Als ich im Sommer 1990 nach Berlin kam, war die Mauer schon gefallen,
die DDR aber noch nicht dem Geltungsbereich des Grundgesetzes, also der
Bundesrepublik in den Grenzen von 1949, beigetreten. Dass dies
passieren würde, war ausgemachte Sache; unter welchen Bedingungen und
Umständen, darüber wurde noch verhandelt. Der erste Arbeiter- und
Bauernstaat auf deutschem Boden, die Deutsche Demokratische Republik,
war noch nicht Geschichte, aber schon ein Fall für die Abwickler. Und in
Berlin, vor allem Ost-Berlin, der Immer-noch-Hauptstadt der DDR, hatte
die Anarchie Einzug gehalten.
Man konnte mit einem westdeutschen Kennzeichen Einbahnstraßen gegen
die vorgeschriebene Richtung befahren, ohne dass ein ostdeutscher
Volkspolizist es gewagt hätte, einen anzuhalten. Für eine D-Mark gab es
auf dem Schwarzmarkt fünf bis zehn Mark der DDR, und so konnte sich
jeder Westberliner einen Besuch in einem der besseren Lokale in
Ostberlin leisten, wie z.B. im „Gastmahl des Meeres“ am Alexanderplatz,
wo zu DDR-Zeiten die Nomenklatura gerne einkehrte.
Jeder Ausflug in den Ostteil der Stadt oder in das Umland war ein
kleines Abenteuer. Man lernte Land und Leute kennen, auch solche, die
den Fall der Mauer nicht als einen Glücksfall der Geschichte, sondern
als eine persönliche Kränkung empfanden. Unvergessen die Kellnerin in
einem volkseigenen Restaurant, die auf die Frage eines Besuchers, ob er
die volkseigene Toilette benutzen dürfe, antwortete: „Heben Sie sich das
mal für zuhause auf.“
Aber auch Westberlin, damals noch nicht Hauptstadt der BRD, hatte
einiges zu bieten. Findige Kleinunternehmer, die Touren durch den
Ostberliner Untergrund organisierten, mit Kaffee und Kuchen bei
SED-Funktionären a.D., Bürgerrechtlern und Stasiopfern – nach Belieben.
Worüber ich am meisten staunte, waren Parolen, die auf vielen
Häuserwänden zu lesen waren: „Nie wieder Deutschland!“ und „Kein 4.
Reich!“ Mit dem Ende der DDR wachte die westdeutsche „Antifa“-Bewegung
aus einem Dämmerschlaf auf, den sie bis dahin nur einmal im Jahr
unterbrach, um bei Ostermärschen gegen Kapitalismus, Kolonialismus,
Imperialismus und Faschismus zu demonstrieren. Nun war der Ernstfall da.
Nicht nur die Wähler der DKP, die Mitglieder der Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes (VVN) und Anhänger anderer Gruppen, die am
Tropf der DDR hingen, trauerten um die DDR, auch bürgerliche
Intellektuelle wie Stefan Heym im Osten und Günter Grass im Westen,
sahen plötzlich das Vierte Reich hinterm Horizont aufziehen.
Heym, der nach dem Krieg als US-Offizier nach Deutschland
zurückgekehrt war, trat als parteiloser Kandidat auf der Liste der PDS,
der Nachfolgepartei der SED, an und gewann ein Direktmandat für den
Bundestag. Grass, ein Freund und Wahlhelfer von Willy Brandt, nannte die
DDR eine „kommode Diktatur“ und befand, die deutsche Teilung müsse als
„Strafe für Auschwitz“ bestehen bleiben. Das tat seinem Ruf als das
„Gewissen der Nation“ keinen Abbruch, erst als viele Jahre später
bekannt wurde, dass er als junger Mann in die Waffen-SS eingetreten war,
bekam das Denkmal, das er zu Lebzeiten geworden war, einige Risse.
