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Montag, 18. April 2016

Wo er recht hat, hat er recht

In Schulklassen gibt es oft einen Außenseiter, der bevorzugt gehänselt und herumgestoßen wird. Wer feige ist, hackt gerade auf diesem Außenseiter herum, denn da kann er sich der johlenden Unterstützung seiner Klassenkameraden am sichersten sein.
Ein solcher Feigling ist Jan Böhmermann. Er weiß, dass Erdogan der Buhmann der Nation ist. Ihn abzuwatschen, ist leichtes Spiel. Da klatscht das Publikum, weil es den ungeliebten Erdogan erwischt. Da lacht es über die primitiven Vulgaritäten. Nicht weil sie lustig sind, sondern aus Verlegenheit. Auf Unanständiges anständig zu reagieren, ist nicht so leicht. Es ist nicht jedermanns Sache, in einer Fernsehsendung aufzustehen und den Moderator abzuwatschen, wie er es verdient hätte. Und so hat Böhmermann den Erfolg und die Zustimmung, die leicht vorauszusehen waren. Gefühlte 90% der Bevölkerung sind auf seiner Seite.


Ich bin nicht auf seiner Seite. Gewiss: Erdogan ist alles andere als eine Lichtgestalt der Demokratie, der Pressefreiheit und des Minderheitenschutzes. Keine Frage. Aber das gilt für die meisten Staatslenker unserer Welt. Doch anders als viele korrupte Kleptokraten hat Erdogan sein Land nicht ruiniert. Ganz im Gegenteil: Er hat die Türkei zum Erfolg geführt.
Vor Erdogan war die Türkei der kranke Mann am Bosporus. Eine Demokratie mit vielen Mängeln. Wirtschaftlich schwach und bis über beide Ohren verschuldet. Und wenn es allzu toll wurde, putschte das Militär.

Davon ist heute keine Rede mehr. Und im Vergleich zu früher geht es den Türken heute richtig gut. Im Schnitt verdient jeder Türke heute doppelt so viel wie zu Beginn von Erdogans Amtszeit. (Deutsche Arbeitnehmer können von einer Verdoppelung der Kaufkraft nur träumen!) Erfreulicherweise haben die ärmeren Türken besonders profitiert. Die starke Ungleichheit der Einkommen – ein typisches Problem von Entwicklungsländern – hat sich unter Erdogan deutlich reduziert.


In Europa reden wir gerne despektierlich über Erdogan. Aber seine Erfolge müssten wir ihm erst einmal nachmachen. Während die Türkei boomt, kämpft die EU gegen Krisen und Stagnation. Während die Armen in der Türkei reicher wurden und die Ungleichheit abnahm, sanken in vielen europäischen Ländern die Reallöhne und die Ungleichheit nahm zu.
Vor Erdogans Amtsantritt lag das türkische Durchschnittseinkommen bei rund einem Drittel des Durchschnittseinkommens der EU, bei 35%. Heute sind es 53%. Und wenn wir noch ein paar Jahre mit dem Euro weitermachen, wird die Türkei demnächst bei 70% liegen und die griechischen Arbeitslosen werden sich als Gastarbeiter in der Türkei verdingen. Aber das nur am Rande.

Erdogans Wirtschaftspolitik war ein großer Erfolg. Die Türken merken das nicht nur am Portemonnaie. Sie haben jetzt eine Krankenversicherung und eine Art Rentenversicherung. Wenn man alt oder krank ist, ist man nicht mehr ausschließlich auf die Familie angewiesen, die möglicherweise selbst nur das Nötigste hat. Die Türkei baut einen Sozialstaat auf und die staatlichen Sozialausgaben wachsen noch schneller als das Bruttoinlandsprodukt.
In den deutschen Medien wird stets über die Verschlechterung der Pressefreiheit in der Türkei berichtet. Man sollte auch mal über die Verbesserung des Gesundheitswesens berichten: Seit Erdogans Amtsantritt hat sich die Lebenserwartung in der Türkei um fünf Jahre erhöht. Die Kindersterblichkeit hingegen wurde halbiert.
Es lohnt sich jetzt übrigens auch, fürs Alter zu sparen. Als Erdogan antrat, lag die Inflation bei rund 50% und fraß ruckzuck alle Ersparnisse auf. Heute liegt die türkische Inflation bei knapp unter 10%. Immer noch ein bisschen viel, aber zweifellos ein großer Fortschritt. Währenddessen kämpft die Europäische Zentralbank verzweifelt darum, dass sie wenigstens ein bisschen Inflation erzeugen kann.

Vorbei sind die Zeiten, wo die Türkei ein riesiges Staatsdefizit hatte. Früher lag es bei 10% des Bruttoinlandsprodukts, heute ist es in der Nähe von Null. Anfang des Jahrtausends schlitterte die Türkei nur haarscharf an einem Staatsbankrott vorbei. Während in der Eurozone die Staatsschulden außer Kontrolle gerieten, reduzierte Erdogan die türkische Schuldenquote von 74% auf 36% des BIPs. Zum Vergleich: In der Eurozone ist 60% die Obergrenze nach dem Maastricht-Vertrag. Deutschland hat 75%, Griechenland knapp 200%.


