Stationen

Sonntag, 3. November 2019

Merkels Mittelalter Reenactment

Dem Sprichwort "Willst du gelten, mach dich selten" gemäß äußert sich die Kanzlerin zum deutschen Hier und Jetzt fast nie, zur jüngeren Vergangenheit erst recht nicht. Ihren Parteimitgliedern klingt noch die Mahnung im Ohr, keine Zeit mit Gedanken zu verplempern, was seit 2015 falsch gelaufen sein könnte. Deshalb spitzte man neugierig die Ohren, als sie kürzlich Spiegel Online eines ihrer seltenen Interviews gewährte und dort ihre Meinung zur Meinungsfreiheitsdebatte mitteilte.




Im gleichen Interview meint Merkel, natürlich solle der kürzlich an der Universität Hamburg niedergeschriene Bernd Lucke seine Vorlesungen halten: „Das muss der Staat notfalls durchsetzen“.
Nun muss jemand - zumal als führende Repräsentantin des Staates - schon „das Gemüt eines Dreschflegels“ (Eckard Henscheid) besitzen, wenn er nicht merken will, dass die Meinungsfreiheit von Bernd Lucke und anderen ähnlich niedergebrüllten Leuten praktisch schon ausgesetzt ist, wenn sie - wie Roberto Saviano oder Salmon Rushdy - nur noch unter Polizeischutz öffentlich reden können.

Merkel stellt sich dumm, um die dreiste Ansicht, Meinungsfreiheit bestehe in der formalen Möglichkeit, alles zu sagen, zu einer Art allererstem Gebot eines Endekalogs zu erklären, auf der sie als dickfellige Hohepriesterin ihre gottlose Theokratie gründet. Notfalls wird Bernd Lucke via Staatsgewalt gezwungen, freiwillig öffentlich alles zu sagen, damit ja niemand versäumt, ihn daraufhin mit gepfefferter Scheiße zu bewerfen.

Im Umkehrschluss, stünde es nach Merkels Ansicht um die Meinungsfreiheit erst dann für jemanden kritisch, wenn er stumm oder tot ist.

Alles sagen konnte im Prinzip auch jeder DDR-Bürger und jedweder Insasse einer Diktatur, gemäß dem Bonmot von Idi Amin: „There is freedom of speech, but I cannot guarantee freedom after speech.“ Es kommt also darauf an, ob Meinungen in einer Gesellschaft zu Bedingungen ausgetauscht werden können, die für Anhänger regierungsnaher Doktrinen prinzipiell nicht anders sind als für diejenigen, die sie nicht teilen.
In der DDR stand das Recht auf freie Meinungsäußerung übrigens in der Verfassung. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie auch Merkel so am Herzen liegt.

Mehr Beachtung verdient der zweite Teil der merkelschen Ausführungen im Spiegel: „Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein“, für diesen Merkelsatz gilt wie für viele ihrer Hervorbringungen, dass schon die einmalige Lektüre quälend ist, man aber zweimal lesen muss, um überhaupt zu begreifen, was sie eigentlich meint.

Im normalen Sprachgebrauch bedeutet „widerspruchsfrei“ schließlich "frei von Widersprüchen", also dass eine Argumentation oder These sich nicht selbst widerspricht, keine widersprüchlichen Aussagen enthält.
Aber Merkel wäre nicht Merkel, wenn sie die Dinge nicht auf den Kopf stellte, um gegen sie gerichtete Spieße umzudrehen. Sie meint mit Widerspruchsfreiheit die Freiheit zu widersprechen (also eigentlich genau das, was Bernd Lucke seit 2013 mit großem Aufwand ihr gegenüber immer wieder getan hat und weiterhin tut, nur leider zusehnds kleinlauter...).
Man müsse, meint Merkel (an die, die ihr widersprechen, gerichtet) eben auch „damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen“, man müsse „Nachfragen auch aushalten“.

