Vor zehn Jahren, am 30. August 2010, erschien Thilo Sarrazins erstes
Buch: „Deutschland schafft sich ab – wie wir unser Land aufs Spiel
setzen“. Dass es vom Start weg die Bestsellerlisten stürmte und in den
folgenden 16 Monaten, also bis Anfang 2012, mehr als 1,5 Millionen Mal
verkauft wurde, hatte das 464 Seiten umfassende Opus Magnum einer
„Rezension“ durch die Bundeskanzlerin zu verdanken.
Bereits am 25. August gab Regierungssprecher Steffen Seibert bekannt,
die Kanzlerin sei über Sarrazins Buch „empört“. Es enthalte
„Darstellungen, die die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin nicht ganz
kaltließen“, Formulierungen, „die für viele Menschen in diesem Land nur
verletzend sein können, die diffamieren, die sehr, sehr polemisch
zuspitzen und die überhaupt nicht hilfreich sind bei der großen
nationalen Aufgabe in diesem Land, bei der Integration voranzukommen“.
Schützenhilfe leistete auch der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar
Gabriel mit seiner Ankündigung, er werde Sarrazins Buch auf
„rassistische Inhalte“ prüfen lassen; der auf Abwege geratene Genosse
sollte „freiwillig“ aus der SPD austreten. Der damalige Innenminister,
Thomas de Maizière, riet im Umgang mit Sarrazin einerseits zur
„Gelassenheit“, andererseits meinte er auch, die Gesellschaft könne
„keinen Ratschlag und keinen Anstoß von einem Provokateur brauchen, der
mit der Provokation auch noch Geld verdient“.
Für Thilo Sarrazin waren die letzten zehn Jahre eine gute Zeit. Er
schrieb sechs Bücher, die sich nicht nur – sehr zum Ärger von Thomas de
Maizière – gut verkauften, sondern auch viel Beachtung fanden, und sei
es nur in der Form schäumender Verrisse.
„Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft“, hatte der
Bayerische Arzt und Schriftsteller Oskar Panizza schon vor über 100
Jahren festgestellt. Und der Satz gilt immer noch oder mehr denn je in
Zeiten einer Pandemie, die aus Bürgern Patienten und aus Politikern
Sanitäter macht.
Um den Wahnsinn, der Vernunft heißt, wenn er epidemisch wird, geht es
auch in Sarrazins neuem Buch: „Der Staat an seinen Grenzen“. Es geht um
Migration und Integration, um die Frage, ob es möglich ist, einen
Wohlfahrtsstaat bei freier und unkontrollierter Zuwanderung zu
unterhalten, was so ein Projekt kostet und welche Kollateralschäden es
mit sich bringt.
Sarrazins Position ist klar, sie widerspricht allen Glaubenssätzen
einer bunten, toleranten und weltoffenen Willkommenskultur. Es sei nicht
wahr, schreibt er, dass es „Einwanderung“ schon immer gegeben habe;
ebenso wenig treffe es zu, dass Einwanderung der Gesellschaft „nutzen“
würde. Auch die Behauptung, Einwanderung lasse sich nicht verhindern,
entspringe unserem Wunschdenken. Sarrazin spricht aus, was andere kaum
zu denken wagen.
„Migration ist häufig ein Vehikel, mit dem dysfunktionale
Gesellschaften einen Teil ihrer Probleme durch Auswanderung auf andere
Gesellschaften ableiten.“ Oder: „Die ungehinderte Wanderung von Wissen
und Waren und eine arbeitsteilige weltweite Warenproduktion sind
möglich, ohne dass Menschen dazu in großer Zahl wandern müssen.“ Und:
„Was in Südafrika oder Somalia schief läuft, kann nicht in Deutschland
oder Europa geheilt werden.“
Dennoch bin ich nicht grundsätzlich gegen die Zuwanderung von
Menschen aus anderen Kulturen. Ich finde es nur verlogen, wenn
Zuwanderung idealisiert („Kein Mensch ist illegal“) und als eine Art
Frischzellenkur für den altersmüden deutschen Volkskörper verschrieben
wird, als „nationale Aufgabe“ und eine „Bewährungsprobe“, mit der das
deutsche Volk über sich selbst hinauswachsen und zeigen soll, dass es
aus der Geschichte gelernt hat.
Einwanderung, Migration ist – im Gegensatz zum Internet – kein
Neuland, sondern ein gut erforschtes Terrain. Wir wissen, warum sich vor
den deutschen, holländischen, österreichischen, schwedischen
Vertretungen in den Krisenländern lange Warteschlangen bilden, während
niemand aus Europa in eines der Länder migrieren möchte, aus denen die
Migranten kommen. Migration ist eine Einbahnstraße, Integration auch.
Die Forderung, die aufnehmenden Gesellschaften sollten den Zuwanderern
entgegenkommen und die Regularien des Zusammenlebens täglich neu
aushandeln, ist eine Anleitung zum sozialen und kulturellen Selbstmord.
Um es mit Peter Scholl-Latour zu sagen: „Wer halb Kalkutta aufnimmt,
hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta!“ HMB
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.