Stationen

Dienstag, 22. Oktober 2019

So kann's gehen

"Am Rande der Buchmesse", erzählt uns Michael Klonovsky am vergangenen Sonntag, "abends bei Tische, geriet ich ins Gespräch mit einem gestandenen Herren, der sich sehr kenntnisreich über Werke und Interpreten der sogenannten klassischen Musik äußerte, wobei mich verwunderte, dass er auf Anhieb mit dem Namen Hans Rott etwas anzufangen wusste (der Mann entpuppte sich im Nachhinein als Musikkritiker). Rott war ein Komponist, von dessen Existenz ich erst seit einigen Tagen Kenntnis habe – also nicht, dass ich ein Maßstab für irgendetwas wäre; ich bin lediglich der Errichter jenes Maulwurfshügels, von welchem aus hier in die Welt geschaut wird –; ein befreundeter Musiker schenkte mir eine Einspielung von Rotts Erster und einziger Symphonie in E-Dur, von der man wissen muss, dass sie in den Jahren 1876 bis 78 von einem nicht einmal Zwanzigjährigen komponiert wurde, der ein Schüler Anton Bruckners war, freilich, wie der Lehrer selbst, von seinen Zeitgenossen wenig Anerkennung und stattdessen Häme erfuhr. Brahms äußerte sich abschätzig über die Symphonie, was der Grund gewesen sein könnte, dass Hans Richter sie nicht aufführte. Um 1880 verfiel Rott dem Wahnsinn. Den Rest seines kurzen Lebens verbrachte er in der Niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt, wo er viele seiner Arbeiten vernichtete und 1884 an Tuberkulose starb. Apopkryphe Quellen raunen, Hugo Wolf habe Brahms für den Tod Rotts verantwortlich gemacht.

Das alles wäre traurig, aber nicht weiter berichtenswert, wenn diese Symphonie nicht ein außergewöhnliches Opus wäre, ein, wie man sagt, Meilenstein des Genres, freilich ein merkwürdig unsichtbarer, weitgehend unbekannter Meilenstein – das Werk wurde erst 1989 in Cincinatti, Ohio, uraufgeführt. Aber der in Meilensteinbelangen damals entscheidende Musiker kannte es, schätzte es und, nun ja, bediente sich darin: Gustav Mahler. Mahler hatte mit Rott dieselbe Kompositionsklasse am Wiener Konservatorium besucht, er hat die Partitur von Rotts Symphonie sehr genau studiert und eventuell eine Kopie besessen, er nannte den Kollegen den "Begründer der Neuen Symphonie, so wie ich sie verstehe", und erklärte, es sei gar nicht zu ermessen, was die Musik an ihm verloren habe. Als Rott in die Anstalt gebracht wurde, lag die Uraufführung von Mahlers Erster noch neun Jahre in der Zukunft.

Während aus dem ersten Satz der E-Dur-Symphonie vernehmlich ein Bruckner-Schüler und Wagner-Verehrer spricht, markiert der langsame Satz quasi den Übergang von Brucker zu Mahler, die Parallelen zum Schlussatz von Mahlers Dritter sind auffällig. Völlig verblüffend wird es beim Scherzo; hier meint man, niemand anderen als Mahler selbst zu hören (speziell die Scherzi der Ersten und Fünften). Der grandiose, von Momenten einer unendlichen Sehnsucht durchsetzte Schlussatz illustriert schließlich sehr eindrucksvoll, wie recht Mahler mit seinen Worten hatte, dass hier der Musikwelt ein unwiederbringliches Talent entsetzlich früh abhanden gekommen ist.

Die Einspielung, von der ich sprach, ist jene. Den beiden amazon-Rezensenten, die sich sehr kundig über den Dirigenten äußern, kann ich mich anschließen."

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