Tatsächlich, wer eine Meinung vorträgt, muss mit Nachfragen rechnen, falls er nicht gerade Angela Merkel heißt und mit einem faden, jeglichen Pfeffers entbehrenden Spiegel-Redakteursduo plaudert. Letzteres hätte nämlich per Nachfrage erforschen können, 1. welcher Teilnehmer an der öffentlichen Debatte denn nach Merkels Ansicht nicht mit Gegenargumenten rechnet, 2. wo jemals einer ihrer Kritiker eines Gegenarguments gewürdigt worden sei und 3. wo je ein gepfeffertes Gegenargument an die Adresse von Merkels Kritikern artikuliert worden sei.

Das so genannte Narrativ*, wer auf die eingeschränkte Meinungsfreiheit hinweise, vertrüge in Wirklichkeit nur keine Gegenmeinung, ist in der Meinungsfreiheitsdebatte die Mutti aller Strohmannargumente.
Kein Bernd Lucke, kein Jörg Baberowski, kein Uwe Tellkamp, kein Norbert Bolz, keine Monika Maron und auch sonst weit und breit kein Diskutant unter den üblichen Verdächtigten hat je verlangt, von Gegenargumenten verschont zu werden. Im Gegenteil, oft bitten sie sogar ausdrücklich um gescheite Widerworte, und meist vergeblich. Was den Autor dieses Textes betrifft: Auch ich erwarte die Argumente der anderen dringend, die gepfefferten schätze ich besonders, denn ich möchte nicht gern in die Lage von Talleyrand kommen, von dem es heißt, er wäre bei der Lektüre eines gegen ihn gerichteten Pasquills eingeschlafen.

Die Behauptung, ausgerechnet diejenigen, die von Meinungskorridor sprechen, verwechselten Meinungsfreiheit mit ihrem offenbar heimlichen, da ja nirgends öffentlich geäußerten Wunsch, keine Widerworte ertragen zu müssen, vertritt Merkel nicht exklusiv. Es handelt sich um eine Copy-and-Paste-Diskursstanze mit mittlerweile hoher Seriennummer. So simulierte schon vor einiger Zeit Kai Unzicker, Leiter des Bertelsmann-Stiftung-Projekts „Vielfalt leben - Gesellschaft gestalten“ in seinem Blogtext die Geste des Türeinrennens auf freiem Feld: „Aber vielleicht liegt bei denen, die sich sorgen, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen, auch nur ein Missverständnis vor. Meinungsfreiheit heißt lediglich, frei zu sein die eigene Meinung sagen zu dürfen. Sie bedeutet nicht, dass diese ohne Kritik und ohne Widerspruch stehen bleiben muss.
In ihrer Broschüre „Demokratie in Gefahr“ geben die Autoren der Amadeu-Antonio-Stiftung unter dem Stichwort „Klare Kante – Klare Erklärung“ den Rat für die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten: „Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Widerspruchsfreiheit deutlich machen“. Immerhin verwenden sie den Begriff „Widerspruchsfreiheit“ anders als Merkel halbwegs korrekt als „frei von Widerspruch“.
Der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung Roland Löffler belehrt, Meinungsfreiheit „bedeutet auch keinen Anspruch auf Zustimmung oder gar den Schutz vor Kritik“.

Merkel, Unzicker, die Kahane-Mitarbeiter, Löffler, die unabhängig voneinander unisono das Selbe sagen, haben ganz bestimmte Leute im Blick: Merkels Kritiker, diejenigen, die es wagen, Merkel zu widersprechen. Und da Merkel, Unzicker, Kahanes Meute und Löffler keine Sachargumente einfallen, versuchen sie diese kritischen Gegenstimmen durch eine Unterstellung abzuwehren und abzuwerten: sie unterstellen Merkels Kritikern - nachdem diese geschmäht, dämonisiert, geächtet, niedergebrüllt, tätlich angegriffen, durch Sachbeschädigungen wie Autos abfackeln und Ziegelstein in Kinderzimmer werfen eingeschüchtert wurden, die Forderung, "vor Kritik geschützt zu werden" und "Zustimmung garantiert zu bekommen". Nennen allerdings keinen einzigen, der je diese Forderung erhoben hätte.

