Jan Böhmermann gelingt, was weder Roland Koch noch Friedrich Merz,
weder Gregor Gysi noch Jürgen Trittin, weder Peer Steinbrück noch Sigmar
Gabriel je geglückt ist, obwohl sie genau das wollten: Angela Merkel
einmal in ernste Schwierigkeiten bringen. Ausgerechnet ein Gedicht
entlarvt die Kanzlerin mit ihrer misslungenen Migrationspolitik und
untergräbt ihre Integrität schwer. Merkel hätte zu den Schmäh-Reimen des
Kölner TV-Narren einfach schweigen können, so wie sie sich in ihrer
Karriere häufig bloß kühl nach oben geschwiegen hat.
Doch Böhmermanns böse Satire lüftet auf derart schamlose Weise den
Schleier von der Maske einer zweifelhaften Politik, dass aus miserablen
Reimen plötzlich eine Staatskrise wird. Zunächst reagiert der
angegriffene Erdogan wie Despoten immer auf Kritik reagieren – humorlos,
gereizt, aggressiv. Er fordert den juristischen Kopf des Satirikers, so
wie er es in der Türkei gewohnt ist und Hunderte von Regimekritikern
brutal verfolgt. Doch dann springt die Kanzlerin Erdogan überraschend
zur Seite, ruft eilfertig den türkischen Ministerpräsidenten persönlich
an und kritisiert demonstrativ das Gedicht. Hinterher lässt sie das auch
noch alle Welt offiziell wissen und ihr lyrisches Urteil verbreiten:
„bewusst verletzend“. Unerträglich. Obendrein belobigt sie im Gestus
einstiger Ostblockregime, dass das Gedicht zensiert und vom Netz
genommen worden sei.
Der Vorgang ist ein dreifacher Eklat. Zum einen weil Angela Merkel
damit die Meinungs- und Kunstfreiheit auf grobe Weise untergräbt. Im
Fall der Terrorattacken auf europäische Karikaturisten hatte die
Bundesregierung noch feierlich proklamiert, die Freiheit der Satire sei
unantastbar und werde immer verteidigt. Auch Merkel war Charlie. Nun
aber ist sie nur noch Recep und begräbt bei einem lächerlichen Fall die
Kunstfreiheit mit bewusster Geste. Der Schaden ist so groß, dass
Regierungssprecher Seibert minutenlang erklären muss, was eigentlich
selbstverständlich sein sollte; dass nämlich in Deutschland Meinungs-
und Kunstfreiheit herrsche. Die Kanzlerin wolle „unmissverständlich“
deutlich machen, dass der Artikel fünf des Grundgesetzes über die
Freiheit der Meinungsäußerung, der Kunst und Wissenschaft
„selbstverständlich höchstes Gut“ sei, er sei „weder nach innen noch
nach außen verhandelbar“, so Seibert in der Bundespressekonferenz. Wenn
ein Regierungssprecher die Grundgesetztreue der Kanzlerin beschwören
muss, dann ist etwas gewaltig aus den Fugen geraten.
Zweitens ist der Ärger über Merkel so groß, weil sie ausgerechnet
einem Feind der Menschenrechte zur Seite springt. Als die Kirche, der
Papst oder Jesus Christus von Satirikern und Künstlern aufs Übelste
geschmäht, beleidigt und erniedrigt wurden, da schwieg die Kanzlerin.
Nun aber sucht sie demonstrativ den satire-kritischen Schulterschluss
mit einem Mann, der Künstler und Journalisten willkürlich verhaften und
verfolgen lässt, der ein Regime der Angst etabliert und blutige Kriege
gegen Kurden und Syrer führt, dessen Kulturverständnis den Odem eines
islamistischen Säbels atmet. Erdogans eigenes (auch bewusst
verletzendes) Lieblingsgedicht stammt von Ziya Gökalp mit so
entlarvenden Zeilen wie:„Die Moscheen sind unsere Kasernen, die
Minarette unsere Bajonette.“ Dass Merkel ausgerechnet in dieser
Situation, da Erdogan die Presse brutal verfolgt, die Freiheit des
Wortes in Deutschland infrage stellt, erschüttert selbst enge
Mitarbeiter im Kanzleramt. Sie akzeptiert damit die düsteren Spielregeln
eines Neo-Sultans, der Menschen- und Freiheitsrechte mit Stiefeln
tritt.
