu verspotten, als wäre ich dünkelhaft, arrogant und eingebildet (bin ich doch gar nicht). Doch der Abend war gut gelaufen. Als allseits gefürchteter Kritiker sollte ich für den Rest des Abends kein Rederecht mehr haben.
Ich wusste nicht, was ich schlagfertig erwidern sollte und muss wohl einen Moment lang tatsächlich wie ein zerstreuter Professor gewirkt haben. Da bemerkte ich, dass gerade Musik lief, die ich aus meinem Auto kannte. Statt zu antworten, winkte ich dem Wirt freundlich zu und rief: „Goran Bregović!“
Ich konnte es einfach nicht lassen, mich als Kenner aufzuspielen und nickte dazu wohlwollend, als wollte ich damit das größtmögliche Kompliment für die Musikauswahl zum Ausdruck bringen, das von einem Professor, der ansonsten alles in Grund und Boden kritisiert, zu erwarten war. Es dauerte noch ein wenig, bis mir klar wurde, dass sich da gerade etwas zusammengebraut hatte.
Ich wurde offensichtlich bevorzugt behandelt, mir wurde ungefragt nachgeschenkt. Als einziger von uns sollte ich Autogramme geben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Betreiber der Gaststätte auch nur eine vage Vorstellung von der Art von Veranstaltungen hatten, die wir gerade ausklingen ließen.
Sie wollten Fotos von mir. Na gut. Nun wurden Frauen aus der Küche geholt und Kinder, die eigentlich schon im Bett sein sollten. Die wollten auch ein Foto mit mir machen. Auch gut. Sie gehörten alle zur Familie. Also gut: Dann machten wir eben noch mehr Fotos, als würde ich nun auch mit zur Familie gehören.

Die Musik von Bregović überschreitet Grenzen

Wir setzten uns an einen Extra-Tisch, der Wirt schenkte noch einmal nach. Noch ahnte ich nicht, was mir bevorstehen würde. Es lief weiterhin Bregović im Hintergrund.
Ich muss sagen, dass ich die Musik wirklich mag. Ich hatte schon mehrere Konzerte gesehen. Es ist lebendige Filmmusik für eine sehr, sehr breite Leinwand; eine ungebändigte und zugleich kontrollierte Musik, die das Publikum in Rage bringt. Wie Derwische hüpfen die jungen Frauen in wehenden Gewändern vor der Bühne herum, strecken ihre Arme hoch und zeigen ihre ausrasierten Achselhöhlen vor, als würden sie sich in trotzigen Tarantel-Tänzen auf den Gräbern ihrer Familien und ihrer ungeborenen Kinder austoben.
Es ist Musik, die bei Hochzeitsfeiern, wie man sie heute nicht mehr kennt, gespielt wurde – Tales And Songs from Weddings And Funerals; zu Feierlichkeiten, die rauschende Feste waren, bei denen es noch den Glauben an ein Weiterleben gab. Es ist auch die passende musikalische Umrahmung für Beerdigungen. Die Musik von Bregović überschreitet Grenzen, verbindet Generationen, sie ist der Versuch, den Krieg in Jugoslawien rückgängig zu machen.

Das habe ich nicht gesagt. Es wären auch viel zu große Worte gewesen. Immerhin: Dass es sich bei dem Griechen, bei dem wir eingekehrt waren, in Wirklichkeit um einen Jugoslawen handelte, hatte ich inzwischen bemerkt. So besoffen war ich nun auch wieder nicht.

Nun war es soweit. Der Wirt sah mich ernsthaft an, sammelte sich, er wollte offenbar etwas Wichtiges ankündigen und wusste nur noch nicht, wie er anfangen sollte. „Sie sind doch“, fing er vorsichtig an, „ein sehr gebildeter Mann. Sagen Sie, bitte ... "– Ja? Was sollte ich sagen? – „Sagen Sie, bitte“, setzte er noch einmal an, „Milošević ist kein Kriegsverbrecher – oder?“
So war das also: Er dachte, ich sei ein Professor und einer der besonderen Künstler, die gerade an einer Veranstaltung in der Stadthalle teilgenommen hatten, der er offenbar mehr Bedeutung beigemessen hatte als ich. Ich kannte Bregović. Ich war ein Freund der Serben. Ich war Peter Handke. Oder sein Ersatzmann. Jedenfalls jemand, der einen Rang hatte wie Peter Handke.

