Stationen

Mittwoch, 2. März 2022

Ist die Invasion der Ukraine der Anfang vom Ende Putins?

Die oft schon für tot erklärte Nato ist lebendiger denn je. Putins Krieg gegen die europäische Friedensordnung hat sie aus ihrer Sinnkrise befreit.
Erinnern Sie sich noch daran, dass Emmanuel Macron die Nato als „hirntot“ bezeichnete? Das ist nur zwei Jahre her. Heute ist das transatlantische Bündnis vitaler denn je. Putin hat viel für die Nato getan. Er hat sie aus ihrer Sinnkrise befreit.
Sogar das hypermoralische, militärisch abgewirtschaftete, ökopazifistisch vergammelte und an Putins Gashahn wie ein Junkie an der Nadel hängende Deutschland reißt sich am Riemen. Noch vor einer Woche hätte man es sich schwerlich vorstellen können, dass deutsche Sozialdemokraten und Grüne einmal gemeinsam für die Aufrüstung der Bundeswehr, für wirksame Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten würden. Genau das ist jetzt geschehen. Putin hat sich verrechnet. Der deutsch-russische Sonderweg geht zu Ende.
Es heißt, Putin habe sich während der Covid-Seuche zurückgezogen und Bücher über die Geschichte Russlands und Europas gelesen. Verstanden hat er sie wohl nicht, denn sonst hätte er wissen müssen, dass die europäischen Völker zusammenrücken, wenn sie bedroht werden. Das haben sie in Lepanto 1571 und am Kahlenberg 1683 getan, im Kampf gegen Napoleon, gegen Hitler und gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg. Und das tun sie jetzt wieder. Im Unterschied zur Annexion der Krim und der Intervention an der Seite der Separatisten in der Ostukraine 2014 geht es jetzt um mehr als um einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität eines Landes mitten in Europa. Putin schickt die russischen Soldaten für eine neue Weltordnung in die Schlacht, die in Wirklichkeit die alte ist – jene vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Der große Kreml-Stratege hätte wissen müssen, dass die Besetzung eines Landes, das der Fläche nach größer ist als Frankreich, mehr erfordert als den Einsatz von 130.000 Soldaten. Leider hat er nicht einmal die Lektion gelernt, die die Afghanen erst der sowjetischen, dann der amerikanischen Armee erteilten. In den ersten Tagen des Krieges haben die Ukrainer gezeigt, dass sie nicht nur willens, sondern auch fähig sind, sich den Invasoren zu widersetzen. Sie kämpfen für ihre Heimat und riskieren dafür ihren Tod. Aber wofür kämpfen die russischen Soldaten? Für wessen Interessen schießen sie auf ihre engsten slawischen Brüder? Putin wird das den Familien erklären müssen, wenn er ihnen ihre Söhne in Leichensäcken restituiert.
Der große Stratege im Kreml dürfte zudem unterschätzt haben, wie sehr die harten Sanktionen des Westens nicht nur die russische Bevölkerung treffen, was ihn natürlich völlig kalt lässt, sondern bald auch die ihm hündisch ergebenen Oligarchen. Je länger der Krieg dauert, desto mehr werden sich die Gegensätze in der russischen Kleptokratie zuspitzen.
Ende der 1990er Jahren entbrannte in Österreich eine Debatte über den Beitritt zur Nato, für den sich diese Zeitung unter Andreas Unterberger besonders einsetzte. Ich war damals stellvertretender Chefredakteur. Als Gusenbauer 2006 auf Schüssel folgte, war das Thema vom Tisch. Nur die FPÖ forderte noch eine Zeit lang den Nato-Beitritt. Tempi passati. Die Initiative war gescheitert, weil die SPÖ die Nato ablehnte und mit den Leitln in der ÖVP Putin umschwärmte. Aber der eigentliche Grund unserer Liebe zur Neutralität liegt darin, dass eine Enklave auf Nato-Territorium die Sicherheit gratis bekommt. Trittbrettfahren ist dafür der falsche Ausdruck. Österreich fährt in der Ersten Klasse. Unmoralisch? Ja, aber sehr komfortabel.
Wie die Dinge jetzt stehen, kommt es nicht auf die formelle Aufgabe der Neutralität an, sondern darauf, den Neutralismus in den Köpfen zu bekämpfen und ohne Wenn und Aber Solidarität mit der Ukraine zu üben. Nehammer und Schallenberg haben sich dafür ausgesprochen, das war nötig. Das neutrale Schweden tut mehr. Es beliefert die Ukraine mit Waffen.   Karl-Peter Schwarz in "Die Presse"



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