Einige Tränen kullern, als die Sebnitzer Jugendmusikgruppe anstimmt.
Es ist ein emotionaler Tag für all diejenigen, die Zeugen oder sogar
Opfer der „Wilden Vertreibungen“ im Juni und Juli 1945 geworden sind.
Damals wurden zahlreiche Sudetendeutsche aus ihrer Heimat wie der Stadt
Böhmisch Kamnitz (heute Česká Kamenice) vertrieben.
In der Ungewißheit campierten sie in den Wäldern in und um das
sächsische Hinterhermsdorf, stets darauf hoffend, bald nach Hause
zurückkehren zu können. Ihre deutschen Landsleute ließen sie in ihrer
Not nicht allein und halfen, wo sie konnten – zum Beispiel mit Nahrung
oder Unterschlupf.
Das haben die Vertriebenen ihnen nie vergessen. Nach 75 Jahren
konnten sie ihrer Dankbarkeit am Sonnabend noch einmal Ausdruck
verleihen. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft – Landesgruppe Berlin
e.V. enthüllte bei der Hinterhermsdorfer Buchenparkhalle vor rund 60
Gästen einen Gedenkstein mit einer Danksagung.
Künftig werden nicht nur die Einheimischen, sondern auch die
zahlreichen Wanderer in der Sächsischen Schweiz an die
Geschichtsträchtigkeit des Ortes erinnert.
Für Kalli Knechte ist die Erinnerung noch sehr lebendig. Er hat die
Vertreibung selbst miterlebt. Damals war er viereinhalb Jahre alt, seine
Schwester ein Jahr älter. „Es traf uns im Juli `45“, erzählt er. „Meine
Mutter war im achten Monat schwanger. Mein Vater war vom Krieg
heimgekehrt und lief auf Krücken.“ Dennoch mußten sie ihr Zuhause
verlassen.
„Auf dem Weg haben wir in Lauben geschlafen. Einmal durften wir sogar
für 14 Tage in einem Schweinestall unterkommen“, erinnert er sich. Sein
Vater habe auf dem Weg jede Arbeit für kleines Geld angenommen, um die
Familie über die Runden zu bringen. Zudem habe er nach einer
Entbindungsstation für seine hochschwangere Frau gesucht, die immer
verzweifelter wurde.
„Mein Vater ist also in ein Stadthaus in der Nähe von Bad Schandau
gegangen. Dort hat der Beamte nur aus dem Fenster gesehen und trocken
gesagt: ´Die Elbe ist groß genug für Ihre Frau`“, berichtet er mit
zitternder Stimme. Ein Fährmann habe ihnen letztlich weitergeholfen und
eine Entbindungsstation gezeigt, die die kleine Familie aufnahm. Der
Vater habe dort sogar eine Arbeit als Handwerker gefunden.
„Ich erinnere mich noch an das Weihnachtsfest in diesem Jahr. Wir
haben aus Zeitungspapier Sterne für den Christbaum gebastelt. Das Leben
hat uns genügsam gemacht und wir waren glücklich“, schildert er. „Kalli“
steigen Tränen in die Augen. „Sie müssen verstehen. Wir haben uns nie
beschwert, das haben wir uns bis heute beibehalten.“
Viele Vertriebene haben nur aufgrund der Hilfe der Hinterhermsdorfer
überlebt. Zum Beispiel dank Familie Pallme von der „Oberen Mühle“, die
heute noch als Gästehaus in der vierten Generation betrieben wird.
Tochter Dora war damals zwölf Jahre alt und erzählt nach der
Gedenksteinlegung von ihren Erinnerungen. Ihre Eltern nahmen in der Zeit
über 140 Flüchtlinge bei sich auf.
„Die Menschen haben geschlafen, wo Platz war, zum Beispiel auf dem
Heuboden. Das Essen haben wir in Waschkübeln verteilt“, schildert sie.
Ihre Mutter Maria stammte gebürtig aus dem böhmischen Zeidler (heute
Brtníky) und habe als junge Frau nach Hinterhermsdorf „rübergeheiratet“.
Daher hätten sie viele der unfreiwillig heimatlos Gewordenen gekannt
und als Anlaufstelle aufgesucht.
„Meiner Mutter gebührt Dank. Sie hat sich aufgeopfert und ihre ganze
Kraft darin investiert, den Leuten zu helfen. Aber auch viele andere
haben Vertriebene bei sich aufgenommen. Jeder hat geholfen, wo er
konnte“, betont die 88jährige gerührt von der Erinnerung. JF
Flucht und Vertreibung
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