Stationen

Dienstag, 1. März 2022

Klüger wäre es, auf Henry Kissinger zu hören

 

Die öffentliche Debatte um die Ukraine dreht sich vor allem um das Thema Konfrontation. Aber wissen wir, auf was wir uns einlassen? Ich habe in meinem Leben vier Kriege erlebt, die mit großer Begeisterung und öffentlicher Unterstützung begonnen wurden. Bei allen wussten wir nicht, wie wir sie beenden sollten und aus dreien haben wir uns einseitig zurückgezogen. Der Test von Politik ist nicht wie sie beginnt, sondern wie sie endet.

Die Ukraine-Frage wird viel zu oft als ein Showdown dargestellt: Geht die Ukraine an den Westen oder an den Osten? Aber um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine Niemandens Vorposten sein. Vielmehr sollte sie eine Brücke zwischen beiden Seiten darstellen.

Was Russland und der Westen jetzt begreifen müssen

Russland muss akzeptieren, dass der Versuch, die Ukraine in eine Satellitenrolle zu zwingen und Russlands Grenzen erneut zu verschieben, nur dazu führen würde, die Geschichte sich selbst verstärkender Kreisläufe wechselseitigen Drucks zwischen Russland und dem Westen zu wiederholen.

Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland nie ein beliebiges fremdes Land sein kann. Russlands Geschichte begann mit der Kiewer Rus. Von hier aus verbreitete sich die russische Religion. Die Ukraine war jahrhundertelang ein Bestandteil Russlands, und die Geschichte der Länder war schon vorher miteinander verknüpft. Einige der wichtigsten Schlachten um Russlands Freiheit – beginnend mit der Schlacht von Poltawa 1709  – wurden auf ukrainischem Boden geschlagen. Die Schwarzmeerflotte – Russlands Mittel zur Einflussnahme im Mittelmeerraum – ist langfristig in Sewastopol auf der Krim stationiert. Selbst so renommierte Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky betonten immer, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil der russischen Geschichte, ja Russlands sei.

Die Ukraine-Frage wird viel zu oft als ein Showdown dargestellt: Geht das  Land an den Westen oder an den Osten? Aber um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine Niemandens Vorposten sein.

Die Europäische Union muss verstehen, dass ihre bürokratische Zögerlichkeit und die Unterordnung der strategischen Dimension unter innenpolitische Erwägungen dazu beigetragen haben, dass aus Verhandlungen über das Verhältnis der Ukraine zu Europa eine Krise wurde. Außenpolitik ist die Kunst, Prioritäten zu setzen.

Das entscheidende Element sind die Ukrainer selbst. Sie leben in einem Land mit komplexer Geschichte und mehrsprachigen Wurzeln. Der westliche Teil wurde 1939 in die Sowjetunion integriert, als Hitler und Stalin die Beute verteilten. Die Krim, deren Bevölkerung zu 60 Prozent aus Russen besteht, wurde erst 1954 Teil der Ukraine, als Nikita Chruschtschow, ein gebürtiger Ukrainer, das Gebiet an die Ukraine gab, als Teil der 300-Jahr-Feierlichkeiten eines Russischen Abkommens mit den Kosaken.

Der Westen ist überwiegend katholischen, der Osten überwiegend russisch-orthodoxen Glaubens. Im Westen wird Ukrainisch, im Osten Russisch gesprochen. Jeder Versuch eines Teils der Ukraine, den anderen zu dominieren - so wie das bisher üblich war – würde langfristig zu einem Bürgerkrieg oder einer Spaltung führen. Die Behandlung der Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation würde für Jahrzehnte jede Aussicht zerstören, Russland und den Westen – vor allem Russland und Europa – in einem kooperativen internationalen System zusammenzubringen.

Die Ukraine ist seit lediglich 23 Jahren unabhängig; davor war sie seit dem 14. Jahrhundert immer unter irgendeiner Form von Fremdherrschaft. Es überrascht nicht, dass ihre Führer die Kunst des Kompromisses nicht gelernt haben, und noch weniger die der historischen Perspektive. Die Politik der Ukraine nach der Unabhängigkeit zeigt, dass die Wurzel des Problems in den Versuchen ukrainischer Entscheidungsträger begründet liegt, widerspenstigen Teilen des Landes ihren Willen aufzuzwingen. Dies geschah erst durch die eine Fraktion, dann durch die andere.

