Als ich ein kleiner Junge war, kam mein Großvater aus dem Gefängnis.
Ich war damals zwei Jahre alt. Meine Familie wohnte in
München-Schwabing, in einem hübschen Haus aus dem 18. Jahrhundert,
bewachsen mit Efeu und wildem Wein. Die Korridore waren ein wenig
schief, ein paar Steinplatten zerbrochen, die Eingangstür klemmte. Ein
dunkelgrünes Tor führte zur Kopfsteinpflasterstraße draußen, hinter dem
Haus waren ein Labyrinth aus Rosenbüschen und ein Brunnen mit einem
nackten Amor - er hatte nur noch den Bogen, der Pfeil war
verlorengegangen.
Ich erinnere mich nicht an die Entlassung meines Großvaters. Alles,
was ich weiß, stammt aus Erzählungen, von Fotos und aus Filmen. Mein
Vater und seine Brüder holen ihn in einem schwarzen Wagen vor dem
Gefängnistor ab. Davor steht die Pressetribüne, nur für diesen einen Tag
gezimmert. Mein Vater trägt einen engen dunklen Anzug, er ist sehr jung
und sehr unsicher. Mein Großvater ist dünn. Dann die Bilder aus dem
Garten in München: Henri Nannen sitzt neben ihm auf einem alten
Gartenstuhl aus Eisen, er führt die ersten großen Interviews. Meine
Familie steht weiter hinten unter einer Kastanie. Mein Großvater spricht
langsam, ein seltsamer Akzent: weimarisch. Wenn man die Interviews
hört, ist man irritiert, dass diese Leute auch einen Dialekt hatten -
Speer sprach badisch. Damals sagten alle, mein Großvater rede
"druckreif", aber das ist Unsinn: Die Fragen der Journalisten waren
abgesprochen, die Antworten hatte er eingeübt. Mein Großvater sagte
nichts, womit ich hätte etwas anfangen können.
Als ich vier Jahre alt war, zogen wir in die Nähe von Stuttgart zu
der Familie meiner Mutter. Mein Großvater kam kurze Zeit später nach.
Wir wohnten in einem Park, den mein Urgroßvater noch vor dem Ersten
Weltkrieg angelegt hatte: hohe alte Bäume, ein Haus mit Säulen und
Freitreppe, Teiche, eine Gärtnerei. Mein Vater ging mit mir fischen und
nahm mich mit auf die Jagd. Es war eine Welt für sich. Meistens war ich
alleine. Ich wusste immer noch nicht, wer dieser Großvater war. Er hatte
eine Sammlung Gehstöcke, in manchen waren Schnapsflaschen oder Uhren
eingebaut, einer enthielt ein Florett, ein anderer sah aus wie der Stock
des kleinen Muck.
Wir machten jeden Tag einen Spaziergang zu einem Kiosk außerhalb des
Parks. Er musste langsam gehen, im Gefängnis war er auf einem Auge fast
blind geworden, Netzhautablösung. Manchmal sprachen ihn Leute auf der
Straße an, aber das mochte ich nicht. Und wir spielten jeden Tag Mühle,
er gewann immer mit dem gleichen Trick. Irgendwann dachte ich so lange
darüber nach, bis ich verstand, wie er das machte. Danach spielte er
nicht mehr mit mir. Ich war damals fünf, sechs Jahre alt. Man sprach bei
uns nicht viel mit den Kindern. Es hatte auch etwas Gutes: Wir wurden
in Ruhe gelassen, wir lebten in unserer eigenen Welt. Aber irgendetwas
umgab mich, das ich nicht erklären konnte. Ich wuchs anders auf als die
Kinder im Ort, ich hatte kaum Kontakt zu ihnen. Mir blieben die Dinge
fremd, und ich fühlte mich nie ganz zu Hause. Ich konnte das niemandem
sagen, vielleicht können Kinder so etwas nie.
Zu Hause sagte niemand "Gefängnis", es hieß einfach nur "Spandau".
Aber irgendwann hörte ich von einem Besucher, mein Großvater sei lange
eingesperrt gewesen. Ich fand das aufregend, weil ich ein Buch über den
Piraten Sir Francis Drake gelesen hatte. Ich bewunderte Drake sehr, und
der wurde dauernd eingesperrt. Ich fragte meine Mutter, was mein
Großvater gemacht habe. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte, es war eine
sehr lange Erklärung mit lauter Wörtern, die ich nicht kannte. Aber ich
erinnere mich noch an ihre Stimme, die jetzt anders als sonst klang. Es
muss etwas Schlimmes sein, dachte ich, vielleicht ein Fluch wie in den
Märchen.
Plötzlich war er weg. Er hatte sich nicht bei mir verabschiedet. Viel
später erfuhr ich, dass er alleine sein wollte. Er zog an die Mosel in
eine kleine Pension. Es war wohl alles zu viel nach 20 Jahren in der
Zelle. Kurz vor seinem Tod habe ich ihn noch einmal dort gesehen. An
diesem Tag interessierte ich mich für den Fluss und die Weinberge und
einen Esel, der dort lebte und dauernd die Zähne bleckte. Mein Großvater
war ein alter Mann mit einer Augenklappe, den ich nicht kannte. Ich
erinnere mich nicht, ob er an diesem Tag überhaupt mit mir gesprochen
hatte. Auf seinen Grabstein ließ er schreiben: "Ich war einer von euch".
