Unter allen Versuchen der Etablierten, die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen einzuordnen,
erfreuen sich diejenigen der größten Beliebtheit, die hinter jedem
Maskenverweigerer einen Rechtsextremisten wittern. Entsprechend
erleichtert reagiert man auf symbolische Hinweise, die diesen Verdacht
zu erhärten scheinen.
Das heißt im Hinblick auf die Demonstration vom vergangenen
Wochenende, der Blick richtet sich nicht auf Regenbogen- und
Klapperschlangenfahne, auch nicht auf das Wirmer-Kreuz oder
Schwarz-Rot-Gold, sondern darauf, daß manche Teilnehmer mit
Schwarz-Weiß-Rot in allen möglichen Varianten aufgetreten sind.
Für den Historiker Eckart Conze
ist die Sache damit klar: Die Flagge des Kaiserreichs „steht für die
Ablehnung des gegenwärtigen politischen Systems: des Parlamentarismus,
der freiheitlichen, repräsentativen Demokratie und ihrer Eliten“, und
der Journalist Dirk Schümer nimmt vor allem gefühlsmäßig Anstoß und zwar
nicht nur an den Fahnenträgern, sondern auch an der „fiesen“ Farbkombination.
Man könnte über das eine diskutieren, über das andere achselzuckend hinweggehen, wenn nicht Conzes Spiegel-Interview und Schümers Welt-Artikel eine darüberhinausgehende Stoßrichtung hätten: die Denunziation der neueren deutschen Geschichte im Ganzen.
Man kann Conze wie Schümer fraglos zu den Tonangebern rechnen, die
das Selbstverständnis der postnationalen Bundesrepublik bestimmen.
Weshalb sie auf jedes Anzeichen eines „historischen Revisionismus“
(Conze) ausgesprochen empfindlich reagieren. Denn den Kern des von ihnen
vertretenen „Narrativs“ bestimmt die Schwarze Legende vom „Sonderweg“.
Derzufolge sind die Deutschen eine verspätete Nation, waren zu ihrem
eigenen und ihrer Nachbarn Glück lange Zeit außerstande, eine kompakte
politische Einheit zu bilden. Über Jahrhunderte existierten sie als
harmloses „Monstrum“ in Europas Mitte. Bis es Bismarck fatalerweise
gelang, das zu ändern und „ein rückständiges Reich der Deutschen,
dominiert von Pickelhauben und einem Größenwahn“ (Schümer) zu schaffen,
„autoritär und militaristisch“ (Conze), das nicht nur 1914 fahrlässig
oder schuldhaft einen ersten Weltkrieg vom Zaun brach, sondern auch die
Voraussetzungen für den zweiten schuf.
Und nicht nur das: „Ja, und man muß selbst die Frage stellen, wie das
Kaiserreich und der Mord an den Juden ab 1941 zusammenhingen. Die
Gesellschaft des Kaiserreichs war extrem hierarchisch, der Glaube an die
Ungleichheit der Menschen war stark, auch der Rassismus und die
Ausgrenzung. So entstanden Voraussetzungen für die breite Akzeptanz etwa
der Judenverfolgung unter den Deutschen, die schließlich im Judenmord
gipfelte. Wer das Kaiserreich von solchen Entwicklungen abtrennt, greift
in der historischen Erklärung zu kurz.“ (Conze)
Wer derlei Zusammenhänge sieht, der meint auch, daß wir mit der
Niederlage von 1918 und dem Friedensdiktat von Versailles zu glimpflich
davongekommen sind. Denn weder die eine noch das andere genügten, den
deutschen Ungeist auszutreiben. Hatte man sich doch darauf beschränkt,
den „letzten debilen Hohenzollern“ (Schümer) loszuwerden, während das
Potential der Nation, wenngleich geschwächt, erhalten blieb, und die
„kriegsgeilen Intellektuellen“ (Schümer) jede Chance hatten, Hitler
geistig vorzubereiten.