Was Merkels Kritiker fordern, ist etwas ganz anderes, nämlich dass man ihnen mit Sachargumenten widerspricht und sie mit dem verschont, was bisher statt Sachargumenten ins Feld geführt wurde: einen Professor niederzuschreien, durch Blockade eine Lesung zu verhindern, Veranstaltungsgäste und Diskussionspartner wieder auszuladen. Absichtsvoll Zitate zu fälschen und ihr Gegenteil zu verdrehen, wie es linke Stimmungsmacher seit Jahren bei dem Historiker Jörg Baberowski tun, und wie es ein Kartell von Manipulateuren lange gegen die Publizistin Seyran Ates verfolgte, bis ein Gericht dem Treiben ein Ende setzte.
Es ist auch kein Sachargument und kein fairer Meinungswettbewerb, wenn Löschtrupps im Facebook-Auftrag und mit Wohlwollen von Heiko Maas und Angela Merkel immer wieder Postings löschen, die in keiner Weise gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, und zwar in rechtswidriger Weise löschen, wie es Gerichte dem Konzern zum Glück immer wieder bescheinigen. Es ist kein Widersprechen und Diskutieren, Diskussionen niederzuschreien, Bücher zu stehlen und zu zerreißen, wie es linke Trupps auf der Frankfurter Buchmesse gegen so genannte rechte Verlage praktizierten. Und es ist auch kein Widerspruch – höchstens gegen das eigene Credo – wenn die Leitung der Frankfurter Buchmesse zwar von Vielfalt und Debatte spricht, dann aber in der Buchmesse 2019 drei rechte Verlage in eine Sackgasse weit abseits des Gedränges platziert, damit sie möglichst von wenigen aufgesucht werden.
Und wenn der Chef der Hessischen Filmförderung auf Druck linker Filmsubventionsempfänger wegen eines Mittagessens mit dem AfD-Vorsitzenden entlassen wird, dann behauptet hoffentlich noch nicht einmal der strammste Vertreter des spätmerkelistischen Byzantinismus, hier ginge es um Diskurs, und so viel Widerspruch müsse der Betroffene in einer Demokratie eben aushalten.



Interessanterweise hätten die beiden Spiegel-Mitarbeiter, die brav die Antworten Merkels aufzeichneten, in ihrem eigenen Blatt gerade erst nachlesen können, wie linke Jakobinchen an der Hamburger Uni nach einem offenbar für sie frustrierenden Gespräch mit Bernd Lucke erklärten, sie seien zu keinen weiteren Gesprächen mit dem Professor bereit, der sei nämlich talkshowerfahren und habe ihnen „rhetorische Fallen gestellt“. Zu deutsch: Er hatte Argumente. Vielleicht hatten die Studenten bemerkt, dass es die eine Sache ist, fünfzigmal hintereinander „es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“ zu skandieren, und die andere, auch nur drei Sätze zu sagen, die sich argumentativ auf den Diskussionsgegner beziehen.
An der Berliner Humboldtuniversität lehnten ultralinke Studentenvertreter, die dort gegen Baberowski polemisieren, vor kurzem ein von der Universitätsleitung vorgeschlagenes Vermittlungsgespräch ab.
Als die Leiterin des Forschungsinstituts Globaler Islam der Universität Frankfurt Susanne Schröter kürzlich eine kontrovers besetzte Konferenz zur politischen Bedeutung des Kopftuchs organisierte, standen linksradikale Studenten zusammen mit muslimischen Aktivisten draußen, skandierten Parolen und weigerten sich auch nach der ausdrücklichen Einladung Alice Schwarzers, in die Veranstaltung zu kommen und mitzudiskutieren. Ihr Ziel bestand darin, die Veranstaltung zu verhindern, ihre Parole lautete „Schröter raus“.


Wo geht es eigentlich zu jenem Streit, zu dem der Bundespräsident ständig ermuntert, zu den gepfefferten Argumenten, die Merkel für eine gute Sache hält? Wo finden die öffentlichen Debatten statt, in denen Diskussionspartner einander nicht schonen, und jeder möglicherweise etwas auszuhalten hat? Wo gibt es Debatten, wie sie die Kanzlerin, der Bertelsmann-Wissenschaftler Unzicker und der politische Bildungsarbeiter Löffler als idealtypisch beschreiben?

