Stationen

Donnerstag, 19. August 2021

Bestandsaufnahme August 2021

 Als im Jahr 1894 in Frankreich der Generalstabsoffizier Alfred Dreyfuss wegen Geheimnisverrats zur Höchststrafe, zu Degradierung, lebenslanger Haft und Verbannung in einer überseeischen Strafkolonie verurteilt worden war, stieß die auffällige Rechtsbeugung, die zu diesem Urteil geführt hatte, in Deutschlands wilhelminischer Öffentlichkeit auf Ablehnung. Gerade das deutsche Kaiserreich von 1871 brachte es zu einer stupenden Liberalität des öffentlichen Diskurses.

„Dass überhaupt eine Figur wie der Untertan thematisiert wurde,
belegt eine Freiheit, von der man heute nur träumen kann“

Für die Liberalität und die Pluralität der öffentlichen Debatte sprach auch das – im krassen Gegensatz zu heute – hohe Niveau der Satire-Attacken auf die Regierenden, wie sie Kabaretts wie das „Überbrettl“ oder Zeitschriften wie der „Simplicissimus“ wagten. „Überbrettl“ und „Simplicissimus“ würden heute als „rechts“ verschrien und gecancelt. Auch sucht man in der deutschen Literaturlandschaft vergebens nach einem so durch und durch satirischen Roman wie Heinrich Manns „Der Untertan“.

Gerade dieser Roman zeigt im Gegensatz zum Klischee, welch hohes Niveau der Diskurs im Kaiserreich erreichte. Dass überhaupt eine Figur wie der Untertan thematisiert wurde, belegt eine Freiheit, von der man heute nur träumen kann, zumal Heinrich Manns „Untertan“ kein Solitär war, denkt man nur an den „Hauptmann von Köpenick“. Über die Tat des „Hauptmanns von Köpenick“ soll selbst Kaiser Wilhelm II. unter Lachen gesagt haben: Da kann man sehen, was Disziplin heißt. Kein Volk der Erde macht uns das nach! Heinrich Manns Roman belegt zudem die hohe Fähigkeit zur Selbstironie. Es ist nicht auszuschließen, dass es auch in anderen Ländern, in anderen Völkern und auch zu anderen Zeiten, so etwas wie Untertanengeist gab und gibt, doch zumindest den deutschen hat Mann glänzend in seiner Satire karikiert.

Josef Kraus ist in seinem jüngsten Buch angeregt von Heinrich Mann der Figur des Untertans in Deutschland nachgegangen, hat Belege gesammelt und nach der Kontinuität seiner Haltung gefragt. Nicht umsonst wird wieder gefordert, Haltung zu zeigen. Diese Forderung erinnert an die ironische Bemerkung eines alten Schauspielers, der den Begriff der Haltung mit dem Diktum kommentierte: Nur Gartenzwerge haben Haltungen.

Die Geschichte des deutschen Untertanengeists lässt Josef Kraus in der frühen Neuzeit mit der Reformation beginnen, die er ein wenig zu marxistisch liest. Luthers Agieren im Bauernkrieg ist komplexer, als seine zweite Bauernkriegsschrift es ahnen lässt und der Vorwurf des Antisemitismus geht aus mehreren Gründen am Denken und Schreiben des Reformators vorbei. Luthers Zwei-Regimente-Lehre stellt auch nach 500 Jahren noch die härteste Kritik an der Politisierung der evangelischen Kirche dar. Seine Warnung an die Regierenden hat kein Körnchen Staub angesetzt: „Das wollen wir so klar machen, dass man's mit Händen greifen solle, auf dass unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben.“

Und mit Blick auf ihre Untertanen schreibt Luther bereits 1523: „Denn wie streng sie gebieten und wie sehr sie loben, so können sie die Leute nicht weiter nötigen, als dass sie ihnen mit dem Mund und mit der Hand folgen; das Herz können sie ja nicht zwingen, und wenn sie sich zerreißen sollten.“ Er geht sogar so weit, dass die von ihm zutiefst verabscheuten Ketzer nicht mit Feuer und Schwert zu bekämpfen seien, sondern dass man sich mit ihnen rein argumentativ auseinanderzusetzen hat. Andere Meinungen zu kriminalisieren und mit staatlichen Repressionen zu begegnen, hält Martin Luther nicht nur für Gotteslästerung, sondern er zeigt sich felsenfest davon überzeugt, dass diese Repressalien auf ihre Hervorbringer, die für ihn Gotteslästerer sind, zurückfallen werden, denn „sie treiben damit die schwachen Gewissen mit Gewalt dazu, zu lügen, zu verleugnen und anders zu reden, als sie es im Herzen meinen, und beladen sich selbst so mit gräulichen fremden Sünden. Denn alle die Lügen und falschen Bekenntnisse, die solch schwache Gewissen tun, fallen zurück auf den, der sie erzwinget.“

Und der Reformator folgert daraus: „Es wäre jedenfalls viel leichter, wenn ihre Untertanen schon irreten, dass sie sie schlechthin irren ließen, als dass sie sie zur Lüge und anders zu sagen nötigen, als sie es im Herzen haben. Es ist auch nicht recht, dass man Bösem mit Ärgerem wehren will.“ Luther verteidigt die Freiheit der Sprache, wie auch Josef Kraus in seinem lesenswerten Buch, eine Freiheit, die heute durch den Genderismus zerstört werden soll. Im Sendbrief vom Dolmetschen schrieb Luther: „Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man deutsch reden soll, wie diese Esel tun; sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den Mann auf dem Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach übersetzen, so verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“ Man muss auch nicht die Politiker und Ideologen fragen, denn die Sprache gehört allen, die sie sprechen. Zu Recht und mit guten Argumenten prangert Josef Kraus den Versuch an, aus der deutschen Sprache durch Sprachzensur eine Untertanensprache zu machen.

