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Sonntag, 24. November 2019

Pflichtlektüre


Hauser müsste eigentlich Pflichtlektüre an den Gymnasien sein. Musterbeispiel für gut geschriebene, leicht lesbare, packende Prosa, die dennoch durch die Fußnoten Verzweigungen zu einem ungeheuren Wissensschatz bietet. Seine Sozialgeschichte der Kunst und Literatur schlägt vier Fliegen mit einer Klappe: 1. Überblick über die europäische Literatur (ganz ohne die drögen, lückenhaften und nichtssagenden Pflichtübungen des deutschen Studienplans), 2. damit verflochtener Überblick über die Geschichte der Bildenden Künste in Europa, 3. Einblick in die wissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Grundbedingungen, die künstlerischen Entwicklungen vorausgehen, 4. Einblick in die Philosphie als Geistesgeschichte, die die Entwicklung der Kunst begleitet oder ihr vorausgeht. Das Ganze so spannend und klar geschrieben, dass man es wie einen Roman liest.

Hinzu kommt für den heutigen Leser, dass man sich heutzutage im Netz all das, was Hauser erwähnt hat, auf zahlreichen Farbaufnahmen ansehen kann.

Hausers Abhandlung hat nur zwei Schwächen. Zum einen, dass er die germanische (bzw. skythisch-sarmatische, von den Germanen aufgegriffene und adaptierte) Ornamentik an den Stabkirchen, die später in den keltischen Evangeliarien perfektioniert wurde, nicht auf symbolistische Bedeutungen hin untersucht. Die verschlungenen Bänder und Linien der Evangeliarien - die Hauser als "Nervenimpressionismus" bezeichnet - entstehen gleichzeitig mit einer naturalistischen Dichtkunst in einer Bauernkultur und sind in meinen Augen eine Art geistiges Myzel, eine Mischung aus sulcus exaratus und Wurzelwerk durch welche alles mit allem ineinander verschlungen und verbunden wird. Die Ornamentik der Anfangsbuchstaben in den Bilderhandschriften wirken auf mich wie Bindeglieder zwischen dem Gedankengeflecht und dem Labyrinth der Welt. Die ornamentale Hervorhebung der Anfangsbuchstaben hatte die Funktion, dem Leser bei der Orientierung auf der Suche nach bestimmten Textstellen zu helfen: der Beginn jeder logischen Sektion wurde mit solchen Anfangsbuchstaben gekennzeichnet (die oft in Bildform den Inhalt des Folgetextes zusammenfassten). In diesem Sinne sind auch die Schnörkel des Barock und die wundervollen Muster der "Gotik" (die eigentlich FrankoNormannik heißen müsste und insofern einen arabischen Akzent hat, als sie bereits 400 Jahre zuvor bei Afraganus anklingt) nicht einfach nur Ornamentik, sondern spielerische Sehnsucht nach dem Geflecht des Universums, nach kosmischem Internet, wie es auch in Ernst Jüngers herrlichem Buch "An der Zeitmauer" anklingt.


Vafþrúðnir

Die Geschichte Irlands muss noch erforscht werden. Niemand weiß, wie es kam, dass diese Peripherie Europas viel früher christianisiert wurde als Deutschland (das von Nachkommen dieser Iren bekehrt wurde). Bertrand Russel vermutete, dass Irland seine Entwicklung gebildeten Galliern verdankt, die dort auf der Flucht vor Attila ins Exil gingen.


Später taucht diese Ornamentik wieder bei Leonardo Da Vinci mit sehr explizitem Symbolismus in der Sala delle Asse auf. Ob er wohl longobardische Flechtornamentik gesehen hatte?






Die zweite Schwäche betrifft Hausers offensichtliche Verlegenheit, in die ihn sein eigener Interpretationsschlüssel letztendlich bringt. Er hält die Anwendung seiner Deutungskriterien durch alle Epochen hin mit durchaus plausiblen Überlegungen durch, von der prähistorischen Höhlenmalerei bis zum Barock. Aber dort, wo diese Deutungsmuster sich entweder selber widerlegen würden oder die Französische Revolution und alles, was danach zur Demokratisierung Europas beitrug, in Frage stellen würde, endet seine Betrachtung: je nach Temperament des Lesers endet sie schlicht, einfach, kommentarlos, betreten oder kaltschnäuzig. Beim Barock ist jedenfalls Schluss. "Die Aufklärung hat den Himmel verdunkelt." sagte Heidegger. Hauser schrieb nicht über dieses Dunkel. Er beschrieb aus diesem Dunkel heraus rückblickend alles Vorherige, was Glanz hatte. Es hatte alles Glanz! Er rückte es nicht ins Licht, er betrachtete selbst im Dunkel sitzend, was noch Glanz besaß. Alles, was nach dem Barock entstand, passt nicht mehr zu Hausers dichotomischem Prinzip. Mozart ist der letzte Glanz, aber bereits Teil der Age of Enlightenment. Mit Beethoven beginnt die Ahnung der Katastrophe, mit Schönberg wird die Katastrophe, in der Hauser sich befand (und in deren Gefangene wir immer noch sind) perfekt.

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