Die letzten Wochen brachten zwei einschneidende Ereignisse, die zu
Wendepunkten der deutschen (und europäischen) Gegenwartsgeschichte
werden können:
Die AfD zog mit zweistelligen Ergebnissen in drei weitere deutsche
Landtage ein. In Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg wurde sie zur
zweitgrößten Partei, in Rheinland-Pfalz gewann sie mehr Stimmen als
Grüne und FDP zusammen, und das bei einer ungewöhnlich hohen
Wahlbeteiligung. In der alles beherrschenden Flüchtlingsfrage nahmen
viele Bürger offenbar CDU, SPD, Grüne und Linke als Meinungskartell wahr
und wählten die einzige Partei, die eine andere Flüchtlings- und
Einwanderungspolitik forderte.
Die nächsten Monate werden zeigen, ob sich die noch ganz unfertige
AfD zu einer konservativen Volkspartei fortentwickelt und die Abgrenzung
zum rechten Rand bewältigt. Sie werden aber auch zeigen, ob die anderen
Parteien die Botschaft dieser Wahlen verstanden haben. Viele erste
Reaktionen lassen daran zweifeln. Die vorherrschende Analyse der
Etablierten war, dass 75 bis 85 Prozent der Wähler die AfD nicht gewählt
hätten, und dieser Umstand sei als überwältigende Zustimmung zur
Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu deuten. Insbesondere Angela
Merkel tat so, als sei das Wahlergebnis für die Politik ihrer
Bundesregierung ohne Belang. Wie immer war es in der Union Horst
Seehofer, der als einziger führender Politiker widersprach. Aber dieser
Widerspruch hat von Mal zu Mal eine schwächere Wirkung, da er offenbar
nicht zu Handlungen führt.
Entlastung erfuhr die Bundesregierung von den größten Feinden ihrer
Flüchtlingspolitik: Die von Österreich und den Balkanstaaten gemeinsam
ins Werk gesetzte Schließung der Balkanroute führte zu dramatisch
sinkenden Ankunftszahlen. Kurz vor Ostern gab es tatsächlich einige
Abende, bei denen die Flüchtlinge nicht der Aufmacher der
Fernsehnachrichten waren. Gute Menschen in verantwortlichen Ämtern
konnten sich so einen schlanken Fuß machen: Das Sinken der
Flüchtlingszahlen sorgte für dringend nötige Entspannung, und
gleichzeitig mußte man die eigene Willkommenskultur nicht in Frage
stellen.
Das zweite einschneidende Ereignis war der EU-Flüchtlingsgipfel mit
der Türkei. Er ließ zwar zahlreiche Fragen offen, aber der Kern der
Vereinbarung mit der Türkei bringt jedenfalls große Bewegung: Falls
Griechenland künftig wirklich alle neu ankommenden Flüchtlinge in die
Türkei zurückschickt, wird sich bald niemand mehr auf diese
Flüchtlingsroute begeben. Ein Erfolg dieses Teils der Vereinbarung würde
bedeuten, dass ihr anderer Teil leer läuft: Wenn nur noch wenige
Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland gehen, werden auch nur
wenige zurückgenommen, und entsprechend gering ist die Zahl anderer
Flüchtlinge, die die Türkei dann als Kompensation an Europa weitergeben
kann.
Das wiederum ist in anderer Hinsicht gut: Denn auf dem
Flüchtlingsgipfel wurde offenbar nicht der Versuch unternommen, sich auf
einen Verteilungsmodus für Flüchtlinge und illegale Einwanderer im
Schengenraum zu einigen. Solch eine Einigung bleibt aber die
Voraussetzung dafür, dass das Schengensystem überhaupt langfristig
funktionieren kann.
Ein großer Teil der Schengen-Staaten hat grundsätzliche Vorbehalte
gegen die weitere Aufnahme von Flüchtlingen und illegalen Einwanderern.