 

 

  

Profund und gründlich zeigt Kraus in vier Kapiteln, wie ein neuer Zeitgeist nicht mehr den kritischen Bürger, sondern den unreflektiert Folgsamen zum Leitbild erhebt, der willig den „Interpretationseliten“ und „unseren Wahrheitssystemen“ folgt. Wenn selbst in der F.A.Z. ein Steinmeier-Biograf die Figur des mündigen Bürgers als „AFD-Sprache“ denunziert, dann belegt das die Notwendigkeit, Kants mündigen Bürger als Leitbild einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft zu verteidigen. Denn das Gegenteil vom Untertan ist der aufgeklärte Bürger, der den Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen.

Im fünften Kapitel empfiehlt Josef Kraus zur Überwindung des deutschen Untertans einen neuen Mut, selbstständig und kritisch zu denken, wozu es einer umfassenden Bildung bedarf. Kritikfähigkeit setzt Bildung voraus. So ist es kein Zufall, wenn seit Jahren, wie Kraus aus eigener Erfahrung und eigener Anschauung beschreibt, Bildungsverlust staatlich betrieben wird.   Tagespost

 

Es gibt viele Fotos von Gerhard Schindler vor dem Gebäude des Bundesnachrichtendienstes in Pullach bei München und dem Neubau in Berlin. So, wie sich der BND-Präsident dort ins Bild setzte – schmaler Mund, konzentrierter Blick, Andeutung eines angedeuteten Lächelns – erinnert er etwas an John le Carrés Spion George Smiley beziehungsweise dessen Filmverkörperung Alec Guinness. Der Geheimdienstler a. D. in dem Restaurant am Potsdamer Platz, in dem wir uns schon einige Zeit vor dem Fall Kabuls trafen, wirkt entspannter als auf den offiziellen Bilder. An dem Achtundsechzigjährigen im hellen Sommeranzug fällt der federnde Gang auf, wie ihn viele Profisportler und Elitesoldaten bis ins Alter beibehalten.

Wir wollen über die Frage sprechen, wie eine Behörde arbeitet, die von Deutschland aus spionieren, überwachen, den Mail- und Telefonverkehr ausfiltern, vor gefährlichen Entwicklungen im Ausland warnen soll – deren Mitarbeiter aber immer weniger klassisches Smiley-Handwerk anwenden dürfen. Für das Thema gibt es kaum einen besseren Fachmann als Gerhard Schindler. Fast sein ganzes Berufsleben verbrachte er im Sicherheitsapparat. Nach seiner Armeezeit als Fallschirmjäger ging er zum Bundesgrenzschutz, arbeitete als Referatsleiter im Inlandsgeheimdienst, als Unterabteilungsleiter für Terrorismusbekämpfung im Innenministerium, als Chef der Abteilung öffentliche Sicherheit und schließlich als Präsident des Bundesnachrichtendienstes, einer Superbehörde mit 6500 Mitarbeitern und gut einer Milliarde Euro Jahresetat.

Im Jahr 2016 schickte Kanzlerin Angela Merkel Schindler gegen dessen Willen in den Ruhestand. Dafür gab es mehrere Gründe. Vor allem den, dass er ihre Migrationspolitik offen kritisierte. Er hält es bis heute für falsch, hunderttausende junge Männer aus allen Kriegs- und Krisengebieten der Welt nach Deutschland zu holen, ohne zu wissen, wer eigentlich kommt. Und ohne funktionierende Abschiebung. Vielleicht liegt es auch an seiner Art zu sprechen. Die Berlin-Mitte-Sprache kommt bei ihm nicht vor, also lange relativierende Einschübe und Rückversicherungen, die jede halbwegs deutliche Aussage gleich wieder verschlucken.

Im Oktober 2020 erschien Schindlers Buch: „Wer hat Angst vorm BND?“, ein Ersatz für die Memoiren, die er eigentlich verfassen wollte. Deren Manuskript lag länger als ein Jahr zur Prüfung im Kanzleramt. Anfang 2020 untersagte ihm der Kanzleramtschef die meisten Passagen. Wozu, fragt der oberste Agent in dem Debattenbuch rhetorisch, das er stattdessen schrieb, braucht Deutschland noch seinen Auslandsgeheimdienst, wenn ihm Politiker und Richter immer weniger erlauben? Wäre es dann nicht ehrlicher, die teure Behörde einfach aufzulösen?