Ich wusste plötzlich, wie ich antworten musste

Vermutlich war er mit seiner Familie schon lange in Deutschland, dann war in seinem Heimatland ein Krieg ausgebrochen, als wäre hinter seinem Rücken etwas Furchtbares geschehen. Er und seine Familie gehörten plötzlich zur falschen Seite, zu denen, über die der Stab gebrochen war, als seien sie der Verdammnis anheimgefallen, als seien sie die Feinde des Menschengeschlechtes, als seinen sie ein Kainsvolk, wie es Peter Handke genannt hat.
Ich trank hastig aus und merkte, dass ich in einen seltsamen Rausch hineingeriet, als würde ich nicht etwa das Bewusstsein verlieren, sondern zurückerobern. Ich wusste plötzlich, wie ich antworten musste. So einfach ließ sich das ja nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Ich trat aus der Person, die ich war, heraus und wurde zu einem anderen. Ich bat um einen Stift und ein Blatt Papier. Man reichte mir einen Kugelschreiber und den Rechnungsblock. Ich schrieb also:
„Dem Gast und fernen Sehbeteiligten war es zumute, als hätte mit einem Wimperschlag ein Bedürfnis nach Heil, das schwer auf seine Augenlider drückte, von ihm Besitz ergriffen, so dass er das Aufscheinen der Herzlichkeit in den Dingen selber zu spüren vermochte: da waren einfache Tische, Stühle, halb gefüllte Gläser, in denen sich das Licht brach, karierte Decken, da waren Menschen, die aus ihrer Geworfenheit gelöst in einem fremden und zugleich vertrauten Glanz erschienen. Er fühlte sich plötzlich reingewaschen von den Flimmerlichtern der Zerrbilder, von denen er wie von einer Hautkrankheit befallen war und hatte sich losgelöst von den bloßen Spiegelungen der eingespielten Blickseiten ohne Augenzeugenschaft und erkannte nun den Moment in seinem Sosein.
Die Dinge im Raum erscheinen nicht mehr als gegenstandslos. Das große Gemeinsame lag in der herzhaften Unscheinbarkeit, in ihrer Allerwelthaftigkeit. Der Gast, ohne Vorahnung bei einem Jugoslawen eingekehrt, erlebte sich unversehens als Gast in der Wirklichkeit. Er hatte die Vorläufigkeit und Bedeutungslosigkeit der gespielten Festlichkeit seiner Kollegen Kleinkünstler hinter sich gelassen, die ihm plötzlich als nunmehr ehemalige Kollegen erschienen. 
Vor der Größe des Krieges und des tatsächlichen Leidens waren sie zu den Kleinen geworden; zu denen, die man wahrlich als klein ansehen konnte, denn sie waren eingerastet in ihrem Genügen des Kleinbleibenwollens. Sie waren allesamt zu Verrätern an der Aufgabe der Kunst geworden wie lustlose Söldner die sich irrtümlicherweise in einem ehemals ehrenhaften Heer eingefunden hatten. 
Wie geringschätzig erschien dem trunkenen Gast das Gewitzel seiner Kollegen, ihre uneigentliche Sprechweise, ihre aufgesetzte Lässigkeit, ihr zwanghaftes Frotzeln, mit dem sie das Wechselgeld der Wirklichkeit durch ihre nervösen Hände gleiten ließen.
Wie jämmerlich waren diese Kleinlauten, die großmäulig als Weltversteher auftraten, angesichts der Größe, die in der Hilfsbedürftigkeit des Wirtes lag, in seinem aufrichtigen Sehnen nach Gnade und Erlösung. Dieser Wirt hatte den Blick des Gastes auf die Lebenswirklichkeit gerichtet, die im Schlagschatten der Meinungen liegt, im toten Winkel der Geschichte, bedrängt von Verurteilungswütigen und Betroffenheitsschwindlern.
Dem Gast wurde es auf einem Male zur Gewissheit, dass eine gemeinsame Erinnerung nur dann die Möglichkeit zur Versöhnung bereithielt, wenn sie mit einem gütigen Vergessen einherging. Die Möglichkeit eines nachgereichten Friedens lag allein in der Überwindung der Kluft zwischen dem Vergessenkönnen und dem vorsätzlich herbeigeführten Aufrufen von Erinnerungen an ungetrübte Kindertage, die uns allein die Sprachlosigkeit der Musik gewährt. Nur wer vor dieser Zerreißprobe bestehen konnte, dem war ein geglücktes Morgen vergönnt.“    Bernhard Lassahn

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