Vor nicht ganz einem halben Jahr, am 20. November 2015,
sagte die Grünenpolitikerin Katrin Göring Eckardt zwei Sätze, die das
Format besitzen, auch und gerade in fünfzig Jahren noch zitiert zu
werden: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Ich sage euch
eins: ich freu mich drauf.“
Inzwischen registrieren Parteivertreter von Göring-Eckhardts Grünen,
von SPD und CDU allerdings eine Anomalie, die in ihrer Strategie so
nicht vorgesehen war: Ausgerechnet viele arrivierte Migranten in
Deutschland wollen sich über die angedrohten drastischen Veränderungen
nicht so richtig mitfreuen. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg
bekam die AfD in vielen Gegenden überdurchschnittlich viele Stimmen von
Einwanderern, die schon seit Jahren hier leben. Hätten professionelle
Vielfaltsverfechter echte Bekannte und Freunde unter den etablierten
Einwanderern, dann wüssten sie, warum.
Vor kurzem unterhielt ich mich mit einem Freund, der vor ein paar
Jahren aus Weißrußland nach Deutschland kam, über die Massenmigration
nach dem September 2015. Der Freund, nennen wir ihn Nikita, ist etwas
über Mitte zwanzig, und arbeitet mittlerweile als Ingenieur in
Süddeutschland. „Deutschland“, sagte Nikita, „war für mich das
Paradies, als ich hierher kam. Ich möchte nicht, dass dieses Paradies
zerstört wird.“ Wie viele Einwanderer musste er eine Garantiesumme bei
einer Deutschen Bank hinterlegen – in seinem Fall Fünftausend Euro – und
unterschreiben, dass er bis zu seiner Arbeitsaufnahme keine
Sozialleistungen in Anspruch nehmen würde. Er empfand das nicht als
Schikane. Schon als er nach Deutschland kam, besaß er ein
Ingenieursdiplom, das hier anerkannt wurde. Er wollte keinem auf der
Tasche liegen. Nikita sagt von sich, er sei kein Flüchtling, sondern ein
Einwanderer (obwohl er gute Gründe hatte, aus der Diktatur Lukaschenkos
zu verschwinden).
Trotzdem möchte er, dass Kriegsflüchtlinge hier in Deutschland Hilfe
bekommen, auch von seinen Steuern. Er versteht nur nicht, warum er auch
die staatliche Rundumfürsorge für abertausende nordafrikanische
Jungpaschas mitfinanzieren darf, die weder als politisch Verfolgte noch
Kriegsflüchtlinge kommen, aber auch kein nützliches Diplom mit sich
führen, dafür aber Ansichten über Juden, Frauen und Schwule hegen, die
sich kaum von der Weltsicht des letzten NPD-Holzschädels aus dem
Erzgebirge unterscheiden. „Warum“, fragt er, können die einfach so
kommen?" Ohne Asylgrund, ohne Sicherheitsleistung von tausenden Euro,
ohne Papiere, ohne Unterschrift unter eine Verzichtserklärung für
Sozialleistungen, dafür mit Taschengeld vom ersten Tag an? Und warum,
möchte er wissen, ist es so vielen Deutschen gleichgültig, dass immer
mehr Schwimmbäder Sicherheitskräfte einstellen müssen, um sexuelle
Übergriffe zu unterbinden, in aller Regel von jungen arabischen Männern?
Warum verkommen bestimmte Stadtviertel zu Mikroversionen eines Failed
State, beispielsweise die Gegend um das Kottbusser Tor in Berlin? Seit
kurzem besitzt Nikita einen deutschen Pass. Für ihn ist das ein
wertvolles Papier, das ihn unter anderem auch zum Wählen berechtigt.
„CDU, SPD, Grüne und Linke werde ich jedenfalls nicht wählen“, sagt er.
Ein anderer guter Bekannter von mir aus München würde gern lieber
heute als morgen das Land verlassen, in das er erst vor ein paar Jahren
kam, damals mit ähnlicher Begeisterung wie Nikita. Nennen wir ihn
Gideon. Er ist Jude aus Russland, seine Freundin stammt aus einem
mittelasiatischen Land und studiert hier. Dafür musste sie eine
Sicherheitsleistung von 7000 Euro hinterlegen und unterschreiben, dass
sie keine Hilfen aus deutschen Sozialkassen beansprucht. Bei einer
Pro-Israel-Demonstration in München 2014 sah und hörte er, wie junge
arabische Männer am Straßenrand standen und „Tod, Tod Israel“
skandierten. Seit September 2015 strömen hunderttausende neue junge
Araber nach Deutschland, die Juden ganz selbstverständlich für Feinde
der Menschheit halten.