Als „Wer hat Angst vorm BND?“ schon im Druck war, entschied das Bundesverfassungsgericht, der BND dürfe im Ausland nicht mehr so einfach abhören. Nach Ansicht der Karlsruher Richter gilt jeder der sieben Milliarden Menschen weltweit als Grundrechtsträger, der vor deutschen Gerichten dagegen klagen kann, dass der Dienst aus Berlin sein Telefon anzapft. Auch dann, wenn er damit von Afghanistan aus eine Terrorzelle in Europa steuert. Eine flächendeckende Telekommunikationsüberwachung, wie sie ein westlicher Geheimdienst typischerweise in einem Land wie Afghanistan durchführt, kann es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gar nicht mehr geben. Und ein gezieltes Abhören nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen, aber, siehe oben, mit großzügigen Klagemöglichkeiten. Bis Ende 2021 soll der Bundesnachrichtendienst diese Vorgaben vollständig umgesetzt haben.

Im Inland darf der Bundesnachrichtendienst sowieso nicht operieren. Und deutsche Staatsbürger generell nicht überwachen, auch dann nicht, wenn sie in einem Ausbildungscamp des IS Anschläge trainieren. Wenn auch noch das Lauschen im Ausland praktisch unmöglich wird – was kann die Riesenbehörde in ihrem teuren Berliner Neubau dann überhaupt noch tun?

Als er mit Parlamentsabgeordneten diskutiert habe, sagt Schindler, sei ihm nach und nach immer deutlich geworden, wie sehr sich deren Verständnis von Geheimdienstpraxis mittlerweile von all dem unterscheidet, was für professionelle Spione eine Selbstverständlichkeit ist.

Parlamentarier, erzählt er, hätten ihn in Hintergrundgesprächen ab und zu gefragt: Aber der Bundesnachrichtendienst hält sich doch an das Recht, oder? „Nein“, sagte Schindler dann, „wenn wir im Ausland arbeiten, brechen wir natürlich Gesetze, die dort gelten. Wir hören ab. Wir bestechen, um an Informationen zu kommen.“ Dann sei die Reaktion oft gewesen: Aber das können sie doch nicht so offen sagen.
„Ja, soll ich’s denn heimlich sagen?“, fragte Schindler zurück.

Die lange in Berlin und überall in der Welt akzeptierte Tatsache, dass Soldaten töten und Spione spionieren, empfinden heute viele deutsche Politiker und Journalisten als Skandal.

Die Grenzen für die deutsche Spionage, meint Schindler, seien schon vor dem Urteil sehr viel enger gewesen als für andere westliche Dienste. „Wir können die Telekommunikation von Rakka nach Damaskus überwachen“, sagt Schindler. Rakka – das war einmal die Hauptstadt des Islamischen Staates. „Aber eben nicht die von Rakka oder von Damaskus nach Stuttgart.“ Das ginge nur, wenn der Nachrichtendienst schon den Namen und den Hintergrund der Zielperson kennt. „Wenn ich aber schon weiß, dass der dort ein Terrorist ist, der Anschläge plant“, er zeigt auf einen Mann am Nebentisch, „dann könnte ich den Fall an die Polizei abgeben.“

Die Arbeit eines Nachrichtendienstes besteht darin, erst einmal überhaupt auf Namen und Zusammenhänge zu stoßen, also Signale aus dem großen Rauschen zu filtern. Der amerikanische Autor Malcolm Gladwell beschrieb das Problem der Dienste auf luzide Weise in seinem Essay „Verbinde die Punkte“, in dem er aufführt, wie viel die israelischen Geheimdienstler schon vor dem Jom-Kippur-Krieg über einen arabischen Angriff wussten und die US-Sicherheitsbehörden vor dem 11. September über die künftigen Attentäter. Um dann zu fragen: „Es gab ein Muster, das im Rückblick sonnenklar erscheint. War dieses Muster auch vor dem Angriff erkennbar?“ Seine Antwort: Das Muster lässt sich meist erst nach dem Ereignis erkennen.
Aber um überhaupt schon vorher einzelne Punkte zu erkennen, verbunden oder nicht, muss jemand wenigstens viel von dem Rauschen abfangen, um es dann mühsam zu filtern.

Dass die Politik dem Geheimdienst in der Bundesrepublik dafür die Grenzen enger und enger zieht, führt zu einem Paradox: Ausländische Geheimdienste überwachen in Deutschland die grenzüberschreitende Telekommunikation sehr gründlich. Vielleicht sogar gründlicher, als es ihre deutschen Kollegen tun würden, wenn sie dürften. Die fremden Dienste brechen damit deutsches Recht, falls sie auf deutschem Boden operieren, so, wie es der BND im Ausland tut. Oder sie arbeiten zumindest in einer Grauzone außerhalb der politischen Kontrolle. Was sie sich im Äther, in Glasfaserleitungen und Datenspeichern holen, dringt höchstens dann dosiert in die Öffentlichkeit, wenn es ein Leck gibt, etwa durch die Veröffentlichungen des amerikanischen Ex-Geheimdienstler Edward Snowden.