Das gilt nicht nur für die Länder Osteuropas, sondern auch für Staaten
wie Frankreich und Belgien. Die Integration der dortigen Muslime ist
nur teilweise gelungen. Aus ihrer Gruppe stammen die Terroranschläge,
die beide Länder so erschüttert haben. Durch die in den letzten Wochen
offengelegten Verbindungen wurde zudem deutlich, dass die Terrorfrage
von der Flüchtlingsfrage gar nicht mehr sinnvoll getrennt werden kann.
Das wissen auch die Geheimdienste, aber in den Köpfen der Menschen ist
das Durcheinander noch viel größer. Zwangsläufig werden jene politischen
Gruppierungen gestärkt, die gegen Einwanderung aus dem islamischen
Kulturkreis grundsätzlich kritisch sind.
Setzen wir einmal voraus, dass Angela Merkel am Kern ihrer
Flüchtlingspolitik festhalten möchte. Dieser besteht offenbar darin,
dass weiterhin große Zahlen kommen dürfen, nur eben geordnet und in
einem abgestimmten Verfahren auf die Schengen-Staaten verteilt. Wen
hätte sie noch als Verbündeten?
Die skandinavischen Staaten und
Österreich nicht mehr, die Länder Osteuropas und des Balkans noch nie.
Bestimmt auch Frankreich und Belgien nicht. Es bleiben die Niederlande,
Schweiz und Italien. Letzteres lässt aber sowieso alle Flüchtlinge nach
Norden weiterreisen, und es wollen ja auch nur wenige dort bleiben, weil
die Sozialleistungen so schlecht sind.
Schlußfolgerung: Entweder Deutschland nimmt weiter das Gros der
Flüchtlinge und illegalen Einwanderer nach Europa auf, oder es ändert
seine Willkommenskultur. Das Abkommen mit der Türkei könnte ein Einstieg
dazu sein. Aber ist es das wirklich? Das weiß vermutlich Angela Merkel
selber nicht. Offenbar fährt sie auf Sicht. Nie wird sie bekennen, dass
sie falsch handelte, als sie im letzten Jahr die Grenzen öffnete.
Durch das Türkei-Abkommen ist bis zum Sommer Zeit gewonnen. Auf
seinen Erfolg können alle jene Deutschen ihre Wünsche projizieren, die
von ihren Illusionen noch keinen Abschied nehmen möchten. Bis zum Sommer
wird sich gezeigt haben, dass auch bei einem Erfolg des Abkommens
genügend Flüchtlingsrouten über das Mittelmeer offen bleiben. Die
Schlepper orientieren sich schon um.
Bis zum Sommer werden wir auch wissen, ob der Preis akzeptabel ist,
den Europa für das Abkommen zahlt: Die Türkei möchte die Visafreiheit
für ihre Bürger. Um diese zu erlangen, dienen die Flüchtlinge als
Druckmittel. Visafreiheit könnte aber die nächste große Flüchtlingswelle
bedeuten: 30 Prozent der türkischen Bürger sind kurdischer Herkunft.
Gegen diese große Minderheit führt Erdogans Regierung Krieg. Die
kurdischen Verfolgten und Opfer dieses Krieges hätten es künftig sehr
einfach, wenn sie in Europa Asyl beantragen wollten: Sie müßten nur mit
einem gültigen Personalausweis ein Flugzeug besteigen, und ihre
Asylgründe wären mindestens so gut wie bei zahlreichen Eritreern,
Afghanen und Syrern. Hat Angela Merkel diese Konsequenzen der
Visa-Freiheit für die Türkei bedacht oder nimmt sie sie billigend in
Kauf? Wie man es auch dreht und wendet, weder geistig noch praktisch ist
in der deutschen Flüchtlingspolitik eine Konzeption zu erkennen. Thilo Sarrazin am 17. 4. 2016
Und wie sieht es beim AKW-Personal aus?
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