Ein entsetzlicher Satz.
Mit zehn Jahren kam ich auf ein Jesuiteninternat. Natürlich war ich
viel zu jung, aber irgendwie ging es schon, weil wir alle zu jung waren.
Wir bekamen Postsparbücher mit unserem Taschengeld, vier Mark pro
Monat. Am ersten Montag im Monat gaben uns die Patres die Bücher, und
wir gingen zur Post, um das Geld abzuheben. Es war jedes Mal eine lange
Schlange, der Beamte trug die Zahlen noch von Hand ein. Beim dritten
oder vierten Mal winkte er mich nach vorne. Er sagte, er habe meinen
Großvater gekannt, seine Augen glänzten. Ich könne nun immer an der
Schlange vorbei direkt zu ihm kommen. Ich lief weg. Ein Pater versuchte
mir an diesem Nachmittag zu erklären, was der Nationalsozialismus sei,
was mein Großvater gemacht habe und warum er ins Gefängnis gekommen sei.
Es war noch immer verwirrend und klang nach einer Geschichte aus einem
J. R. R.-Tolkien-Buch mit fremden Wesen.
Mit zwölf Jahren begriff ich das erste Mal, wer er war. In unserem
Geschichtsbuch war ein Foto von ihm: "Reichsjugendführer Baldur von
Schirach". Ich sehe es noch vor mir: Mein Name stand tatsächlich in
unserem Schulbuch. Auf der anderen Seite war ein Foto von Claus von
Stauffenberg, darunter: "Widerstandskämpfer". Kämpfer klang viel besser.
Neben mir saß ein Stauffenberg, ein Enkel wie ich, wir sind heute noch
befreundet. Er wusste auch nicht mehr als ich.
Es dauerte noch eine Zeit, bevor der Nationalsozialismus
durchgenommen wurde. Damals gab es in meiner Klassenstufe auch einen
Speer, einen Ribbentrop und einen Lüninck. Nachfahren der Täter und des
Widerstands - alle im selben Klassenzimmer. Meine erste große Liebe war
eine Witzleben. Geschichte schien eine Sache zu sein, mein Leben eine
ganz andere.
Zu Hause konnte ich später mit allen über diese Zeit reden. Es gab
keine Geheimnisse - der einzige Vorteil mit so einem Namen ist
vielleicht, dass nichts verborgen bleiben kann. Wir führten endlose
Diskussionen, einer meiner Onkel schrieb ein Buch über ihn. Ich habe nie
begriffen, warum mein Großvater der wurde, der er war. Sein älterer
Bruder Karl beging in seinem Internat, in Roßleben, Selbstmord. Er wurde
18 Jahre alt. Es heißt, er habe es nicht verkraftet, dass der Kaiser
abgedankt hatte, aber* ein Buch mit Buddhas Reden lag aufgeschlagen auf
seinem Tisch, als er starb. Seine Schwester Rosalind wurde
Opernsängerin. Sein Vater war Intendant am Weimarer Theater, seine
Mutter war Amerikanerin. Ich habe ein Bild von ihr, eine schöne Frau mit
einem schmalen Hals. Sie stammte von den "Mayflower"-Einwanderern ab,
ein Vorfahre hatte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit
unterzeichnet, ein anderer war Gouverneur von Pennsylvania. Die
Schirachs waren Richter, Historiker, Wissenschaftler und Verleger
gewesen, die meisten dienten dem Staat, seit 400 Jahren hatten sie
Bücher geschrieben. Mein Großvater wuchs in dieser großbürgerlichen
Welt auf, ein behütetes, weiches Kind. Auf frühen Bildern sieht er wie
ein Mädchen aus, bis zu seinem fünften Lebensjahr sprach er nur
Englisch. Er war 17, als er Hitler kennenlernte, mit 18 trat er in die
NSDAP ein. Warum begeistert sich jemand, der während des Studiums
morgens im Englischen Garten ausreitet, für das Dumpfe und das Laute?
Warum ziehen ihn Schläger, rasierte Stiernacken und Bierkeller an? Wieso
begreift er, der gerne über Goethe schrieb und Richard Strauss zum
Patenonkel eines Sohnes machte, nicht schon bei der Bücherverbrennung,
dass er jetzt auf der Seite der Barbaren steht? War er zu ehrgeizig, zu
ungefestigt, zu jung? Und für was wäre das überhaupt wichtig? "Was war
mit mir?", sollen seine letzten Worte gewesen sein - eine gute Frage,
aber keine Antwort.