Bis 2004 unterhielt die NSA noch sein elektronisches Riesenohr in Bad Aibling mit 1800 Mitarbeitern, mit dem sie sich in den weltweiten Funkverkehr einklinkte, auch in den deutschen. Dann übergaben die Amerikaner die Anlage an den BND, der sie weiter betreibt, allerdings nach deutschem Recht. Die weißen Abhör-Kugeln überwachen die internationale Satellitenkommunikation, also vor allem Datenverkehr in Ländern ohne Glasfaserkabel, etwa Afghanistan und Mali. Auch diese Überwachung unterliegt  neuerdings dem Bundesverfassungsgerichtsurteil.
An anderen Stellen greifen ausländische Dienste nach wie vor auf deutsche Datenströme zu. Diesen Zustand akzeptieren deutsche Politiker nicht nur stillschweigend. Sie kalkulieren ihn mehr oder weniger in ihre Sicherheitsplanung ein. Der Tatsache, dass in Deutschland Amerikaner, Israelis und möglicherweise noch andere ihre elektronische Geräte platziert haben, verdanken höchstwahrscheinlich viele Menschen Leben und Gesundheit. Als der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière im November 2015 ein Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden im Stadion von Hannover wegen einer akuten Anschlagsgefahr absagen ließ, stammte der Hinweis sehr wahrscheinlich vom israelischen Geheimdienst. Offiziell bestätigt das keine deutsche Stelle, dementiert es aber auch nicht. Auf die Frage nach den Hintergründen der Terrorwarnung sagte de Maizière damals den berühmten Satz: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.”

Die sogenannte „Sauerland-Gruppe“ konnten die deutschen Behörden nur überwachen und 2007 verhaften, weil die NSA den Funkverkehr zwischen Deutschland und Pakistan überwachte und ihre Erkenntnisse via CIA nach Deutschland weiterreichte. Vier Mitglieder der „Islamischen Dschihadistischen Union“, darunter zwei türkischstämmige Deutsche, hatten sich damals Material zum Bombenbau besorgt, und bereiteten von der sauerländischen Provinz aus einen großen Anschlag vor.

Dafür, den eigenen Spionen zu misstrauen, gibt es in Deutschland historische Gründe, die anderen Ländern erspart blieben: die Erfahrungen mit allmächtigen Geheimpolizeien im NS-Staat und der DDR. Einen einzelnen zentralen Dienst sollte es deshalb nie geben, dafür eine strikte Trennung von Inlands- und Auslandsaufklärung, hohe Hürden für das Abhören, dichte parlamentarische Kontrolle. Dazu kommt noch der institutionelle Argwohn linker Politiker gegen die Staatsmacht.

In der Praxis erinnert die Spionage-Selbstbeschränkung der Deutschen an ihre Energiepolitik: So, wie das Land aus der Atomenergie aussteigt und aus Frankreich Nuklearstrom bezieht, wie es seine Kohlekraftwerke stilllegen will und insgeheim darauf zählt, dass die Polen nicht das gleiche tun, jedenfalls nicht gleichzeitig, so weisen auch Bundestagsabgeordnete gern auf die rechtlichen Fesseln hin, die sie ihren Lauschern und Spähern anlegen – und hoffen, dass andere die Lücke füllen. Vor allem amerikanische und israelische Kräfte werden wegen der Qualität ihrer Informationen geschätzt, was viele Politiker und Medienvertreter nicht daran hindert, diese Partner besonders gründlich mit moralischer Kritik zu überziehen.

Dass amerikanische Dienste mit großer Sicherheit auch in deutsche Unternehmen hineinhören, ist Teil des stillschweigenden Arrangements. Ab und zu traf und trifft es auch die Kommunikation deutscher Politiker, zeitweise sogar die Mobilfunkgespräche der Kanzlerin. „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“, meinte Merkel 2013, als sie im Zuge der NSA-Affäre jedenfalls offiziell vom Lauschangriff auf ihr Handy erfuhr. Geheimdienstler in Deutschland und im Ausland lächelten damals milde. Erstens weiß jeder in der Branche, dass auch verbündete Länder einander ausforschen. Nach einem Bonmot von Charles de Gaulle haben Staaten keine Freunde, sondern Interessen. Und wer von Hinweisen anderer Dienste leben muss, weil er seinen eigenen Diensten lieber rote Linien zieht, der dürfte sich eigentlich nur ganz leise darüber beklagen, dass sich Partnerdienste nur an ihre eigenen Regeln halten.

Der Sicherheitsapparat, in dem Schindler von den Achtzigern an arbeitete, stammt noch aus der Zeit des Kalten Krieges, der Blöcke und der sauberen Aufteilung zwischen In- und Ausland. Das galt schon in Schindlers Zeit als BND-Chef nicht mehr. „Die Unterscheidung zwischen drinnen und draußen“, sagt er, „ergibt heute keinen Sinn.“ Der aus Syrien stammende Rucksackbomber Mohammad Daleel etwa, der im Juli 2016 einen Sprengsatz vor einem Weinlokal im bayerischen Ansbach zündete und damit 15 Menschen verletzte, handelte nicht nur als „Soldat des IS“, er stand auch bis wenige Minuten vor der Explosion im Mobilfunkkontakt zu seinen Auftraggebern im Nahen Osten, die ihm Anweisungen gaben und ihn buchstäblich steuerten wie eine Drohne.
Umgekehrt reisten zu Hochzeiten des IS dutzende Deutsche ins Kampfgebiet nach Syrien. Bei einer peniblen Trennung zwischen Auslands- und Inlandsaufklärung passt gerade die größte terroristische Bedrohung nicht mehr ins Raster – die hybride globale Kriegsführung durch den IS und ähnliche Organisationen, die jetzt, da ihr Staat nicht mehr existiert, erst recht überall und nirgends operieren. Es ist ein wenig wie auf der Terrasse des Restaurants, auf der wir sitzen: Im Außenbereich, aber gleichzeitig unter der Glaskuppel des Sony-Centers, von dem wiederum straßenbreite Durchgänge zum Potsdamer Platz führen. Sitzen wir an diesem Tisch drinnen oder draußen? Schwer zu sagen.

