Stationen

Montag, 14. September 2020

Aus Liebe zu Deutschland - von Hamed Abdel-Samad

Vor 25 Jahren kam ich als Student nach Deutschland. Seitdem ist viel passiert. Mit mir, mit Deutschland und mit meiner Beziehung zu diesem Land. Ich wurde ein freier Mensch, der sich aus der Umklammerung der Religion mit all ihren Zwängen lösen konnte. Ich wurde ein freier, aber auch ein bedrohter Schriftsteller, der von Personenschützern begleitet werden muss. Das Land wurde in den vergangenen 25 Jahren bunter, diverser, liberaler. Und dann langsam immer polarisierter. Aus der Polarisierung wurde mit der Zeit eine tiefe Spaltung. Eine Spaltung, die zunehmend den gesellschaftlichen Frieden bedroht und die Errungenschaften dieses Landes gefährdet.

Die einen suchen in der Multikulti-Doktrin einen Ablassbrief für vergangene Schuld, die anderen fliehen vor dieser Schuld in Wut, Großkotzigkeit und Reichsnostalgie. Und die bürgerliche Mitte richtet sich in einer emotionalen, intellektuellen und politischen Komfortzone ein. Und so spaltet die Schuld die Republik, statt sie zu einen!
Ich habe bislang viele Bücher über meine Herkunftskultur und über Migration veröffentlicht. Nun kommt dieses Buch, das sich ausschließlich mit Deutschland, seiner Geschichte, seiner Kultur und seinen Problemen der Gegenwart beschäftigt. Manche behaupten, es gäbe jenseits der deutschen Sprache keine spezifische deutsche Kultur. Wer soll diese Behauptung widerlegen, wenn nicht einer, der von außerhalb kommt und sich seit einem Vierteljahrhundert mit der deutschen Mentalität, Lebensweise, Philosophie und Politik auseinandersetzt?
Ich blicke nicht nur auf die letzten 25 Jahren zurück, sondern auf 1.000 Jahre deutsche Geschichte und versuche, die Frage zu beantworten, was Deutsch-Sein bedeutet und was Deutschland – über die Zeitläufte hinweg – im Innersten zusammenhält. Ich war auch auf der Suche nach dem Urproblem der Deutschen und kam zu einem überraschenden Ergebnis. Dieses Urproblem war nicht nur für den Holocaust, sondern auch für die heutige Polarisierung und die vergiftete Streitkultur mitverantwortlich!

Ich habe diesem Buch den Titel „Aus Liebe zu Deutschland“ gegeben, weil ich dieses Land mit all seinen Fehlern, Brüchen, Widersprüchen und Narben wirklich liebe. Ich sehe den Prozess seiner Entwicklung als Widerspiegelung meiner eigenen Geschichte. Wir haben beide einen sehr langen Weg zu uns selbst zurückgelegt. Einen Weg, der von Selbstüberschätzung, Zerrissenheit, Wut, Aggression, Selbsthass und Schuldgefühlen, aber auch von Selbstkritik, Selbstverantwortung und Selbstüberwindung gekennzeichnet ist. Wir haben beide eine Art frühkindliche Störung und ein Trauma erlitten, das bis heute posttraumatische Verhaltensstörungen mit sich bringt.
Wir waren beide lange stark auf das Unheil in unserer Geschichte fixiert und versuchten, auf seinen Trümmern eine Identität und ein Wertesystem zu errichten, das sich vor allem in Abgrenzung zum Vergangenen definiert. Wir neigten beide in der Vergangenheit dazu, von einem Extrem ins nächste zu wechseln. Aber wir beide wagten es auch, uns für die westlich-freiheitliche Lebensweise zu öffnen, obwohl unsere früheren Identitäten gleichsam als Antithese dazu galten. Wir wagten beide den Wandel und zerbrachen nicht an den Veränderungen, obwohl wir immer noch verwundbar sind.
Ich unterscheide deshalb nicht zwischen einem hellen und einem „Dunkeldeutschland“, nicht zwischen „Gutmenschen“ und Patrioten. Ich suche mir aus der Geschichte keine dunklen Jahre und keine Sternstunden heraus, um Deutschland daran festzumachen oder es darauf zu reduzieren. Deutschland ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah, und es ist die Summe aller Menschen, die hier leben. Das Land als Ganzes, als Prozess zu verstehen und zu akzeptieren, hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen und zu akzeptieren. Durch die Außen- und die Innensicht, durch die Zuneigung und die Distanz zum Land kann ich Deutschland anders sehen und vielleicht besser verstehen als viele, die hier geboren sind.

In diesem Jahr feiert Deutschland dreißig Jahre deutsche Einheit. Dieses Buch ist mein Beitrag dazu. Darin schreibe ich über die deutsche Identität, die Erinnerungskultur, die Willkommenskultur, die Wutkultur und die Leitkultur. Ich schreibe über Werte und Ängste, über die politische Mitte und die Zivilgesellschaft, über die Demokratie und ihre Feinde. Meine Liebeserklärung an Deutschland ist keine Sonntagsrede und keine Laudatio, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung mit meiner Wahlheimat und ein kritischer Beitrag zu den aktuellen Debatten.
Alle, die eine ehrliche Debatte durch Demagogie, Gesinnungsethik, Emotionalisierung, Moralisierung, Maulkörbe und Denkverbote behindern, fügen dem Land großen Schaden zu und hindern es daran, seine Potenziale zu entfalten. Der Untertitel lautet „Ein Warnruf“, weil ich sehe, dass das Land gerade dabei ist, einige seiner wichtigsten Errungenschaften zu verspielen!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Hamed Abdel-Samads Facebookseite.

„Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf“ von Hamed Abdel-Samad, 2020, München: dtv, hier bestellbar.

 

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