Der dritte und größte Eklat liegt darin, dass Merkel um Eklatrisiko 1
und 2 genau wusste – und trotzdem so handelte. Damit verrät sie, wie
sehr sie sich selbst in politischer Not und von Erdogan abhängig sieht.
Nun wird der ganzen Welt offenbar, dass Erdogan von Berlin nicht nur
Kopfgeld-Milliarden und Visa-Erleichterungen und
EU-Beitrittsverhandlungen erzwingen kann. Er kann die Kanzlerin der
Bundesrepublik Deutschland, deren Integrität bislang enorm gewesen ist,
dazu bringen, die Meinungsfreiheit in Deutschland zu relativieren.
Merkels Böhmermann-Skandal ist vor allem ein unglaublicher Kotau vor
einem Despoten aus Ankara. Sie unterwirft sich der Repressionslogik von
Erdogan, weil ihre Migrationspolitik dahin führt, dass Deutschland von
der Türkei erpressbar geworden ist.
An der Winzigkeit eines miserablen Gedichts entlarvt sich die ganze
Tragödie von Merkels Zuwanderungs-Irrungen. Weil sie die Grenzen zu weit
aufgerissen hat und sich seither weigert, die eigene Grenzsicherung
entschieden in Angriff zu nehmen, stattdessen aber die Türkei als
dubiosen Grenzpolizisten einkaufen will, degradiert sie sich und
Deutschland zum Spielball fremder Interessen und Ansichten – und seien
es die über Satire. Die Bundeskanzlerin erniedrigt sich und die
Bundesrepublik.
Sie fügt damit ihrer Fehlerkette in der Migrationspolitik einen
weiteren, grotesken hinzu. Einem Narren wie Böhmermann gelingt damit mit
Satire, was Horst Seehofer seit Monaten mit Argumenten vergeblich
versucht – die Entlarvung eines faulen, mephistophelischen Deals. Das
Flüchtlingsabkommen mit der Türkei ist schlichtweg nicht integer, und
Angela Merkel hat daran ihre politische Seele verkauft. Jan Böhmermann
gelingt ein historischer Coup der Satire. Wie vor Jahrhunderten die
besten schmitzig-schlauen Bänkelsänger, Königen und Kaisern
lustig-listig den Spiegel vorhalten durften, so hat er es mit Erdogan
und Merkel gegen deren Willen getan.
Böhmermann ist der system-spielende Grenzgänger der deutschen
Komödianten, der immer wieder die Spielregeln der deutschen
Mediengesellschaft provozierend hinterfragt. Einmal ist Böhmermann bei
einer Lukas-Podolski-Parodie Urheber des Ausspruchs „Fußball ist wie
Schach – nur ohne Würfel!", hernach wird der aber lebenslang (und doch
fälschlich) Lukas Podolski zugeschrieben. Ein anderes Mal mimt er für
verschiedene TV-Sender einen Schweinegrippekranken und entlarvt damit
die Rechercheschwäche und Panikmache des Fernsehens. Dann verblüfft er
die Rollenspiele der Migranten mit Polizeiraps oder verwirrt
Deutschlands Mediengläubige mit der Behauptung, er habe das Video mit
dem Stinkefinger des griechischen Finanzministers manipuliert. Er spielt
mit scheinbaren Gewissheiten einer Gesellschaft, die in Wahrheit um
viele Gewissheiten nicht mehr weiß. Er hinterfragt zweifelhafte
Spielregeln mit dem Regelspiel. Auch sein Erdogan-Schmähgedicht hat er
nicht als Gedicht platziert, sondern als erklärtes Experiment über die
Grenzen der Freiheit. Merkel ist darauf hereingefallen. Sie wirkt nun
wie Shakespeares King Lear, der sein Königreich an die falschen vergibt
und von einem Narren schließlich gesagt bekommt: „Wahrheit ist ein Hund,
der ins Loch muss und hinausgepeitscht wird, während Madame Schoßhündin
am Feuer stehen und stinken darf.“ Wolfram Weimer am 15. 4. 2016
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