Die einzige vernünftige Lösung, meint Schindler, bestünde darin, die Terrorabwehr bei einer Behörde zu bündeln, am besten beim Verfassungsschutz, der dann überall spähen und lauschen dürfte, wo sich eine Gefahr abzeichnet.
Der Geheimdienstpräsident a. D. klingt in manchen Sätzen wie ein professioneller Überwacher, der sich so wenig Grenzen und Regeln wie möglich wünscht. Wer ihm länger zuhört, der bekommt ein etwas anderes Bild von ihm. Er gehört nicht zu den Sicherheitstechnokraten, die jeden Bürger als eine Art biologischen Datenträger oder gleich als Sicherheitsrisiko sehen. Schindler zählt zu einer ziemlich seltenen Spezies, den Altliberalen. In die FDP trat er vor Jahrzehnten wegen der Streitschrift „Eine Chance für die Liberalen“ von Karl Hermann Flach ein. „Das Buch liegt heute noch bei mir zu Hause.“

Wie geht es jetzt weiter mit dem deutschen Auslandsgeheimdienst unter der neuen Rechtsprechung? Es wird weniger abgehört werden, jedenfalls von den Deutschen, glaubt er. Und hofft, dass seine Ex-Kollegen dann wenigstens die Qualität halten, also aus dem viel kleineren Ausschnitt trotzdem noch das eine oder andere Muster herausfiltern. Alles in allem sorgt das Urteil der Verfassungsrichter dafür, dass die Sicherheit der Deutschen in Zukunft noch mehr von dem guten Willen fremder Dienste abhängt.

Es gebe noch ein zweites Gebiet, sagt Schindler, auf dem der deutsche Geheimdienst zumindest zur Hälfte gelähmt sei: die Abwehr von Cyberangriffen. Sie dürfen nach geltender Rechtslage in Deutschland zwar abgewehrt, aber nicht mit einem so genannten Gegenhack beantwortet werden, der den feindlichen Server trifft. Wer einen Server in Deutschland angreift, handelt also mit begrenztem Risiko. Der Grund für die Selbstfesselung ist der gleiche wie für die Restriktionen beim Abhören: Der Wunsch einer Politikermehrheit nach einem Geheimdienst, der sich möglichst nicht wie ein Geheimdienst benehmen soll.

„Es wird immer wieder angeführt, dass wir bei einem Gegenschlag einen Server zerstören könnten, an dem beispielsweise auch ein Krankenhaus hängt. Es gibt Bedenken über Bedenken“, sagt Schindler. „Wir diskutieren jetzt seit Jahren über den Hack back. Der Geheimdienst in der Schweiz hat diese Möglichkeit ganz offiziell. Keine von den Vorbehalten, die hier immer wieder angeführt werden, ist dort bestätigt worden.“
Von der Schweiz lernen“, sagt Schindler, „heißt siegen lernen.“   Alexander Wendt

 

Die aktuellen Ereignisse in Afghanistan unterstreichen das Scheitern des Einsatzes der Bundeswehr dort. Bereits 2017 hatte Marcel Bohnert, der als Oberstleutnant im Generalstabsdienst der Bundeswehr dient, die kulturellen Ursachen dieses Scheiterns in seinem Buch „Innere Führung auf dem Prüfstand“ analysiert. Zu diesen zählt er vor allem „Strategielosigkeit“ und „Realitätsverweigerung“ in den politischen und militärischen Eliten Deutschlands 1 und fordert eine „ungeschminkte und transparente Bilanzdebatte“.2

Kulturelle Defizite auf gesellschaftlicher Ebene

Bohnert kritisiert, dass es in Deutschland keine echten sicherheitspolitischen und militärischen Debatten gebe:

  • In den vergangenen Jahrzehnten habe es einen „radikalen Moralwandel“ mit Bezug auf alles Militärische in Deutschland gegeben. Dieser habe der strategischen Kultur des Landes nicht gutgetan. 3 Wenn Soldaten sich als militärische Experten an Debatten beteiligten, komme es zu „pikierten Reaktionen“, und entsprechende Beiträge würden als „Einmischung Unzuständiger“ empfunden.4 Außerdem gebe es eine allgemeine „intellektuelle Überheblichkeit“ gegenüber allem Militärischem, die damit verbunden sei, dass man die Realität des Krieges nicht verstehe und keine angemessenen Folgerungen aus dem Geschehen ziehen könne.5
  • Vor allem im linken Spektrum werde allgemein versucht, „Zusammenhänge zwischen soldatischen Äußerungen und rechtem Gedankengut“ herzustellen, um Soldaten als Teilnehmer der Debatte zu diskreditieren.6
  • In Deutschland mangele es außerdem an Institutionen, die sich auf hohem Niveau mit militärischen und sicherheitspolitischen Grundfragen auseinandersetzten. Es gebe etwa keine einzige militärwissenschaftliche Fakultät.7

