Stationen

Dienstag, 22. September 2020

Ehrlichkeit ist rar

Beinahe hätte es, außer der SPD, keine neu gegründete Partei in der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer gegeben. Am Runden Tisch, der die finalen Wochen der Regierung Modrow moderierte, war der Antrag eingebracht worden, dass die Volkskammerwahlen am 18. März mit einer 5-Prozent-Hürde stattfinden sollten, denn nur das wäre demokratisch.

Einem unbekannten Bürgerrechtler ist es zu verdanken, dass er den Einwand erhob, der vom Runden Tisch gebildeten Kommission, die dabei war, einen neue Verfassung für die DDR zu schreiben, müsste der Antrag vorgelegt werden, bevor er abgestimmt werden konnte.

Ich war in dieser Kommission die Vertreterin der Grünen Partei, und obwohl meine Partei am Runden Tisch dafür gewesen war, erhob ich heftige Einwände. Es waren sieben neue Parteien gegründet worden, die gegen alle Altparteien antreten mussten. Unwahrscheinlich, dass alle fünf Prozent erreichen würden. Damit wäre ausgerechnet den Vertretern der Friedlichen Revolution, denen die freien Wahlen zu verdanken waren, der Zugang zur Volkskammer erschwert oder unmöglich gemacht worden. Wie immer, wenn das Mitglied einer Neupartei ein Argument vehement vortrug, wagten die Altparteien kaum Widerspruch. So verschwand der Antrag, die Wahl fand ohne Prozenthürde statt.

Am Wahlabend stellte sich heraus, dass mit Ausnahme der SPD, die bei knapp 22 Prozent landete, obwohl ihr die absolute Mehrheit vorausgesagt worden war, alle anderen Neuparteien zusammen gerade bei 5 Prozent landeten. Als wir Abgeordneten der Grünen Partei aber mit dem Neuen Forum, Demokratie Jetzt und der Initiative für Frieden und Menschenrechte, die ein Wahlbündnis eingegangen waren, eine Fraktion bilden wollten, bekamen Matthias Platzeck und ich Schwierigkeiten mit dem Parteivorstand. Man drohte uns den Rausschmiss an, denn wir sollten grüne Themen in das Parlament einbringen und uns nicht verwässern lassen. Es gelang uns aber, den Vorstand zu überzeugen, dass wir unseren Themen in einer größeren Fraktion besser Gehör verschaffen könnten. Damit stand der Geburt von Bündnis 90/Grüne nichts mehr im Weg.

Bevor ich aber eine der drei Fraktionsvorsitzenden wurde, neben mir waren das Jens Reich und Marianne Birthler, hatte ich noch etwas zu überstehen, was man heute Shit-Storm nennen würde.

Ich sollte Platz machen für „Frauenthemen“

Die Grüne Partei war mit der Frauenpartei ein Wahlbündnis eingegangen. Als der größere Partner standen Grüne auf den ersten Plätzen, auf den zweiten folgten Vertreterinnen der Frauenpartei. Wegen des schlechten Wahlergebnisses – wir hatten kaum zwei Prozent gewonnen – zogen nur die ersten Plätze. Bereits in der Wahlnacht erhoben die Frauen die Forderung, ein Drittel der Grünen sollten auf ihre Mandate verzichten, damit Frauen nachrücken könnten.

Vor allem aber wollten sie Christina Schenk, die hinter mir auf der Liste stand, in der Volkskammer sehen. Also konzentrierte sich der Druck auf mich. Ich wurde mehrere Tage lang von einem Pulk Journalistinnen regelrecht verfolgt. Ich solle Platz machen für „Frauenthemen“. Das ich eine Frau war und zwar eine der nur zwei Frauen von acht grünen Abgeordneten, zählte für die Feministinnen nicht. Um den Druck aufrechterhalten zu können, lehnten sie den freiwilligen Rücktritt dreier Männer ab. Ich blieb hart und so bekamen die Frauen am Ende kein Mandat.

Die Volkskammerzeit würde ich die die schönste und intensivste in meinem Leben nennen, wenn ich vorher nicht in Cambridge gewesen wäre, wo ich mich als postgraduale Studentin behaupten konnte und nach einem Jahr mit einem Begabtenstipendium meines Colleges ausgezeichnet wurde. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Die Volkskammer, die recht bald als Laienspieltruppe verunglimpft wurde, war so lebendig, und volksnah, wie ein Parlament nur sein kann. Trotz der intensiven Bemühungen der Berater der Regierungskoalition aus dem Westen, die bei unseren Debatten auf der Besuchertribüne saßen, uns davon abzuhalten, mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen, gelang ihnen das nicht immer. Je nach Temperament gestikulierten sie, schüttelten die Köpfe oder zogen Grimassen, wenn wir mit Leidenschaft Abgeordnete anderer Fraktionen überzeugten, gegen ihre Vorgaben mit uns abzustimmen.