Erdogan war in Deutschland schon immer unbeliebt, aber seit der Flüchtlingskrise hat sich das noch mal verstärkt. Nur sollten wir nicht vergessen: Niemand hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie die Türkei. Bei uns ist es eine Million oder ein bisschen mehr – und selbst Frau Merkel hat inzwischen begriffen, dass das ziemlich viel ist. In der Türkei leben derzeit rund 3 Millionen Flüchtlinge. Wobei die Türkei ungefähr so viel Bevölkerung hat wie Deutschland und sehr viel ärmer ist.
Auch das muss man Erdogan fairerweise auf der Haben-Seite anrechnen: Drei Millionen arabische oder kurdische Flüchtlinge dürfen unentgeltlich Bildungsangebote und die Leistungen des türkischen Gesundheitswesens in Anspruch nehmen. Und als das Welternährungsprogramm die Nahrungsmittelrationen für Flüchtlinge auf 80% herabsetzen musste, weil die reichen Länder dieser Welt keine weiteren Mittel zur Verfügung stellen wollten, ist die Türkei eingesprungen und hat die Finanzierungslücke geschlossen. Hut ab, Herr Erdogan!

Die vielen Wirtschaftsmigranten, die nach Deutschland kommen, haben bei uns die Erkenntnis reifen lassen, dass man die Armut in der Welt vermindern muss. Stichwort: Fluchtursachen bekämpfen. Mehr und bessere Entwicklungshilfe mit tollen neuen Ideen, die in vielfältigen Diskussionen entwickelt wurden. Die nur leider in der praktischen Entwicklungshilfe längst bekannt und verworfen sind, weil sie nicht funktionieren.
Es ist nicht leicht, Armut und Unterentwicklung zu bekämpfen. Die deutsche Entwicklungshilfe ist hochprofessionell, aber wenn sie auf ein schlecht regiertes Land stößt, kann sie nur relativ wenig ausrichten und daran wird sich auch nichts ändern. Erdogan aber hat in seinem Land das Kunststück geschafft. Wenn jemand Fluchtursachen erfolgreich bekämpft hat, dann er. Die Türken haben eine gute Zukunftsperspektive in ihrem eigenen Land. Seit 2006 wandern jedes Jahr mehr Türken aus Deutschland in die Türkei als umgekehrt.


Wo Licht ist, ist auch Schatten. Die unbestreitbaren Schattenseiten von Erdogans Amtsführung will ich hier nicht ausführen – sie werden in den deutschen Medien ausführlich beleuchtet. Was da an Kritik geäußert wird, ist meistens berechtigt und deshalb ist es gut, dass diese Kritik geäußert wird – wenn sie sachlich geäußert wird. Wir sollten stets entschieden für die Werte der Aufklärung und der Demokratie eintreten.

Das aber dann bitte mutig auch gegenüber den Großen dieser Erde. Was ist mit dem russischen Präsidenten Putin oder dem chinesischen Präsidenten Xi? Warum geifert Böhmermann nur gegen Erdogan? Putin und Xi stehen mit Demokratie und Pressefreiheit mindestens so sehr auf Kriegsfuß wie Erdogan. Erdogan protegiert den Islam, Putin die Orthodoxie und unter Xi hat keine Religionsgemeinschaft viel zu lachen. Erdogan drangsaliert die Kurden, Xi die Tibeter und Putin die Krimtartaren. Den Tschetschenen hat er noch viel übler mitgespielt.
Das kann und soll man alles kritisieren. Aber sich den einen herauszupicken, der nun mal in Deutschland besonders unbeliebt ist, und ihn Beifall heischend mit unflätigen Obszönitäten zu bombardieren, die mit sachlicher Kritik nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, ist ungerecht, gemein und feige. Böhmermann hat Erdogan mit Dreck und Schweinereien überschüttet.


Und deshalb sage auch ich, was man nicht sagen darf: Böhmermann ist eine feige Drecksau.   Bernd Lucke


Aber wo er unrecht hat, hat er unrecht:  Herr Erdogan ist doch kein armer Außenseiter, der von allen anderen herumgestoßen wird. Er ist der Bully, der die anderen verprügelt (bzw. real verprügeln und ins Gefängnis werfen lässt). Dementsprechend ist Herr Böhmermann auch kein Feigling, der nur auf sicheren Jubel aus wäre, sondern er ist der Klassenclown, der sich einen blöden Witz über den Bully nicht verkneifen kann, obwohl er dafür Prügel von diesem und seinen Freuden kassiert. Zu diesen Freunden gehört nicht nur Frau Merkel als Klassensprecherin, sondern auch Herr Lucke, der mangels eigener Kraft stets auf der Seite der Starken und Mächtigen stehen möchte.


Aber das wahre Problem ist ein ganz anderes: Geschmacklosigkeit ist nicht legitim. Und in Deutschland hat man die Geschmackssicherheit vor langer Zeit verlernt, bzw. immer nur ausnahmsweise besessen. Wir gehören zu den barbarischen Völkern. Am deutlichsten erkennbar ist es an der spezifisch deutschen Pornographie, die bisher Gott sei Dank nicht im ZDF zu sehen ist. Erkennbar auch daran, dass es trotz Meinungsfreiheit notwendig war, die Holocaustleugnung zu verbieten: wir sind so herzlos (und so selbsmitleidig in den Gedanken verliebt, die Leugner könnten recht haben), dass wir nicht nachempfinden können, was es für die Überlebenden bedeutet, wenn ihr Schicksal auch noch bestritten wird. Erkennbar wiederum an den Exzessen deutschsexueller Freizügigkeit, mit denen sich ein Volk betäubt, das zu Erotik nicht fähig ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in der Schwulen- und Fäkalrepublik die Skandale über verschollene Flüchtlingskinder die Kölner "Zwischenfälle" verdrängen werden.

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