Die Theodizee-Frage lautet: Wie kann Gott das Böse zulassen, wenn er
allmächtig ist? Wie lässt sich das Leiden in der Welt mit der Annahme
vereinbaren, dass Gott gut sei? Den Begriff hat Leibniz geprägt, die
Frage indes ist allerspätestens seit Hiob in der Welt. Es geht also um
die Rechtfertigung Gottes ("Gott war nicht das Gute, sondern das Ganze",
erfährt der junge Joseph in Thomas Manns Romantetralogie während seiner
religiösen Unterweisungen). Neuerdings wird der Theodizee von
philosophischen Autoren die Anthropodizee zur Seite gestellt. Unabhängig
davon, inwieweit der Mensch tatsächlich das Weltklima beeinflusst,
leben wir im Anthropozän, Homo sapiens ist in einem
demiurgischen Maße der Gestalter seiner Umwelt geworden – seines
Mitmenschen Würger war er ja schon immer –, insofern ist die
Begriffsbildung mitsamt dem ihr innewohnenden "Klärungsbedarf" der
Weltstunde angemessen.
Der philosophische Autor Frank Lisson, der vielleicht einsamste Wolf des hiesigen Literaturbetriebs, jedenfalls ein Außenseiter sui generis, hat nun ein Buch namens "Mythos Mensch. Eine Anthropodizee" veröffentlicht,
das ich mit grimmigem Vergnügen gelesen habe, weil der 50jährige, dem
immer mal wieder schwärzester Pessimismus, Gottlosigkeit und
Wehrkraftzersetzung vorgeworfen werden, eine amüsante Volte schlägt
(dazu gleich). Er traktiert seinen Gegenstand allerdings nicht mit Blick
auf möglichst große Vorwürfe an dessen Adresse (Holocaust, Hiroshima,
Umweltzerstörung, Klimawandel, Feminismus, Freizeitmode etc.); ihm geht
es vielmehr um den Allerweltsmenschen mit seinem Allerweltsbedürfnis
nach Triebbefriedigung und Anpassung.
"Im Allgemeinen scheint
keine Anthropodizee ohne eine starke Metaphysik formulierbar",
spekuliert der Wikipedia-Eintrag zur Begriffsklärung in einer
verspäteten konversationslexikalischen Anwandlung (ich schaute dort
nach, weil ich zu erfahren hoffte, wann das Wort geboren wurde). Lisson
ist vollkommen anderer Ansicht. Für ihn ist gerade im Lichte seiner
Anthropodizee "alle Metaphysik höherer Unsinn". Warum? Darauf weist der
Haupttitel "Mythos Mensch" hin; das soll man lesen als: Der Mensch, das
mythenbedürftige Tier, die ohne Mythen nicht lebensfähige Kreatur. "Wie
kann ein denkendes, empfindendes Wesen in die Welt eintreten, ohne durch
das Bedenkliche und also zu Bedenkende, das es überall umringt, in
völliger Verstörung zu enden?", fragt der einsame Grübler. "Ohne die Begabung zum Mythos hätte
der Mensch seinen Weg in die Selbstwahrnehmung kaum überleben können."
Demgegenüber sei alle Metaphysik sekundär. Über den Mythos erfand sich
der Mensch "lauter Formen eines Alter ego, um sich selber für
seinesgleichen interessant zu machen, also um eine auch metaphysische Balz aufführen zu können, um sich mit unerreichbar ‚höherer‘ Gesellschaft zu umgeben."
Doch
was zweieinhalbtausend Jahre hochartifizielles Denken hervorgebracht
haben, zerplatze heute wie die als Metapher konkurrenzlose Seifenblase:
"Das Wirklichkeitsfremde, ja Lächerliche, Unverständliche und
Überflüssige philosophischer Probleme tritt deutlicher denn je zutage,
wo bald alles Denken dem technisch-generativen Prozess unterworfen ist
und also keine Hoffnung mehr besteht auf eine sinnvolle Existenz
jenseits der üblichen gesellschaftspolitischen Verwertungsapparate." Die
bislang so hochgeschätzte Weisheit erklärt Lisson ohne Umschweife zu
einer "Funktionsstörung", reif für jede Art Schierlingsbecher, zumindest
aber alles andere als vorbildlich. Weisheit bewirke – nichts. "Fast
alle sozialpsychologischen Phänomene und lebensphilosophischen Probleme,
die uns heute beschäftigen, sind bereits vor zweitausendfünfhundert
Jahren erkannt und dargestellt worden, ohne dass sich
evolutionsbiologisch irgendetwas an ihren Ursachen und Verursachern
geändert hätte."