Bundeskanzler Kohl mit  Entourage auf der Besuchertribühne

Es kamen auch immer wieder überparteiliche Initiativen zustande, die von den Fraktionsführungen der Koalition nicht unterdrückt werden konnten. Eine war die versuchte Abwahl von Innenminister Diestel, dessen fragwürdiger Umgang mit den Stasiakten Anlass war, ihn ablösen zu wollen. Eine andere war der überparteiliche Antrag auf sofortigen Beitritt zur BRD am 17. Juni. Der Grundgedanke dieses Antrags war, dass die Vereinigung kommen würde und ein sofortiger Beitritt ohne Übergangsregelungen Rechtssicherheit schaffen und Vereinigungskriminalität verhindern würde. Wie recht wir mit unserem Verdacht hatten zeigte sich, als nach der Vereinigung eine Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) gebildet werden musste.

An diesem 17. Juni saß Bundeskanzler Kohl mit seiner Entourage auf der Besuchertribühne. Er wollte der Gedenkfeier für den Volksaufstand am 17. Juni 1953 beiwohnen. Als unser Antrag trotz aller Verhinderungsversuche verlesen und zur Abstimmung gestellt wurde, verließ Kohl fluchtartig den Saal. Er hatte noch nicht alle Zusagen für die Vereinigung in der Tasche. Kohls Flucht ist ein Argument gegen die immer häufiger vorgetragene Behauptung, die deutsche Vereinigung wäre auf Befehl Gorbatschows erfolgt. Wenn es tatsächlich der Wunsch der Sowjetunion gewesen wäre und nicht der Volkswille der DDR, hätte Kohl an diesem Tag den Antrag begrüßen müssen, statt in Panik auszubrechen.

Aber auch ohne Sofortbeitrittt nahm die Vereinigung immer schnellere Fahrt auf. Waren wir Abgeordneten beim Zusammentritt der Volkskammer und der ersten Regierungserklärung von Ministerpräsident de Maizière noch der Meinung, dass wir vier, aber mindestens zwei Jahre brauchen würden, um die Forderungen der Straße nach Deutschland einig Vaterland zu erfüllen, war im Juni schon klar, dass es nur noch wenige Wochen dauern würde.

Am 31. August wurde der 1.000 Seiten starke Einigungsvertrag von den Verhandlungsführern Wolfgang Schäuble und Günther Krause unterzeichnet. Drei Wochen später, am 20 September, stimmten wir in der Volkskammer über diesen Vertrag ab.

Das Berggesetz der DDR fortgeschrieben

Ich stimmte dagegen, nicht weil ich gegen die Vereinigung war, sondern weil ich dem Vertrag misstraute. Damals wußte ich nur, dass die westdeutsche Industrielobby ihre Interessen durchgesetzt und per Vertrag unliebsame Konkurrenz aus dem Osten schachmatt gesetzt hatte. In Thüringen war VEB Nordbrand Nordhausen einer der wenigen ganz modernen Betriebe der DDR. Er stellte nicht nur den beliebten Nordhäuser Doppelkorn her, der erfolgreich in den Export ging, sondern auch hochwertigen Industriealkohol. Im Einigungsvertrag wurde eine Deckelung der Industriealkoholproduktion auf dem Gebiet der ehemaligen DDR festgelegt, die VEB Nordbrand das wirtschaftliche Genick brach.

Noch schwerer wog, dass im Einigungsvertrag das Berggesetz der DDR fortgeschrieben wurde, was hieß, dass weiter alle Abbauvorhaben Vorrang vor allen anderen Belangen, auch des Natur- und Landschaftsschutzes, haben würden. Das hätte großflächige Landschaftszerstörungen zur Folge, ein Problem vor allem der Regionen, die touristisch genutzt werden.

Ich machte es mir später als Bundestagsabgeordnete zu meiner Hauptaufgabe, diese Einungsvertragsklausel zu ändern. Das gelang mir dann in der Legislaturperiode von 1994–1998, als es wieder eine grüne Fraktion gab, nachdem die Westgrünen wegen der getrennten Wahlgebiete aus dem ersten gesamtdeutschen Bundestag geflogen waren. Als Mitglied des Umweltausschusses konnte ich einen Gesetzentwurf entwickeln, der von der Fraktion angenommen wurde und in zahllosen Gesprächen die Kollegen der anderen Fraktionen überzeugen. Zum Schluss musste ich allein mit Wolfgang Schäuble verhandeln, weil es die Unionskollegen nicht wagten. Schäuble war sehr gut vorbereitet, stellte präzise Fragen und war mit meinen Antworten offenbar zufrieden. Der Einigungsvertrag wurde in puncto Bergrecht geändert, seitdem gilt gleiches Bergrecht in ganz Deutschland.

Nach und nach stellten sich weitere Fehlentscheidungen im Einigungsvertrag heraus. Unter anderem die, auch den Absolventen der Stasihochschule in Potsdam Eiche ihre Abschlüsse anzuerkennen. Sie durften ihre Doktortitel behalten, obwohl die „Dissertationen“ zum Teil sogar Kollektivarbeiten waren, die jegliche wissenschaftlichen Standards vermissen ließen.