Kulturelle Defizite auf politischer Ebene

Die kulturellen Defizite in den politischen Eliten Deutschlands beträfen vor allem deren mangelnden Willen zu strategischem Denken. „Realitätsverweigerung und Schönfärberei“ sowie „Strategielosigkeit“ seien kennzeichnend für die deutsche Politik:8

  • Die Ziele des Einsatzes seien von Anfang an unklar gewesen. Die „überidealistischen Vorstellungen, mit denen sich Deutschland von Anbeginn in das Afghanistan-Engagement begab“, seien der Realität der Geschichte des Landes als „Friedhof der Supermächte“ nicht angemessen gewesen. Der Wunsch, Demokratie in einem ethnisch heterogenen Staat und Frauenrechte in einer konservativen muslimischen Gesellschaft durchsetzen zu wollen, sei außerdem unrealistisch gewesen. Man habe diese Ziele nicht auf Grundlage einer belastbaren strategischen Analyse gewählt, sondern weil man sie gegenüber der Öffentlichkeit für vermittelbar hielt.9 Das  „Narrativ von Demokratisierung und Wiederaufbau“ sei wirklichkeitsfremd gewesen. Man habe die Lage in Afghanistan nicht erkannt und auch nicht erkennen wollen.10
  • Zur Erreichung dieser Ziele habe es „nie eine umfassende und kohärente politische Strategie“ gegeben. Derart unzulängliche politische Vorgaben hätten es zudem nicht erlaubt, eine schlüssige militärische Strategie zu definieren.11 Angesichts der unterlassenen geistig-strategischen Vorbereitung und mangels einer realistischen Beurteilung der Lage habe der Einsatz einem „naiven Abenteuer“ geglichen.12
  • Das sicherheitspolitische Handeln der Bundesregierung sei bis heute inkohärent und von Widersprüchen zwischen internationalen Ansprüchen und nationalen Vorbehalten geprägt. Die maßgeblichen Dokumente, etwa das Weißbuch 2016, enthielten bis heute keine konkrete Antwort auf die Frage für welche sicherheitspolitischen Interessen Streitkräfte eingesetzt werden sollen.13

Außerdem herrsche in den politischen Eliten Deutschlands ein dysfunktionales Verhältnis zu allem Militärischen und Soldatischen vor:

  • Die Politik halte am falschen Ideal einer postheroischen Friedensarmee fest, die „kein Teil der Kriegführung“ sein dürfe.14 Man habe lange versucht, „das blumige Bild von Bundeswehrangehörigen als bewaffnete Entwicklungshelfer aufrecht zu erhalten“. Die Namen der Gefallenen und ihre Todesumstände seien gegenüber der Öffentlichkeit lange verschwiegen worden.15
  • Die politische Führung habe „wirklichkeitsfremde, juristisch fragwürdige und kämpfenden Truppenteilen kaum vermittelbare“ Einsatzregeln erlassen und entgegen den Erfordernissen der Lage über lange Zeiträume einen „Kampf mit angezogenen Zügeln“ verordnet, der eine „effektive Bekämpfung von Aufständischen verhindert“ und „Unruhe und Irritationen“ unter Soldaten ausgelöst habe, die lange nur  Selbstverteidigung Gewalt anwenden durften. Im Gefecht habe dies zu einer „gefahrvollen Verunsicherung“ geführt und eine „zögerliche Haltung“ erzeugt, die Aufständische ausnutzen konnten.16
  • Die politische Führung negiere bis heute „bewusst den Wesenskern und die Realität der soldatischen Profession“ und erwecke Eindruck das sich Staat davor schäme, der Öffentlichkeit „eine schlagkräftige Streitmacht“ zu präsentieren. Durch die „Betonung von Diversität und Vielfalt“ versuche man, ein betont unmilitärisches Bild der Bundeswehr zu vermitteln, der das „Image eines progressiven Unternehmens“ gegeben werden solle. Die damit verbundenen Versuche, die Identität der Streitkräfte zu verschleiern, seien „beleidigend“ für idealistische Soldaten „die sich des existenziellen Ernstes ihres Berufsfeldes bewusst sind“.17
  • Die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen habe nach eigenen Worten einen „Säuberungs- und Reinigungsprozess“ betrieben, um ein Traditionsverständnis durchzusetzen, das wenig „Gespür für die Bedürfnisse der Truppe“ und keine Vorbilder für soldatisches Handeln in Extremsituationen beinhalte.18

Kulturelle Defizite in der Bundeswehr

So wie die politischen Eliten verweigere sich auch die höchste Ebene der militärischen Führung allem Soldatischen; insbesondere der Tatsache, dass die Bundeswehr eine Organisation sei, „in der Menschen zum Kämpfen und Töten ausgebildet werden“ müssten:19

  • Die Erfahrungen des Einsatzes zeigten, dass Soldaten „geistig und praktisch auf das Kampfgeschehen vorzubereiten“ seien. Eine „mentale Ausrichtung deutscher Streitkräfte auf den Kampf“ sei in der militärischen Führung jedoch unerwünscht. Als Fallschirmjäger gefallenen Kameraden mit dem traditionellen Motto „Treue um Treue“ gedachten, habe man dies verboten.20
  • In der geistigen Auseinandersetzung mit Grundfragen des Soldatischen habe sich die Bundeswehr zurückentwickelt. Die aktuelle Dienstvorschrift bleibe inhaltlich hinter den Originaltexten der Väter der Inneren Führung zurück, die „in weiten Teilen packend“ und in „klarer militärischer Sprache“ verfasst worden seien. Die aktuellen Texte seien hingegen von dem Wunsch geprägt, „soldatisches Pathos zu vermeiden“.21