Nach Lissons Ansicht tritt die Menschheit momentan in ein vollkommen neues Decorum
ein, neben dem sämtliche bisherigen Epochen zu einer Art Vorgeschichte
schrumpfen werden. Der Mensch verliere "den gesamten
kulturgeschichtlichen Horizont, der hinter ihm liegt". Wir stünden am
Eingang des postkulturellen Weltalters – den Gedanken, dass wir "nach
den Kulturen" leben, hat der Autor bereits in seinem 2008 erschienenen
Buch "Homo absolutus" dargelegt –, und wenn wir heute "die Summe aus
drei Jahrtausenden innovativer Kulturgeschichte" ziehen, müsste man
feststellen, "dass fast nichts davon, außer den technischen
Entwicklungen, hätte sein müssen, um dort anzukommen, worauf wir uns
allesamt zubewegen: nämlich die erhöhte Ur-Stufe menschlicher
Zweckmäßigkeit", eine "Rebarbarisierung auf höchstem
technisch-merkantilistischem Niveau". Erst das 21. Jahrhundert "lehrt
uns mit aller Deutlichkeit das Vergebliche der Arbeit am
Menschen in bildungsbürgerlich-humanistischer Absicht". Während eine
Kultur stets begrenzt sei und das Besondere wolle, strebe die liberale
Zivilisation nach Entgrenzung und globaler Nivellierung. Diesen Prozess
nicht als Schmerz zu verspüren, sei ein sicheres Indiz dafür, dass man
ihn bereits erfolgreich vollzogen habe; "welche Volks- oder
Glaubenszugehörigkeit auf den Straßen und in den Shopping-Centern die
Überfülle vermehrt, bleibt in den komfortindustriell verödeten Ländern
wie denen Mitteleuropas reine Ermessenssache. Wer sich an dem einen
nicht stört, wird sich bald auch an das andere gewöhnt haben."
So
oder so, es gebe "für den Menschen kein Glück jenseits seiner Mythen,
das heißt jenseits der Lüge". Jeder Denkfähige möge sich der Einsicht
öffnen, "dass die Grundprobleme menschlichen Daseins weder kultureller
noch politischer oder sozialer, sondern allein typologischer Art sind".
Nur
die "Staatslüge" ändere sich periodisch – "Man hat über tausend Jahre
mit der ‚katholischen‘ Lüge gelebt, vielleicht wird man noch einmal so
lange mit der ‚demokratischen‘ Lüge leben müssen"–, der ihr getreulich
folgende Typus bleibe dagegen der gleiche. "Immer wieder treibt es
Gesellschaften zu neuen staatstragenden, allgemein verbindlichen Mythen
und Dogmen, die das menschliche Bedürfnis nach moralischen Imperativen,
nach Verboten und nach Feindverortungen legitimieren. Erst die neue Lüge, zu der sich alle bekennen müssen, die vom neuen
Staat profitieren wollen, macht die Illusion eines gesellschaftlichen
Fortschritts möglich." Es sei lediglich "ein formaler Unterschied, ob
man die Leugnung der Wiederauferstehung Jesu oder der prinzipiellen
Gleichheit aller Menschen unter Strafe stellt. Man verlangt in beiden
Fällen an etwas zu glauben, das jeder Empirie, Logik, Vernunft
widerspricht." So habe heute der Rassismus-Vorwurf den Atheismus-Vorwurf
"mit gleichbleibenden Konsequenzen" ablösen können.
Der Autor folgert, "dass der Dogmatismus
zur menschlichen Natur gehört. Ohne Hinwendung, Anlehnung, Bindung an
einen zumeist absurden Glauben scheint sich der Mensch selbst auf
heutiger Entwicklungsstufe nicht in der Welt zurechtzufinden." Denn: "Je
weniger der Mensch an sich und an der von seinesgleichen errichteten
Welt zweifelt, desto glücklicher bewegt er sich durchs Leben – und desto
mehr Nachkommen wird er zeugen. Daher liegt es in der Natur der Sache,
dass der Skeptiker gegen den Mitmacher evolutionär keine Chance hat."
Und
nun kommen wir zur süffisanten Anthropodizee dieses notorischen
Outlaws, nämlich der Rechtfertigung des Menschen in seiner Eigenschaft
als Opportunist – und nur in dieser. Man werde, notiert Lisson, doch
niemanden "abqualifizieren dürfen, der als Resultat des Zeitgeistes wie
zufällig gerade diejenige Haltung einnimmt, die ihm in seiner Umgebung
die meisten Vorteile verschafft". Ja, mehr noch: "Wo Mitmachen Erfolg
und damit das ‚schöne Leben‘ verspricht, sind Zweifel, Skepsis und
Gewissensnöte das klare Anzeichen eines ungesunden Gemüts. – Loben und
feiern wir also die Geschickten und Gewieften, die Arrivierten und
klugen Taktiker." Denn das seien "die vor Gesundheit strotzenden
Alphatiere des Lebens". Ein instinktsicherer Mensch werde sich immer dem
jeweils stärksten Dogmatismus anschließen. Alle Aufstände der
Außenseiter und Widerständigen gegen dieses Weltgesetz seien lächerlich:
"Wie peinlich, überhaupt jemals den Siegerinstinkt des
zeitgeistgesteuerten, überall Mitmachenden angeklagt zu haben! So als
gerate man immer wieder gegen schlechtes Wetter in Zorn."
Man
müsse gerade den in seinen Mythen und Zwecklügen behaglich lebenden
Menschen als den "wahren" und "richtigen" Menschen begreifen und
akzeptieren. "Und auch nur dadurch, nämlich durch das Lob dieser rein
menschlichen Begabung zum Glauben an etwas real nicht Vorhandenes wie
‚Gott‘ oder den ‚guten Staat‘, sowie durch die Fähigkeit, allen Übeln
ihr ‚Gutes‘ abzugewinnen – allein dadurch wäre eine Anthropodizee im
gemeinmenschlichen Sinne möglich!" MK
Alles gut und schön. Aber es ist nicht leicht, den Ekel stoisch zu bannen.
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