Gideon liest die Nachrichten aus Europa anders als die meisten
Deutschen. Die Meldungen von dem Massaker im Jüdischen Museum in
Brüssel, von den antisemitischen Anschlägen in Frankreich. Hinter jeder
dieser Meldungen auf seinem Smartphone erscheint die Frage: Wann
passiert es hier? Auch Gideon denkt keinen Moment daran, wirklich
Hilfsbedürftigen die Unterstützung zu verweigern. Er findet nur, dass
Leute nicht zu den Schutzbedürftigen zählen, die einem Land und damit
einem Volk öffentlich den Tod wünschen. Zusammen mit seiner Freundin
will er gar nicht erst Göring-Eckardts drastische Änderung Deutschlands
bis zur Vollendung abwarten. Sein Plan sieht so aus: „Weg, sobald wie
möglich.“
Als nach den Silvesterübergriffen in Köln die Polizei plötzlich
Razzien im so genannten marokkanischen Viertel Düsseldorfs durchführten,
interessierten sich auch Journalisten für das, was die Einwohner dort
zu sagen hatten, vor Jahren, manchmal vor Jahrzehnten eingewanderte
Nordafrikaner, die dort Läden und Restaurants betreiben. Die
Neuankömmlinge, in der Polizeisprache Nafris, nordafrikanische
Intensivtäter, belagern dort die Straßen, stehlen in Läden, verkaufen
Drogen, belästigen Kunden und Gäste. Die Umsätze der Geschäftsleute
gehen stark zurück. Er habe überhaupt nichts gegen Leute, die Hilfe
bräuchten, sagte ein marokkanischer Gastwirt vor seinem Restaurant. Aber
die Leute hier, die kürzlich seine Gäste beklaut hätten, seien
überhaupt keine Flüchtlinge, sondern Straßenkriminelle aus Marokko. Was
man mit denen machen sollte? „Abschieben, sofort“, sagte der
Restaurantbetreiber in die Fernsehkamera. „In Marokko gibt es keinen
Krieg.“
Natürlich werfen Politiker und Medien den Erkläromaten an, um sich
eine neue schmucke Theorie für das aus ihrer Sicht unbegreifliche
Phänomen zu stanzen. In groben Zügen lautet diese Theorie
folgendermaßen: Etablierte Migranten konkurrieren mit den neuen um
knappe Güter wie staatliche Unterstützung, billige Wohnungen und
Arbeitsplätze. Außerdem fürchteten sie, ihr Image könnte unter Migranten
leiden, die nicht als Verfolgte kommen, und, um es vorsichtig
auszudrücken, die Möglichkeiten eines liberalen und reichen Landes wie
Deutschland so ausbeuten, dass es ausschließlich ihnen nutzt.
Die Erklärung ist gleich doppelt falsch. Erstens konkurrieren die
Etablierten nicht mit anderen um Stütze. In aller Regel leben sie
beruflich erfolgreich, oft als Unternehmer oder Selbständige. Gerade von
autochthonen deutschen Dies-und-das-Aktivisten unterscheiden sie sich
fast immer dadurch, dass sie keine staatlichen Subsidien in Anspruch
nehmen. Ihr Weg führte immer über die Arbeit in die Gesellschaft. Und
ein Imageschaden? Die allermeisten eingewanderten weißrussischen
Ingenieure, marokkanischen Gastwirte und iranischen Ärzte empfinden sich
ohnehin nicht als Teil eines Kollektivs mit zerbrechlichem Ruf, das
sich fürchten müsste, für die Taten anderer zu haften. Wieso auch?
Es ist ein anderer Punkt, der sie bei aller Eigenständigkeit
verbindet: Fast alle stammen aus gewalttätigen, anarchischen,
kollektivistischen Gesellschaften, entweder sie selbst oder ihre Eltern.
Deutschland erscheint ihnen eben deshalb als Paradies, weil es den
Gegenentwurf repräsentiert: zivilisiert, geordnet, und gleichzeitig mit
sehr viel Raum für ein Leben nach eigener Facon. Sie wünschen deshalb
gerade keine drastische Änderung Deutschlands. Sie möchten, dass es im
Wesentlichen so bleibt.
Wer die Alternative dazu kennengelernt hat, reagiert wahrscheinlich
empfindlicher als viele Biodeutsche, wenn die öffentliche Ordnung unter
dem Druck der Masseneinwanderung nachgibt. Wenn arabischen
Herrenmännchen in jungen Frauen vor allem verfügbares Material sehen.