Erst die Niederlage von 1945 wirkte therapeutisch, und erlaubte es,
mit selbstloser Hilfe der Sieger die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Kurz und knapp: Erst Umerziehung + `68 + westernization haben dazu geführt, den Deutschen ihre Unarten auszutreiben und sie in eine zivilisierte Existenzform zu überführen.*
Das so erreichte sieht man jetzt bedroht. Aber nicht nur durch jene
Heißsporne, die unter Schwarz-Weiß-Rot die Treppe des Reichstags
„gestürmt“ haben, sondern auch durch das, was sich als neuer Kulturkampf
anbahnt, in dem es um „unsere Identität“ (Conze) geht und um
Gefahrenabwehr angesichts „eines sich verändernden geschichtspolitischen
Klimas“ (Conze).
Diese Feststellung eines Lehrstuhlinhabers verstört auf den ersten
Blick, da die Zunft der Historiker, was PC-Stromlinienform angeht, wohl
nur noch von Pädagogen, Soziologen, Politologen und Vertretern der
Gender Studies übertroffen wird.
Aber vielleicht löst gerade das Fehlen sichtbarer Gegner Unruhe aus.
Dann tritt man nur mit Aplomb auf, weil man um die Schwäche der eigenen
Position weiß. Denn im Grunde ist ausgeschlossen, daß die absurde
Mischung aus uralten Stereotypen, feindlicher Kriegspropaganda und
linker Geschichtsklitterung, die landauf landab vertreten wird,
unangefochten bleibt.
Leute wie Conze oder Schümer sind nicht so dumm, ihren eigenen
Horrorszenarien zu glauben, in denen die Verfassungsordnung durch
Fahnenschwenker gefährdet wird, die Hohenzollern irgendwo die Drähte für
einen ideologischen Umschlag ziehen oder bizarre „Reichsbürger“ in der
Lage sind, einen Bürgerkrieg vorzubereiten.
Aber sie sehen die Risse im Mauerwerk des von ihnen und ihresgleichen
geschaffenen Überbaus. Die haben nichts damit zu tun, daß irgendjemand
die Spitzhacke schwingt, sondern damit, daß das Fundament von Anfang an
brüchig und das verwendete Material minderwertig war. Woran kein neuer
Verputz etwas ändert. Karlheinz Weißmann
* Eine Art Rotary-Club mit aseptischen Leuten wie Mario Monti ohne jede spezifisch eigentümliche kulturelle Wurzel außer der amerikanischen Variante des Abendlandes als Leitfiguren.
Übrigens: auch am 3. Juli dieses Jahres wurde der Reichstag von empörten Bürgern gestürmt!! Sie kletterten an Polizisten vorbei aufs Dach!!! Und von dort brachten sie unter dem Schriftzug "Dem deutschen Volke" ihre Parolen an!!!!
Nachtrag am 10. 9. 2020: Heute im Sender La 7 stimmte Mario Monti plötzlich ein Loblied auf Berlusconi an. Er hatte sogar einen Schlips an, den Berlusconi ihm zusammen mit 12 anderen geschenkt hatte (er hielt das Etikett mit dem Schriftzug "Silvio Berlusconi" in die Kamera), als Monti vor der eigentlichen Amtsübergabe, die ebenfalls sehr ritterlich durch Übergabe der Ratsklingel erfolgte, zu ihm ins Büro gekommen war. Monti erinnerte sich dankbar daran, dass es Berlusconi war, der Monti zum Commissario Europeo gemacht hatte. Ich habe außerdem in Erinnerung, dass Berlusconi Monti Jahre später als Minister haben wollte, wie im übrigen auch Mario Draghi; aber beide sagten ab. An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass Lamberto Dini seine politische Karriere auf ausdrücklichen Wunsch in Berlusconis erstem Kabinett begann. Also wenn jemand immer an die besten Leute appelliert hat, Verantwortung in seinem Kabinett zu übernehmen, dann Berlusconi.
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