Später, während des Studiums, habe ich alles über die Nürnberger
Prozesse gelesen. Ich habe versucht, die Mechanismen dieser Zeit zu
verstehen. Aber die Erklärungsversuche der Historiker taugen nichts,
wenn es der eigene Großvater ist. Er ging in seine Loge in der Wiener
Oper, ganz der sogenannte Kulturmensch, und ließ gleichzeitig den
Hauptbahnhof zum Abtransport der Juden sperren. Er hörte 1943 in Posen
Himmlers Geheimrede über die Ermordung der Juden - er wusste ohne jeden
Zweifel, dass sie umgebracht wurden.
Unzählige Male wurde ich auf ihn angesprochen. In jeder nur denkbaren
Form: offen, unverschämt, wütend, bewundernd, mitleidig, aufgeregt. Es
gab Morddrohungen und Schlimmeres, manchmal ist es zu viel. Aber das
alles wird gleichgültig, wenn ich an Wien denke, belanglos. Jetzt werde
ich in den Interviews zu meinem neuen Buch wieder nach ihm gefragt. Man
will wissen, ob mein Leben ohne diesen Namen anders verlaufen wäre, ob
ich einen anderen Beruf gewählt hätte, ob ich mich seinetwegen mit
Schuld beschäftige. Solche Fragen müssen wohl sein. Die Journalisten
bleiben höflich, aber sie finden es auch ein wenig seltsam, wie ich mich
verhalte: Ich sage Termine ab, wenn ich glaube, es gehe zu sehr um ihn.
Sie denken, ich wiche aus - und sie haben damit recht. Ich kann keine
Antworten geben: Ich kannte ihn nicht, ich konnte ihn nichts fragen, und
ich verstehe ihn nicht. Deshalb dieser Text. Es ist das erste Mal, dass
ich über ihn schreibe, und es wird das letzte Mal sein.
Vor Gericht werden Verbrechen untersucht. Der Richter prüft, ob der
Angeklagte der Täter war, danach wiegt er seine Schuld. Die meisten
Verurteilten unterscheiden sich nicht sehr von uns. Sie strauchelten,
fielen aus der normalen Gesellschaft, sie glaubten, ihr Leben sei
ausweglos. Oft ist es nur Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird.
Geliebtentötung und Selbstmord liegen nah beieinander.
Das, was mein Großvater tat, ist etwas völlig anderes. Seine
Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise.
Sie wurden am Schreibtisch geplant, es gab Memoranden dazu,
Besprechungen, und immer wieder traf er seine Entscheidung. Der
Abtransport der Juden aus Wien sei sein Beitrag zur europäischen Kultur,
sagte er damals. Nach solchen Sätzen ist jede weitere Frage, jede
Psychologie überflüssig. Manchmal wird die Schuld eines Menschen so
groß, dass alles andere keine Rolle mehr spielt. Natürlich, der Staat
selbst war verbrecherisch, aber das entschuldigt Männer wie ihn nicht,
weil sie diesen Staat erst erschufen. Mein Großvater brach nicht durch
eine dünne Decke der Zivilisation, seine Entscheidungen waren kein
Missgeschick, kein Zufall, keine Unachtsamkeit. Heute fragen wir in
einem Strafverfahren, ob dem Angeklagten bewusst war, was er tat, ob er
es noch verstehen, ob er noch Recht von Unrecht unterscheiden konnte.
Das alles ist für meinen Großvater schnell beantwortet. Gerade seine
Schuld wiegt schwer: Er stammte aus einer Familie, die seit
Jahrhunderten Verantwortung trug. Seine Kindheit war glücklich, er war
gebildet, die Welt stand ihm offen, und er hätte sich leicht für ein
anderes Leben entscheiden können. Er wurde nicht unschuldig schuldig. Es
sind immer auch die Voraussetzungen eines Menschen, die am Ende das Maß
seiner Schuld bestimmen.
Die Schuld meines Großvaters ist die Schuld meines Großvaters. Der
Bundesgerichtshof sagt, Schuld sei das, was einem Menschen persönlich
vorgeworfen werden könne. Es gibt keine Sippenhaft, keine Erbschuld, und
jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Biografie. In meinem Buch
schreibe ich nicht über ihn und nicht über seine Generation. Ich weiß
nichts von diesen Männern, was nicht schon tausendfach gesagt und
erforscht wurde. Unsere Welt heute interessiert mich mehr. Ich schreibe
über die Nachkriegsjustiz, über die Gerichte in der Bundesrepublik, die
grausam urteilten, über die Richter, die für jeden Mord eines NS-Täters
nur fünf Minuten Freiheitsstrafe verhängten. Es ist ein Buch über die
Verbrechen in unserem Staat, über Rache, Schuld und die Dinge, an denen
wir heute noch scheitern. Wir glauben, wir seien sicher, aber das
Gegenteil ist der Fall: Wir können unsere Freiheit wieder verlieren. Und
damit verlören wir alles. Es ist jetzt unser Leben, und es ist unsere
Verantwortung.
Ganz am Ende des Buches fragt die Enkelin des Nazis den jungen
Strafverteidiger: "Bin ich das alles auch?" Er sagt: "Du bist, wer du
bist." Das ist meine einzige Antwort auf die Fragen nach meinem
Großvater. Ich habe lange für sie gebraucht. Ferdinand von Schirach
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