Das ist die Essenz des Konflikts zwischen Viktor Janukowitsch und seiner größten politischen Rivalin Julia Timoschenko. Die beiden repräsentieren zwei Flügel der Ukraine und sind bislang nicht willens gewesen, die Macht zu teilen. Eine kluge US-Politik würde sich jetzt darum bemühen, den beiden Teilen der Ukraine einen Weg aufzuzeigen, wie miteinander kooperiert werden kann. Dabei sollten wir uns um Versöhnung bemühen, und nicht um eine Dominanz einer der Fraktionen.

Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik.

Russland, der Westen und am wenigsten die Gruppierungen in der Ukraine selbst haben bislang nicht nach diesem Prinzip gehandelt. Jeder Akteur hat die Situation nur verschlimmert. Russland ist nicht in der Lage, eine militärische Lösung herbeizuführen, ohne sich in einer Zeit zu isolieren, in der bereits jetzt zahlreiche seiner Grenzen prekär sind. Und für den Westen gilt: Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik. Zugleich sollte Putin ungeachtet seiner Sorgen realisieren, dass eine Politik des militärischen Zwangs  einen neuen Kalten Krieg zur Folge hätte.

Die Vereinigten Staaten ihrerseits müssen vermeiden, Russland als einen Abweichler zu behandeln, dem geduldig von Washington etablierte Verhaltensregeln beigebracht werden müssen. Putin ist ein ernsthafter Stratege - auf Grundlage der russischen Geschichte. Verständnis für amerikanische Werte und US-Psychologie sind nicht gerade seine Stärke. Doch zugleich gilt auch, dass ein Verständnis für russische Geschichte und russische Psychologie nicht gerade zu den Stärken von US-Entscheidungsträgern zählt.

Vier Vorschläge zur Lösung der Krise

Auf allen Seiten sollte die politische Führung nun dazu zurückkehren, nach Ergebnissen zu suchen, anstatt sich in einen Wettbewerb der Posen gegenseitig zu überbieten. Hier sind meine Vorschläge für ein Ergebnis, das mit den Werten und Sicherheitsinteressen aller Seiten kompatibel wäre:

Erstens: Die Ukraine sollte das Recht haben, ihre ökonomische und politische Assoziierung frei zu wählen. Auch mit Europa.

Zweitens: Die Ukraine sollte nicht der NATO beitreten. Dies ist eine Position, die ich auch schon vor sieben Jahren einnahm, als das Thema das letzte Mal aufgekommen ist.

Drittens: Die Ukraine sollte frei sein, jede Regierung zu bilden, die mit dem ausdrücklichen Willen des ukrainischen Volkes kompatibel ist. Eine kluge Führung in Kiew würde dann eine Politik der Versöhnung zwischen den verschiedenen Teilen des Landes umsetzen. International sollte die Ukraine dabei eine Position einnehmen, die etwa mit der von Finnland vergleichbar ist. Finnland lässt keinen Zweifel an seiner leidenschaftlichen Unabhängigkeit und kooperiert in den meisten Gebieten mit dem Westen, aber es vermeidet zugleich vorsichtig jede institutionelle Feindschaft mit Russland.

Es geht jetzt nicht um absolute Zufriedenheit, sondern um ausbalancierte Unzufriedenheit.

Viertens: Eine Annexion der Krim durch Russland ist mit den Regeln der bestehenden Weltordnung inkompatibel. Zugleich sollte es aber möglich sein, die Beziehungen der Krim zur Ukraine auf eine weniger belastete Grundlage zu stellen. Hierfür würde Russland die Souveränität der Ukraine über die Krim anerkennen. Zugleich sollte die Ukraine die Autonomie der Krim verstärken, und zwar in Wahlen, die unter Beteiligung von internationalen Beobachtern durchgeführt werden. In diesem Prozess müssten zugleich jegliche Zweideutigkeiten über den Status der Schwarzmeerflotte in Sewastopol bereinigt werden.

Dies sind Prinzipien, keine Verschreibungen. Beobachter, die mit der Region vertraut sind, werden wissen, dass nicht alle für alle Parteien verdaulich sind. Doch es geht jetzt nicht um absolute Zufriedenheit, sondern um ausbalancierte Unzufriedenheit. Wenn es nicht gelingt, eine Lösung zu erzielen, die auf diesen oder vergleichbaren Elementen beruht, werden wir uns immer schneller auf eine Konfrontation zubewegen. Die Zeit dafür wird schnell genug kommen.   Henry Kissinger

 

Kühles Schamgefühl 

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