Wenn in öffentlichen Räumen das Gewaltmonopol der Polizei flöten geht.
Wenn in manchen Teilen Berlins die in letzter Zeit angekommenen ganz
anderen Migranten das Recht des Stärkeren durchsetzen, wie es kürzlich
eine junge Frau im Berliner „Tagesspiegel“ beschrieb:
„Ich kam nachts gegen zwei Uhr aus dem Club „Matrix“ in der
Warschauer Straße und wollte nach Hause. Ein Typ folgte mir und fragte,
ob ich Drogen kaufen wollte. Ich habe ihn gebeten, mich in Ruhe zu
lassen. Er ging mir hinterher und kam mir so nahe, dass ich seinen Atem
auf meiner Haut spürte. Ich schrie. Er nannte mich eine Rassistin, weil
ich mit ihm, einem Schwarzen, keinen Sex wollte. Weil er immer
aggressiver wurde, wechselte ich die Straßenseite und schrie ihn weiter
an. Ein anderer Typ kam dazu und sagte, ich solle mich beruhigen.
Schließlich floh ich in den Dönerladen an der Revaler Straße, Ecke
Warschauer Straße – ich floh, dabei mache ich Kampfsport. Weil mein
Handy-Akku leer war, bat ich die Verkäufer, für mich die Polizei zu
rufen. Die haben sich glatt geweigert, sagten, sie wollten keinen Ärger.
Aber ich dürfe mein Handy laden! Draußen sammelte der Typ seine
Dealerfreunde. Einer kam rein und schrie mich an – ich sei eine dreckige
Schlampe, sie würden mich mit dem Messer draußen aufschlitzen, sobald
ich den Laden verlasse. Ich floh hinter den Tresen. Schließlich half mir
ein Pärchen aus Israel, obwohl die beiden kaum Deutsch sprachen und
daher nicht alles verstanden hatten, was passiert war. Der Polizist am
Telefon lachte kurz. ,Ach, da sind Sie, Revaler Straße, na das ist ja
kein Wunder‘, sagte er.“
Und noch ein anderer Punkt unterscheidet Nikita und den
marokkanischen Restaurantbesitzer bei allen sonstigen Differenzen von
den seit eh und je Deutschen: Der Vorwurf des Rassismus prallt an ihnen
wirkungslos ab. Sie wollen einfach nicht das pflichtgemäße
Zusammenzucken lernen, das sich nach Ansicht der Willkommensfraktion bei
jedem Kritiker der ungeregelten Masseneinwanderung nach dem Triggerwort
Rassist! einzustellen hat. Auch die sonstigen
Motivationssprüche beeindrucken die erfolgreichen Migranten nicht
sonderlich. Erstens der Topos, wir hätten durch den westlichen
Kolonialismus und die westlichen Waffenlieferung Schuld auf uns geladen:
Gerade die erfolgreichen und gebildeten Araber in Deutschland wissen im
Zweifel besser als aktivistische deutsche Journalisten, dass die arabischen
Länder eher kurz unter der westlichen Fuchtel standen, dafür aber sehr
lange zum osmanischen Kolonialreich gehörten. Und außerdem, dass im
Syrienkrieg höchsten die paar an die Peschmerga gelieferten deutschen
Sturmgewehre und Milan-Raketen eine Rolle spielen, ohne die Kobane
wahrscheinlich an den IS gefallen wäre, und dass es sich bei 99 Prozent
aller auf syrischem Boden eingesetzten Waffen um solide sowjetische
beziehungsweise russische Fabrikate handelt. Und auch das Narrativ, wir müssten ausnahmslos jeden über die Grenze lassen, "weil Opa für Adolf gekämpft hat"
(Jakob Augstein), finden sie für ihre Biografie nicht recht passend. Zu
allem Überfluss nehmen sie es sich auch noch heraus, Deutschland, siehe
oben, für ein gelungenes Land zu halten, und zwar in der Gestalt, in
der sie es kennengelernt hatten, und nicht in der drastisch verformten
Variante, auf die sich Katrin Göring-Eckhardt so intensiv freut, dass
es bei ihr zu vorzeitigen Salbaderergüssen kommt.
Nikita jedenfalls wird sich von ihr nicht so einfach aus seinem
Paradies verscheuchen lassen. Dafür ist er mittlerweile Patriot genug.
Von Alexander Wendt erschien zuletzt „Du Miststück. Meine Depression und ich“ (S. Fischer). Mehr auf dem Blog des Autors www.alexander-wendt.com
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