Die militärische Führung habe die Realität des Einsatzes überwiegend nicht zur Kenntnis nehmen wollen und sich allen Lernprozessen verweigert. Außerdem gebe es in der Kultur der Bundeswehr einen „Kritikfilter“, der zu einer „fatalen Verkennung der Wirklichkeit“ geführt habe:

  • In der Führung habe „Blindheit gegenüber den Veränderungen der Sicherheitslage während der Mission“ vorgeherrscht, auch als dort längst eine „Kriegsrealität“ eingetreten war. Man habe sich der „Illusion eines ‚Smile and Wave‘-Einsatzes“ hingegeben, in dem Soldaten „vor allem Schulen bauten und Brunnen bohrten“, und sei den „antiquierten Denkmustern der ‚Friedensarmee‘“ verhaftet geblieben.
  • Die „vorherrschende Kultur der Bundeswehr war offensichtlich darauf ausgerichtet, den Wunsch der Politik zu erfüllen, die ‚Defensiv-Legende‘ zu nähren und den unpopulären Eindruck eines Krieges zu vermeiden“.
  • Rückmeldungen aus dem Einsatz hätten höchste Entscheidungsträger meist nicht erreicht, denn diese hätten „oft angepasste Meldungen erwartet und wer ungeschönt berichtete, musste damit rechnen, als Querulant abgestempelt zu werden“.
  • Viele Soldaten hätten sich dem angepasst, um unangenehme Fragen zu vermeiden oder mit jeder Hierarchiestufe immer positivere Meldungen abgegeben, bis die Probleme nicht mehr erkennbar waren. Oft habe es an „Mut und Willen zur Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber Politikern und höheren Vorgesetzten“ gefehlt.22
  • Die Bundeswehr habe sich von den guten Traditionen der deutschen Militärgeschichte abgewandt und die negativen Eigenschaften ziviler Organisationen übernommen. Kritisches Denken, Innovation, begründeter Widerspruch, und das Hinterfragen politischer Entscheidungen stießen in der Armee auf Ablehnung, während ideologische Anpassung gefördert werde.23
  • Bis heute reflektiere die Bundeswehr die Erfahrungen des Einsatzes nur unzureichend und lerne nicht aus den begangenen Fehlern.24

Gegenüber der Öffentlichkeit vermittele man kein „glaubhaftes Bild des soldatischen Tuns“ 25 und spreche daher häufig ungeeignete Interessenten für den Dienst in der Bundeswehr an:

  • Nachwuchs suche man mit „Werbespots, in denen keinerlei Bezüge zum soldatischen Wesenskern erkennbar“ seien.26. Man versuche auch hier, „jegliches heroisches Pathos zu vermeiden und sich als weitgehend ‚normaler‘ Arbeitgeber zu präsentieren“.
  • Es sei „sehr gewagt“ vor allem diejenigen als Soldaten gewinnen zu wollen, die sich vor allem für einen sicheren Arbeitsplatz mit flexiblen Arbeitszeiten interessierten.
  • Es sei zudem fraglich ob Soldaten, „die sich als Arbeitnehmer wie jeder andere oder gar als Verwaltungsbeamte verstehen, in existenziell bedrohlichen Situationen bestehen können“. Dieses Soldatenbild schrecke außerdem diejenigen ab, die man in Kampfeinsätzen am dringendsten brauche.27

Hintergrund und Bewertung

Der rasche Zusammenbruch des afghanischen Staates vor einigen Tagen stellt insbesondere auch eine Niederlage der Bundeswehr dar, in deren ehemaligem Verantwortungsbereich die dort zuvor kaum präsenten Taliban besonders frühe und weitreichende Erfolge erzielen konnten.

Die von Bohnert angesprochenen Defizite traten nach dem endgültigen und katastrophalen Scheitern des Afghanistan-Einsatzes noch deutlicher hervor:

  • Eine Debatte über die Ursache dieses Scheiterns und die nötige Konsequenzen findet weiterhin nicht statt. Die Politik nähert sich dem Thema immer noch nicht aus einer strategischen Perspektive und fragt nicht nach dem Gemeinwohl in Form nationaler Sicherheitsinteressen und nach Bedrohungen für diese (im konkreten Fall Afghanistans Terrorismus, irreguläre Migration und Organisierte Kriminalität) oder sucht nach realistischen Strategien zu deren Eindämmung. Stattdessen hält man an der ideologischen Hybris fest, die für die unrealistischen Ziele des Einsatzes mitverantwortlich war, und stellt Fragen in den Vordergrund, die für die äußere Sicherheit Deutschlands irrelevant sind. Dazu zählt das Thema Frauenrechte, wobei die große Mehrheit der Afghanen an diesem Thema offensichtlich kein Interesse hat.
  • Außerdem wurde die Lage in Afghanistan bis zuletzt falsch beurteilt, wobei Lageberichte der deutschen Botschaft offenbar ignoriert wurden. Für die Sicherheit deutscher Staatsbürger dringend erforderliche Entscheidungen wurden zudem aufgrund mangelnder Entschlusskraft und mangelndem Lagebewusstsein der Verantwortlichen so lange hinausgeschoben, dass eine rasche Evakuierung aus Kabul nicht mehr möglich war. Noch kurz zuvor hatte die Verteidigungsministerin erwogen, das besonders für das aktuell in Afghanistan drohende Szenario der Geiselnahme deutscher Staatsbürger ausgebildete Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr aufzulösen. Während des Höhepunktes der Krise befand sie sich im Saarland, um an einem Flammkuchenbacken teilzunehmen.
  • Eine toxische Organisationskultur prägt zunehmend das für das Krisenmanagement federführend verantwortliche Auswärtige Amt, das in den vergangenen Jahren Faktoren wie Geschlecht, Abstammung und politische Orientierung in der Personalauswahl und -Förderung über die fachliche Qualifikation stellte. Vielen der immer häufiger militäraversen Mitarbeiter fehlt jegliches Grundverständnis für harte Sicherheitsfragen.
  • Die Maßnahmen der Bundesregierung konzentrieren sich neben der Evakuierung deutscher Staatsangehöriger darauf, möglichst viele Gegner der Taliban außer Landes zu bringen, darunter viele Männer im wehrfähigen Alter. Dadurch schwächt man den beginnenden Widerstand gegen die Taliban, der sich u. a. im Pandschir-Tal formiert. Die Option, jene Afghanen zu unterstützen, die gegen die Taliban kämpfen, wird von der Bundesregierung offenbar nicht in Erwägung gezogen. Statt dessen ermutigt man Afghanen zur Flucht und stärkt dadurch nicht nur die Taliban, sondern fördert auch irreguläre Migration und die mit ihr verbundene Organisierte Kriminalität, was mit Risiken für Europa verbunden ist. Sicherheitspolitisch ist dieses Vorgehen kontraproduktiv.
  • Der Politikjournalist Robin Alexander bewertet den Umgang mit der Afghanistankrise durch die Bundesregierung als „Staatsversagen“, das vor allem eine Folge von Elitenversagen sei. Insbesondere der Außenminister und die Verteidigungsministerin seien für ihre Ämter offensichtlich nicht geeignet. Deutschland brauche daher „eine Debatte darüber, wie Personal für politische Spitzenämter rekrutiert wird“.

Die strategische Kultur Deutschlands erscheint vor dem Hintergrund des beschriebenen Geschehens als im Kern defekt und unfähig dazu, realistische Strategien für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger zu formulieren und Streitkräfte vorzuhalten, die diesem Aspekt des Gemeinwohls angemessen dienen können. Sie erscheint auch als unfähig dazu, Bedrohungen richtig zu erkennen und im Krisenfall richtig zu entscheiden. In der Kombination können diese Schwächen zu existenziellen Risiken führen, insbesondere falls Deutschland in Zukunft noch einmal unmittelbaren militärischen Bedrohungen gegenüberstehen sollte. Dass auch die größte militärische Niederlage in der Geschichte der Bundesrepublik diesbezüglich kein Umdenken auslöst, stellt ein ernstzunehmendes Warnsignal dar.

Es droht außerdem in Vergessenheit zu geraten, dass die Bundeswehr ursprünglich über ein robustes militärisches Ethos verfügte, das Wolf Graf von Baudissin und andere kriegserfahrene Offiziere auf der Grundlage der abendländischen Tradition entwickelt hatten. Dieses Ethos wurde von vielen Offizieren praktisch gelebt auch von den großen Teilen der politischen Eliten der frühen Bundesrepublik geteilt, denen es auf dieser Grundlage gelang, sich gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt zu behaupten. Wenn es darum geht, Antworten auf die von Bohnert beschriebenen kulturellen Defizite zu finden und die Resilienz des Gemeinwesens gegenüber den Herausforderungen zu stärken, denen es gegenübersteht, könnten Gesellschaft, Politik und Streitkräfte somit in ihrer eigenen Geschichte fündig werden. (sw)

Quellen

  1. Marcel Bohnert: Innere Führung auf dem Prüfstand. Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, Hamburg 2017, S. 132.
  2. Ebd., S. 183.
  3. Ebd., S. 152.
  4. Ebd., S. 161.
  5. Ebd., S. 107-109.
  6. Ebd., S. 161.
  7. Ebd., S. 137.
  8. Ebd., S. 132.
  9. Ebd. S. 61.
  10. Ebd., S. 132.
  11. Ebd., S. 62
  12. Ebd. S. 109.
  13. Ebd., S. 183-184.
  14. Ebd., S. 132.
  15. Ebd., S. 99-101.
  16. Ebd., S. 97-98.
  17. Ebd., S. 128-129.
  18. Ebd. S. 177-181.
  19. Ebd., S. 129
  20. Ebd., S. 145-146.
  21. Ebd., S. 141-143.
  22. Ebd., S. 94-95.
  23. Ebd., S. 130.
  24. Ebd., S. 108.
  25. Ebd., S. 149.
  26. Ebd. S. 108-109.
  27. Ebd., S. 116-119.

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