Ergebnis eines wirklichen Kuhhandels

Die Zeit zwischen dem 20. September und dem 3. Oktober war dann noch einmal sehr spannend. Das Datum der Vereinigung war das Ergebnis eines wirklichen Kuhhandels. Alle Fraktionen tagten gleichzeitig, Emissäre liefen zwischen den Beratungsräumen hin und her. Wir präferierten den 9. November, den Tag des Mauerfalls. Das kam für die Union nicht in Frage, denn angeblich wollte Kohl unbedingt den 41. Republikgeburtstag verhindern. Es war weit nach Mitternacht, als sich alle Fraktionen auf einen Termin verständigt hatten. Der 3. Oktober ist immer ein uninspiriertes Kunstdatum geblieben.

Während die Vereinigungsvorbereitungen auf Hochtouren liefen und so wichtige Fragen diskutiert wurden, wann genau die DDR-Fahne eingeholt und die deutsche Fahne geflaggt werden sollte, konzentrierten wir uns auf zwei Fragen, die wir unbedingt noch in der Volkskammer abgestimmt haben wollten.

Die eine betraf den Umgang mit den Stasiakten. Wir wollten unbedingt durchsetzen, dass die Hinterlassenschaften des Unterdrückungsapparates öffentlich zugänglich gemacht werden. Der Widerstand dagegen war sehr strak, nicht nur auf Seiten der DDR-Altparteien, sondern auch der westlichen Politiker.

Die DDR-Volkskammer hatte am 24. August das “Gesetz zur Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Akten” des Ministeriums für Staatssicherheit beschlossen. Die Forderung unserer Fraktion und vieler Bürgerrechtler war, dass ein solches Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten auch in den Einigungsvertrag aufgenommen werden sollte. Doch dies geschah nicht. Stattdessen gab es den Plan, die Akten 30 Jahre lang ins Bundesarchiv zu sperren. Das führte zu heftigen Protesten.

Zusatzklausel zum Umgang mit den Stasi-Akten

Am 4. September besetzten dutzende Bürgerrechtler die Räume der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin und traten in den Hungerstreik. Der Druck wurde so stark, dass am 18. September Wolfgang Schäuble und Günther Krause schließlich eine Zusatzklausel zum Einigungsvertrag zum Umgang mit den Stasi-Akten vereinbarten. Hierin wurde festgeschrieben, dass der Bundestag nach der Wiedervereinigung ein entsprechendes Gesetz erlassen sollte. Das war ein halber Sieg.

Allerdings bedurfte es nach der Vereinigung im Bundestag der ganzen Energie der Bundestagsgruppe von Bündnis 90/Grüne, die Kollegen der anderen Fraktionen zu überzeugen, dieses Gesetz auch zu beschließen. Die Koalitionsfraktionen hätten es nicht auf die Tagesordnung gesetzt, die SPD-Opposition auch nicht. Es wurde schließlich eine überparteiliche Initiative, die das Vermächtnis der Volkskammer erfüllte.

Ein Vorgeschmack darauf, wie schwierig dieses Thema werden würde, war der schließlich erfolgreiche Versuch, die Namen der stasibelasteten Abgeordneten der Volkskammer vorzulesen. Die Liste war in einem Unterausschuss erarbeitet worden, dem der spätere Stasiunterlagenbeauftragte und noch spätere Bundespräsident Joachim Gauck vorsaß. Wir waren schon wegen der Asbest-Belastung aus dem Palast der Republik verbannt worden und saßen im ebenso asbestbelasteten Saal des ehemaligen ZK-Gebäudes.

Der Vizepräsident unserer Fraktion Wolfgang Ullmann stieg aufs Podium und wollte die Namen verlesen. Er wurde von Ministerpräsident de Maizière, Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl und – nach meiner Erinnerung – auch PDS-Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi immer wieder am Reden gehindert. Es gipfelte in dem Vorwurf, die Liste sei illegal kopiert worden. Erst als ein Mitglied des Unterausschusses rief, er können die Namen auswendig von vorn nach hinten, aber wenn gewünscht auch von hinten nach vorn aufsagen, war der Widerstand gebrochen und Ullmann konnte seines Amtes walten.

Um nicht mit der Stasi zu enden, möchte ich erzählen, was ich persönlich für einen der größten Erfolge unserer Volkskammertätigkeit halte. Am letzten Sitzungstag gelang es uns, eine Mehrheit für unser Nationalparkprogramm zu bekommen. Damit wurden wichtige schützenswerte Gebiete zum Nationalpark erklärt. Das wäre nicht ohne die jahrelange Vorarbeit innerhalb der Umweltbewegung der DDR möglich gewesen. Wir hatten etliche Biologen, Botaniker, Geologen und Geobotaniker in unseren Reihen, die seit Jahren an solch einem Programm gearbeitet hatten, ohne zu wissen, ob sie jemals die Chance haben würden, es zu verwirklichen. Die bot sich, und die erste und letzte freie Volkskammer hat sie genutzt. Sie hat dafür gesorgt, dass die DDR nicht nur verrottete Betriebe, kontaminierte Böden, tote Flüsse und dreckige Luft in die Vereinigung einbrachte, sondern einen Naturschatz, der heute zum Wertvollsten gehört, was Deutschland auf diesem Gebiet zu bieten hat.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Vera Lengsfeld.de.

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