In Universitäten immer weniger; dort setzt sich gerade die aus den USA stammende Idee der ‚safe spaces’ durch, also Räumen, in denen mit linker Identitätspolitik aufgeladene Studenten sich wechselseitig in ihrer Sicht auf alte weiße Männer, Postkolonialismus, Kapitalismus und Gender bestätigen, während jeder draußen bleiben muss, von dem auch nur die abstrakte Gefahr eines Widerworts droht. Von universitären Linksaktivisten geht auch die aus den USA stammende Bewegung des „de-platforming“ aus, die sich erklärtermaßen darauf richtet, Diskussionen zu verhindern, in denen, wie es dann heißt, den falschen Personen „eine Plattform geboten wird“.
Findet der funkensprühende Streit auf dem Evangelischen Kirchentag statt? Der Präsident des letzten Kirchentages, der langjährige Redakteur der Süddeutschen Hans Leyendecker hatte schon bei Veranstaltungsbeginn verkündete, er habe Politiker fast aller Parteien eingeladen, nicht aber welche der AfD. Bei der Kitsch-und-Krempel-Messe der EKD gab es auch sonst kaum ein Podium, auf dem auch nur als Minderheitsposition Verfechter von konservativen, libertären oder nicht klimaarlarmistischen Haltungen saßen.
In den Foren der staatlich geförderten Kulturinstitutionen kommen genau so wenig gepfefferte wie ungewürzte Streitbeiträge vor, nämlich gar keine. Im Oktober 2019 fanden sich im „Herbstsalon“ des Gorki-Theaters die üblichen Figuren zu der „diskursiven Intervention“ namens „De-heimatize Belonging“ zusammen, um, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, einander in einer Art Potlatsch über die „Verbindungen von Kolonialismus, Rassismus, Sexismus, Kapitalismus und ‚Heimat’“ zu unterrichten, wobei Heimat natürlich nur streng in Tüttelchen gesetzt vorkam, weil es sich schließlich um einen toxischen, ausgrenzenden, nationalistischen Begriff handelt. Natürlich gab es in der „diskursiven Intervention“ keine diskursive Intervention und keinen Teilnehmer auf der Bühne, der einen irgendwie positiven Begriff von Heimat gehabt hätte.

Praktisch alle Veranstaltungen der offiziösen Kulturszene funktionieren nach dem Muster, dass Teilnehmer mit nahezu identischen Ansichten fast identische Statements in ein Auditorium sprechen, das praktisch komplett ihrer Meinung ist. Um den bayerischen Philosophen Karl Valentin zu bemühen: „Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht.“

Was auch für das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland gilt. Talkshows sind schon deshalb von vorn herein nicht auf Streit angelegt mit ihren Talkmastern und -Maitressen, die den Einzelnen die Wortmeldungen zuteilen und streng darauf achten, dass, wenn einmal jemand rechts der Demarkationslinie eingeladen ist, sich vier oder fünf auf der anderen befinden.
Und selbst diese herabgedimmte Form finden viele Diskurssittenwächter schädlich. Im vergangenen Jahr meldet sich ein öffentlich bis dahin weitgehend unbekannter Kulturrat mit der Forderungen, Talkshows eine einjährige Sendepause zu verordnen, in denen sie ihr Konzept zu „überarbeiten“ hätten. Begründung: Es würde dort zu viel über Migration und Islam debattiert.
Um auf Merkel zurückzukommen: Wenn sie gepfefferte Argumente und Widerspruch für selbstverständlich hält, dann stellt sich die Frage, warum sie sich grundsätzlich zu Anne Will ins Fernsehen begibt, wenn sie wieder einmal meint, die politische Luft für sie als Kanzlerin werde für sie dünn, warum sie also nur dorthin geht, wo ihr zuverlässig ein mediales Schaumbad eingelassen wird.
Und gibt es eigentlich aus den letzten Jahren irgendein Print-Interview mit Merkel, das Steffen Seibert mit ihr nicht so ähnlich geführt hätte? Wie man in Berlin hört, ist genau das Bedingung für eine Journalistenaudienz im Kanzleramt.
Bevor sich Merkel 2017 auf ein Fernsehduell mit dem ohnehin schwachen Herausforderer Martin Schulz eingelassen hatte, schickte sie erst mal ihre Leute aus, um die Modalitäten so festzuzurren, dass der arme SPD-Mann praktisch keine Chance zur direkten Attacke bekam. Sollten sich die Sender nicht darauf einlassen, so ihre Drohung, dann komme sie eben nicht.

