Stationen

Montag, 14. September 2020

Die Letzten werden die Ersten gewesen sein

Wieder hat der oberste Sachwalter im Schloß Bellevue es geschafft, sämtliche Negativ-Erwartungen zu übertreffen. Die Großdemonstration gegen die Covid-19-Maßnahmen, die heterogen, meinetwegen auch bunt und vielfältig war bis zur Selbstkarikatur, hat er als Werk politischer Geisterfahrer, von Verrückten, Chaoten und naiven Mitläufern verunglimpft: „Wer auf den Straßen den Schulterschluss mit Rechtsextremisten sucht, aber auch wer nur gleichgültig neben Neonazis, Fremdenfeinden und Antisemiten herläuft, wer sich nicht eindeutig und aktiv abgrenzt, macht sich mit ihnen gemein.“

Er benutzte sogar das Wort „verabscheuungswürdig“, was soviel bedeutet wie: körperlichen Ekel auslösend. Er fokussierte dabei auf den sogenannten „Sturm auf den Reichstag“, bei dem unter anderem die Flagge des Kaiserreichs gezeigt wurde und wo – laut Steinmeier – „Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen (ließen)“.
Niemand hat sich vor „einen Karren spannen lassen“. Nur haben die üblichen Verdächtigen die Gelegenheit genutzt, sich in Szene zu setzen und dem einstimmigen Medienchor den Anlaß für ihre längst vorformulierte Extremismus- und Nazi-Erzählung zu präsentieren. Weder regierungstreue noch -kritische Kundgebungen sind davor sicher, daß ein Narrensaum sich an ihre Rockschöße heftet. Auch hat es in früheren Jahren bereits ähnliche Aktionen auf den Stufen des Parlaments gegeben.
Um das zu wissen, braucht man sich nur ein bißchen zu informieren. Für den Bundespräsidenten, der laut Grundgesetz der Parteipolitik enthoben ist, besteht sogar eine ungeschriebene Informationspflicht, bevor er sich äußert. Denn nur so ist er imstande, die Partei- und Tagespolitik kompetent, das heißt von gleichsam höherer Warte zu kommentieren.
Andernfalls muß er sich vorwerfen lassen, entweder unwissend daherzureden oder parteiisch zu sein, Andersdenkenden gegenüber feindselig eingestellt und auf dem linken Auge blind. Im übrigen: Ein „Sturm auf den Reichstag“, zu dessen Abwehr drei Polizisten – einer sogar unbehelmt – genügen, ist allenfalls eine Persiflage, und es wäre genau zu prüfen, was die Hintergründe der Inszenierung waren.
Steinmeier hat keine andere Sprache zur Verfügung als die Formeln, die von den Alt-Parteien, den Medien, von halbgaren Extremismus-Experten und der Antifa vorgestanzt werden. Mit dem Nazi- und Extremismus-Mantra wird der rationale politische Diskurs blockiert und der Widerspruch zur Regierungspolitik kriminalisiert. Statt zu versuchen, die Blockade aufzulösen, nutzt Steinmeier die präsidiale Autorität, um die Ausgrenzung zur Freund-Feind-Markierung zuzuspitzen.
Damit verkehrt er die wichtigste Aufgabe des Staatsoberhaupts, Repräsentant des Staates und aller Staatsbürger zu sein, in ihr Gegenteil. Doch nur in dieser Eigenschaft – und nicht als Lautsprecher des politischen Lagers, das ihn erwählt hat – genießt er den Schutz des Paragraphen 90 StGB, der die Verunglimpfung des Bundespräsidenten unter Strafe stellt.
In Großbritannien äußert sich die Bedeutung des Staatsoberhaupts in den Begriffen „Her Majesty’s Government“ und „Her Majesty’s Most Loyal Opposition“. Die Opposition manifestierte sich vergangenes Wochenende in Berlin außerparlamentarisch. Wie denn sonst? Im Parlament gibt es keine Opposition, die durchgreifenden Widerspruch äußert, oder sie ist durch einen geschlossenen Parteien- und Medienblock kaltgestellt.
Es ist billig, mit dem Finger auf die nützlichen Idioten zu zeigen, die angeblich das „Herz unserer Demokratie“ bedrohen. Die Zigtausenden Demonstranten protestierten ja gerade gegen den demokratischen Herzstillstand. Wann gab es im Bundestag kompetente, intellektuell und rhetorisch hochwertige Debatten über Auslandseinsätze der Bundeswehr, über die Konsequenzen der
Einwanderung, der EZB-, Energie- und Klima-Politik, den Kompetenztransfer nach Brüssel oder über die Berechtigung der Corona-Maßnahmen?

Statt der parlamentarischen Kontrolle der Merkel-Regierung erleben wir ihre Akklamation; weiterhin die Bemühungen der etablierten Parteien, ihre Pfründe gegen neue Konkurrenten zu behaupten sowie ihre egoistische Weigerung, die aufgeblähte Anzahl der Abgeordneten zu reduzieren. Mit gleichem Recht ließe der sogenannte „Reichstagssturm“ sich als das Rütteln an der Ignoranz einer sklerotischen Institution interpretieren.
Es ist weder eine Herabsetzung des Staatsamtes noch eine Beleidigung des Amtsinhabers, sondern die Bilanzierung eines staatspolitischen Defizits, wenn man feststellt, daß Frank-Walter Steinmeier im Schloß Bellevue seit seiner Wahl 2017 über das Format des beflissenen Aktenkofferträgers und Parteiapparatschiks nicht hinausgewachsen ist.
Auf der Treppe des Reichstags waren neben der kaiserlichen auch schwarz-rot-goldene, amerikanische, sogar türkische, im weiteren Umfeld israelische und Flaggen der Schwulenbewegung zu sehen. Und schließlich war das Kaiserreich so schlecht nicht: Es war rechtsstaatlich, wies in 14 Jahren vier Literaturnobelpreisträger auf, war in Wissenschaft und Technik weltweit führend, seine Universitäten wurden international bewundert, seine Sozialgesetze waren vorbildlich, und von seiner Alphabetisierungsquote kann die Bundesrepublik – die Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches – nur träumen.
Frank-Walter Steinmeier überlegt gerade, ob er eine weitere Amtszeit anstreben soll. In realistischer Einschätzung seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten müßte er auf eine erneute Kandidatur verzichten. Andererseits – warum sollte er? Er ist tatsächlich der perfekte Repräsentant und Sachwalter des politischen und mentalen Zustandes dieses Landes.   Hinz



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