Ich lernte damals einen älteren Kollegen kennen, der in der Bonner
Republik zum Stammpersonal des „Frühschoppens“ unter Werner Höfer
gehörte: Johannes Gross, Journalist und Meinungsmacher, Chefredakteur
der Deutschen Welle, Schachspieler und Autor zahlreicher Bücher über
Deutschland und die Deutschen, ein gebildeter, konservativer Liberaler
mit viel Sinn für Absurdes. Eines Tages hörte ich ihn sagen: „Ist es
nicht erstaunlich? Je länger das Dritte Reich tot ist, umso heftiger
wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“
Das ist jetzt 30 Jahre her. Was würde Johannes Gross, der 1999 starb,
heute sagen? Mit dem ihm eigenen Humor vermutlich: „Verdammt, mir wäre
es lieber, ich hätte nicht recht behalten.“
So viel „Antifa“ wie heute gab es noch nie. So viele „Faschisten“ und
„Nazis“ auch nicht. Denn so gut wie jeder, der nicht mit den Ansichten
der „Antifa“ übereinstimmt – „kein Mensch ist illegal“ –, der meint,
dass ein Staat in der Lage sein müsste, seine Grenzen zu schützen, der
die Massenzuwanderung nicht für einen Segen hält und die
Europabegeisterung der kulturellen Eliten nicht teilt, der wird
automatisch zu einem „Nazi“ und „Faschisten“ erklärt.
Der deutsche Staat seinerseits hat den „Kampf gegen rechts“ an
Bürgerinitiativen und NGOs ausgelagert, die sich „tagtäglich für ein
vielfältiges, gewaltfreies und demokratisches Miteinander“ einsetzen.
Im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“ werden so über 100 Millionen
Euro an Subunternehmer ausgeschüttet.
Man könnte auch von einer Arbeitsteilung sprechen. Während die
staatlichen Agenturen „Radikalisierungsprävention“ anbieten und das
„Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“ fördern, entscheidet
die „Antifa“, wer Lesungen und Vorlesungen halten darf.
Thilo Sarrazin steht ebenso auf der Schwarzen Liste wie der Ökonom
und Mitgründer der AfD Bernd Lucke, der die AfD längst verlassen und
sich von ihr distanziert hat. Nicht einmal ein so ein biederer und um
Ausgleich bemühter Politiker wie Thomas de Maizière kann sich noch in
die Öffentlichkeit wagen. Als er vor kurzem im Göttinger Rathaus sein
neues Buch vorstellen wollte, haben linke Aktivisten die Lesung mit
Gewalt verhindert. Der Veranstalter erklärte gegenüber der Lokalzeitung:
„Die Polizei hält es für zu gefährlich, wir müssen uns der Gewalt
beugen.“
Das ist keine Szene aus einem dystopischen Roman, das ist Deutschland
heute. Der Geschäftsführer der hessischen Filmförderung, Hans Joachim
Mendig, wurde gefeuert, nachdem er sich mit dem Vorsitzenden der AfD,
Jörg Meuthen, zu einem Mittagessen getroffen hatte. Über 300
„Filmschaffende“, darunter die bekannte Antifa-Aktivistin Iris Berben,
hatten gedroht, ihre Zusammenarbeit mit der hessischen Filmförderung
einzustellen, das heißt, kein Geld anzunehmen, falls Mendig nicht
gefeuert werde.
Die Liste solcher Fälle und Vorfälle ist lang und wird täglich
länger. Dabei geht es nicht um die alten und die jungen Nazis, die es
tatsächlich gibt und die mit der Parole „Israel ist unser Unglück“ auf
die Straße gehen, was die zuständige Staatsanwaltschaft für unbedenklich
erklärt. Es geht um etwas anderes.
Wenn Leute wie Sarrazin und Lucke, Mendig und de Maizière, ja: auch
Meuthen und Höcke, wenn die alle Nazis und Faschisten sind, was waren
dann die Nazis, die von 1933 bis 1945 Deutschland regiert und halb
Europa verwüstet haben?
Das ist die Frage der Fragen, die im Hintergrund
wabert. Und die durch das empörte Gegacker der Antifa indirekt suggerierte Antwort lautet: Eine ziemlich harmlose Truppe. So wird
das Dritte Reich bagatellisiert, tatsächlich zu einem „Vogelschiss“
runtergestuft. Opa und Oma werden rehabilitiert, der gesellschaftliche
Zusammenhalt gestärkt.
Und so vollendet ausgerechnet die Antifa, was einst der von Wolfgang Menge als "Ekel Alfred" beschriebene Menschenschlag begann: die Verharmlosung des Nationalsozialismus.
Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche
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