Auf den Wink der Merkeltruppe lud das ZDF vor einer TV-Fragerunde mit Zuschauern ein Opfer des Terroranschlags vom Breitscheidplatz wieder aus. In Ländern mit einer intakten demokratischen Öffentlichkeit hätte das zum Sturz des Intendanten und zur Abwahl der Kanzlerin führen müssen. In Deutschland wird es immer mehr zur Normalität.
Bei der Gelegenheit lohnt es sich, noch einmal die ZDF-Sendung „Klartext, Frau Merkel“ von 2017 anzusehen. Kurz vor der Bundestagswahl 2017 konfrontiert sie dort eine Frau im Publikum mit einer Statistik des bayerischen Innenministeriums, nach der die Zahl der schweren Sexualstraftaten innerhalb eines Jahres um 48 Prozent gestiegen war, und diese Steigerung zu 91 Prozent auf die Kriminalität von Zuwanderern zurückzuführen war. Die Zuschauerin wollte von der Kanzlerin wissen, ob sie die massenhafte Einwanderung von jungen Männern mit einem archaischen Frauenbild nicht für problematisch halte.
Es handelte sich bei dieser Vorhaltung noch nicht einmal um ein leicht gepfeffertes Argument, sondern nur um Zahlen, die auch Merkel schlecht bestreiten konnte. Trotzdem – und es ist gut, dass sich das Video noch in den Archiven findet – schaffte es Merkel in etwa anderthalb Minuten, an der Frage vorbeizureden, der Fragerin zu unterstellen, sie hätte einen „Generalverdacht“ gegen alle Einwanderer geäußert und etwas „insinuiert“, um die Frau dann indigniert herunterzuputzen, kurzum, sie erklärte nicht die Kriminalitätsentwicklung zum Problem, sondern die Fragestellerin. Legendär wurde dabei Merkels Satz: „Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt“. Dazu behauptete sie, wer als Migrant straffällig würde, müsse Deutschland verlassen, „das haben wir gesetzlich geregelt“. Was normativ stimmt, deskriptiv allerdings nicht, wie sie selbst sehr gut weiß.

Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn eine Politikerin, die ihre Politik ungern erklärt und noch weniger zur offenen Diskussion neigt, im 14. Jahr regiert. Merkel hat Deutschland bis in tiefe Schichten hinein geprägt, viel tiefer als Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Zwischen ihr und dem kulturell tonangebenden Milieu gibt es eine untergründige Allianz. Beide wissen
ziemlich gut: In öffentlichen Debatten, die zu halbwegs gleichen Bedingungen stattfänden, hätten sie wenig zu gewinnen. Ihre Beschreibung ungenannter Kräfte, die mit Widerspruch schlecht umgehen können und autoritär auf Zustimmung pochen, läuft auf ein lupenreines Selbstporträt hinaus.

Merkels Wort von den gepfefferten Argumenten, von den Zumutungen, ohne die keine Debatte stattfinden kann – das muss als unbewusste Verheißung für später gelesen werden. Mit ihrer Regierung wird hoffentlich auch die Ära ablaufen, in der Streit als gesellschaftsgefährdender Vorgang gilt.
Falls sie widersprechen möchte, kann sie sich gern zur Sache melden, wie einst Andreotti, der immerhin auf Pasolinis Leitartikeln mit Gegenleitartikeln antwortete (und heute noch aus ihnen zitiert wird).  Alexander Wendt  (gekürzt, leicht abgewandelt und erweitert)


* Im amerikanischen Jugendslang wird „narrative“ mittlerweile als Synonym für ‚Betrug’ gebraucht.

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