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Samstag, 5. September 2020

Was ein einziger mutiger, kompetenter Mann bewirken kann

Vor zehn Jahren, am 30. August 2010, erschien Thilo Sarrazins erstes Buch: „Deutschland schafft sich ab – wie wir unser Land aufs Spiel setzen“. Dass es vom Start weg die Bestsellerlisten stürmte und in den folgenden 16 Monaten, also bis Anfang 2012, mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft wurde, hatte das 464 Seiten umfassende Opus Magnum einer „Rezension“ durch die Bundeskanzlerin zu verdanken.
Bereits am 25. August gab Regierungssprecher Steffen Seibert bekannt, die Kanzlerin sei über Sarrazins Buch „empört“. Es enthalte „Darstellungen, die die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin nicht ganz kaltließen“, Formulierungen, „die für viele Menschen in diesem Land nur verletzend sein können, die diffamieren, die sehr, sehr polemisch zuspitzen und die überhaupt nicht hilfreich sind bei der großen nationalen Aufgabe in diesem Land, bei der Integration voranzukommen“.
Schützenhilfe leistete auch der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel mit seiner Ankündigung, er werde Sarrazins Buch auf „rassistische Inhalte“ prüfen lassen; der auf Abwege geratene Genosse sollte „freiwillig“ aus der SPD austreten. Der damalige Innenminister, Thomas de Maizière, riet im Umgang mit Sarrazin einerseits zur „Gelassenheit“, andererseits meinte er auch, die Gesellschaft könne „keinen Ratschlag und keinen Anstoß von einem Provokateur brauchen, der mit der Provokation auch noch Geld verdient“.

Für Thilo Sarrazin waren die letzten zehn Jahre eine gute Zeit. Er schrieb sechs Bücher, die sich nicht nur – sehr zum Ärger von Thomas de Maizière – gut verkauften, sondern auch viel Beachtung fanden, und sei es nur in der Form schäumender Verrisse.
„Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft“, hatte der Bayerische Arzt und Schriftsteller Oskar Panizza schon vor über 100 Jahren festgestellt. Und der Satz gilt immer noch oder mehr denn je in Zeiten einer Pandemie, die aus Bürgern Patienten und aus Politikern Sanitäter macht.
Um den Wahnsinn, der Vernunft heißt, wenn er epidemisch wird, geht es auch in Sarrazins neuem Buch: „Der Staat an seinen Grenzen“. Es geht um Migration und Integration, um die Frage, ob es möglich ist, einen Wohlfahrtsstaat bei freier und unkontrollierter Zuwanderung zu unterhalten, was so ein Projekt kostet und welche Kollateralschäden es mit sich bringt.
Sarrazins Position ist klar, sie widerspricht allen Glaubenssätzen einer bunten, toleranten und weltoffenen Willkommenskultur. Es sei nicht wahr, schreibt er, dass es „Einwanderung“ schon immer gegeben habe; ebenso wenig treffe es zu, dass Einwanderung der Gesellschaft „nutzen“ würde. Auch die Behauptung, Einwanderung lasse sich nicht verhindern, entspringe unserem Wunschdenken. Sarrazin spricht aus, was andere kaum zu denken wagen.
„Migration ist häufig ein Vehikel, mit dem dysfunktionale Gesellschaften einen Teil ihrer Probleme durch Auswanderung auf andere Gesellschaften ableiten.“ Oder: „Die ungehinderte Wanderung von Wissen und Waren und eine arbeitsteilige weltweite Warenproduktion sind möglich, ohne dass Menschen dazu in großer Zahl wandern müssen.“ Und: „Was in Südafrika oder Somalia schief läuft, kann nicht in Deutschland oder Europa geheilt werden.“

Dennoch bin ich nicht grundsätzlich gegen die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturen. Ich finde es nur verlogen, wenn Zuwanderung idealisiert („Kein Mensch ist illegal“) und als eine Art Frischzellenkur für den altersmüden deutschen Volkskörper verschrieben wird, als „nationale Aufgabe“ und eine „Bewährungsprobe“, mit der das deutsche Volk über sich selbst hinauswachsen und zeigen soll, dass es aus der Geschichte gelernt hat.
Einwanderung, Migration ist – im Gegensatz zum Internet – kein Neuland, sondern ein gut erforschtes Terrain. Wir wissen, warum sich vor den deutschen, holländischen, österreichischen, schwedischen Vertretungen in den Krisenländern lange Warteschlangen bilden, während niemand aus Europa in eines der Länder migrieren möchte, aus denen die Migranten kommen. Migration ist eine Einbahnstraße, Integration auch. Die Forderung, die aufnehmenden Gesellschaften sollten den Zuwanderern entgegenkommen und die Regularien des Zusammenlebens täglich neu aushandeln, ist eine Anleitung zum sozialen und kulturellen Selbstmord. Um es mit Peter Scholl-Latour zu sagen: „Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta!“  HMB

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

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