Es gab nicht viel, was ich
vermisst habe, nachdem die DDR im Orkus der Geschichte versunken war.
Und was ich hätte vermissen können, den Bautzener Senf zum Beispiel,
gibt es ja heute noch. Nur eins schien mir für immer verloren zu sein,
weil es einem an diesen Ort und diese Zeit gebundenen, unentrinnbaren
und demütigenden Gefühl der Ohnmacht entsprungen war: unser galliges
Gelächter.
Wenn
Menschen aus dem Westen mir erzählen, was sie in der DDR erlebt haben –
meistens sind es Geschichten vom Grenzübergang, wo sie ein Ohrläppchen
herzeigen mussten, oder von Gaststättenbesuchen, wo sie schlecht
behandelt wurden und über das Wort Sättigungsbeilage gelacht haben –,
wenn sie mir also diese Geschichten erzählen, frage ich: Und waren Sie
auch in Wohnungen? Denn wenn sie nicht in Wohnungen waren, wissen sie
nichts. In den Wohnungen sassen wir am Abend und bis in die Nacht,
tranken schlechten Wein und lachten auf diese besondere bittere Art.
Wir
hatten viel Zeit, waren selten verreist, und weil viele kein Telefon
hatten, klingelten sie abends an den Türen ihrer Freunde und waren
einfach da. Und dann erzählte man, was man erlebt hatte auf dem
Wohnungsamt, mit der Polizei, im Betrieb oder Institut, mit einem
Parteisekretär, dem Chefredakteur, den Handwerkern, den Taxifahrern,
beim Schuhekaufen für die Kinder, und fast alle diese Geschichten waren
so absurd, dass man darüber nur verzweifeln, vor Wut toben oder darüber
lachen konnte, wütend und verzweifelt lachen.
Dieses Gelächter war eine Form des Widerstands, es einte uns und zog
eine Wand zum Rest der kleinen, für uns bestimmten Welt. Dann öffnete
sich die Welt und damit verstummte auch dieses Gelächter. Jeder, der
sprechen wollte, konnte nun sprechen, wer schreiben wollte, konnte
schreiben, und wer für oder gegen etwas kämpfen wollte, konnte das
öffentlich und ungefährdet tun. Die Erinnerung an unser galliges
Gelächter habe ich bewahrt wie die Erinnerung an alles, das schön war in
dieser Zeit: die Jugend, Liebe, Freundschaft.
Aber
seit einigen Jahren höre ich es wieder, ein böses, hilfloses Lachen,
von mir und von anderen, von Ostdeutschen und von Westdeutschen auch.
Inzwischen haben wir alle Telefone, sogar mobile, wir haben weniger Zeit
und sind oft verreist, wir klingeln nicht einfach bei Freunden, sondern
verabreden uns, wir schicken uns Artikel per E-Mail, und wenn wir sie
gelesen haben, telefonieren wir, fragen uns gegenseitig, ob die alle
irre sind oder wir selbst, und weil wir uns nicht erklären können, warum
das alles passiert, warum uns eine genderisierte Sprachverstümmelung
zugemutet wird, warum Hunderttausende Windräder gebaut werden sollen,
die den Energiebedarf nicht werden sichern können, gleichzeitig aber auf
Elektroautos und -roller gesetzt wird, warum Hunderttausende
Einwanderer ins Land gelassen werden, von denen man weiss, dass sie
nicht bleiben dürften, man sie aber auch nicht wieder ausser Landes
bringen kann, warum uns nun täglich mit dem Weltuntergang gedroht wird,
obwohl niemand wissen kann, ob er stattfinden wird, weil wir uns das
alles trotz ehrlichem Bemühen einfach nicht erklären können, verfallen
wir nach einigem Stöhnen und ratlosen Sätzen in dieses besondere,
gallige Gelächter.
Ich
habe nicht für möglich gehalten, dass mir das noch einmal passiert. Als
ich 1988 aus Ostberlin nach Hamburg gezogen bin und bei Zarrentin zum
ersten Mal über die Grenze fuhr und das Schild mit dem Bundesadler sah,
breitete sich in mir das Wort Freiheit zu einem Glücksgefühl aus. Und so
war es auch. Ich war frei; frei zu schreiben, zu sprechen, zu leben.
Und als ich binnen kürzester Zeit mit den Hamburger Grünen und
Feministinnen zusammenprallte, war das eine lehrreiche Erfahrung, mehr
nicht. Ich ahnte nur, dass das keine wunderbare Freundschaft werden
könnte. Aber sie waren nicht das Land, nicht die Zeitungen, nicht der
Rundfunk, auch wenn sie da gewiss sassen, aber sie beherrschten sie
nicht.
Mit
dem Verschwinden der DDR war ich von ihr auch literarisch befreit und
schrieb einen Roman über die Liebe, danach die Geschichte meiner
Familie; ich holte nach, wozu mir die Umstände meines Lebens zuvor
keinen Atem gelassen hatten. Meine politischen Interventionen und
Zwischenrufe, vor allem zu den Asymmetrien der deutschen Vereinigung,
schrieb ich für Zeitungen.
Als
ich 2010 begann, mich für den Islam zu interessieren, ging es mir
weniger um den Islam als um den Umgang mit seinen Kritikern, in dem ich
ein Muster wiederzuerkennen glaubte. Islamkritiker wie Necla Kelek
wurden plötzlich als «heilige Krieger» und «Hassprediger» beschimpft,
als stünde es ihnen nicht zu, sich mit ihrer eigenen Herkunft und Kultur
auseinanderzusetzen. Sie wurden ihrer eigenen Konflikte beraubt, die
nun von der westdeutschen Linken als deren eigene Angelegenheit
übernommen wurden, so wie auch die Ostdeutschen von ihren Konflikten
enteignet wurden, indem jedes Problem, das sie miteinander hatten, in
das Konfliktpotenzial westdeutscher Parteien integriert wurde und fortan
als Ost-West-Konflikt galt, als wären die Ostdeutschen vierzig Jahre
lang eine homogene Masse gewesen.
In
den Jahren 2014, als die Pegida zum ersten Mal auf die Dresdener
Strassen ging, und 2015, als eine Million Flüchtlinge und Einwanderer
unkontrolliert die deutschen Grenzen passierten, verwandelten sich diese
Konfliktfelder in Kampfzonen, in denen die Begriffe links und rechts
endgültig bedeutungslos wurden. Wer die bis dahin selbstverständlichen
Forderungen der Linken wie die Aufklärung, den säkularen Staat und die
Frauenrechte verteidigte, fand sich plötzlich auf dem rechten Kampffeld
wieder; und meine linken, grünen Feministinnen aus Hamburg verteidigten
vermutlich leidenschaftlich das islamische Kopftuch und forderten
Verständnis auch für die hartgesottensten muslimischen Frauenverächter,
was für mich bedeutet: Sie waren zu Reaktionärinnen mutiert, also
rechts.
Der Osten
avancierte in den Jahren danach von der Mitleids- und Witzfigur der
Medien zu ihrer Hassfigur. Die dummen Ostdeutschen, die eben keine
Fremden kannten, obwohl sie seit einem Vierteljahrhundert selbst durch
die Welt reisten, auch in Dresden ARD und ZDF sehen konnten und die seit
1990 Hunderttausende Spätaussiedler aus Russland und Kasachstan
aufgenommen hatten. Sie hatten erlebt, wie ihre gut ausgebildeten Kinder
in den Westen abwanderten, weil sie im Osten keine Arbeit fanden, und
liessen sich nun erzählen, dass schlecht ausgebildete, fremde junge
Männer als Arbeitskräfte gebraucht würden.
Seit 1990 sind fünf Millionen Ostdeutsche in den Westen gezogen. Die
Jugend, die dem Osten fehlt, lebt im Westen. Auch danach hätte man
fragen können, ehe man ganz Sachsen zum Nazisumpf erklärt und, wie eine
Journalistin kürzlich stolz verkündete, keinen sächsischen Apfelsaft
mehr kauft. Man hätte fragen können, was die Menschen plötzlich auf die
Strasse treibt, bevor man sie als «besorgte Bürger» lächerlich macht,
als «Abgehängte» diffamiert und über den Umweg rechtsradikal und
rechtsextrem als Nazis über eine Grenze schiebt, die sie vielleicht nie
hatten übertreten wollen.
Aber
Rechte fragt man nicht, mit Rechten redet man nicht, Bücher von Rechten
liest man nicht, Rechten darf man ihre Stände auf Buchmessen verwüsten,
Rechten hört man nicht zu und antwortet ihnen nicht – und wer oder was
rechts ist, entscheidet jeder, der sich für links hält. Schon die Frage,
ob der Klimawandel wirklich nur menschengemacht ist oder wie viel
Einwanderung eine Gesellschaft verträgt, ohne schwerwiegenden Schaden zu
nehmen, oder ob dieses Genderkauderwelsch wirklich den Frauen nutzt,
kann ausreichen, um rechter Gesinnungsart verdächtigt zu werden.
Wie
es scheint, hat die grün-linke Seite, verstärkt durch eine gewandelte
CDU, den Kampf um die Deutungshoheit gewonnen um den Preis, dass die AfD
zu einer konstanten politischen Kraft geworden ist. Was für ein Sieg!
Kürzlich
erzählte ich einem Freund, ich fühlte mich beim Schreiben zuweilen wie
früher, als ich mein erstes Buch «Flugasche» geschrieben habe, wieder
gedrängt ins Politische, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt
von dem Gedanken, was ich mir wohl einbrocke, wenn ich einen
Protagonisten meines Buches diesen oder jenen Satz sagen lasse. Der
Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen
könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die
Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch
könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, dass
ich juristisch belangt werden könnte.
Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.
Natürlich,
Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und
Schriftsteller nicht verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat
Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu
erschweren oder sogar zu zerstören. Wenn Zweifel schon verdächtig sind,
wenn Fragen als Provokationen wahrgenommen werden, wenn Bedenken als
reaktionär gelten, wenn im Streit nur eine Partei immer recht hat,
können einen alte Gefühle eben überkommen. Und dann kann man darüber
verzweifeln, vor Wut toben oder darüber lachen, unser schönes galliges
Gelächter. Monika Maron
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