Stationen

Montag, 11. April 2016

Meine Depression und ich

Vor nicht ganz einem halben Jahr, am 20. November 2015, sagte die Grünenpolitikerin Katrin Göring Eckardt zwei Sätze, die das Format besitzen, auch und gerade in fünfzig Jahren noch zitiert zu werden: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Ich sage euch eins: ich freu mich drauf.
Inzwischen registrieren Parteivertreter von Göring-Eckhardts Grünen, von SPD und CDU allerdings eine Anomalie, die in ihrer Strategie so nicht vorgesehen war: Ausgerechnet  viele arrivierte Migranten in Deutschland wollen sich über die angedrohten drastischen Veränderungen nicht so richtig mitfreuen. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg bekam die AfD in vielen Gegenden überdurchschnittlich viele Stimmen von Einwanderern, die schon seit Jahren hier leben. Hätten professionelle Vielfaltsverfechter echte Bekannte und Freunde unter den etablierten Einwanderern, dann wüssten sie, warum.

Vor kurzem unterhielt ich mich mit einem Freund, der vor ein paar Jahren aus Weißrußland nach Deutschland kam, über die Massenmigration nach dem September 2015. Der Freund, nennen wir ihn Nikita, ist etwas über Mitte zwanzig, und arbeitet mittlerweile als Ingenieur in Süddeutschland.  „Deutschland“, sagte Nikita, „war für mich das Paradies, als ich hierher kam. Ich möchte nicht, dass dieses Paradies zerstört wird.“ Wie viele Einwanderer musste er eine Garantiesumme bei einer Deutschen Bank hinterlegen – in seinem Fall Fünftausend Euro – und unterschreiben, dass er bis zu seiner Arbeitsaufnahme keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen würde. Er empfand das nicht als Schikane. Schon als er nach Deutschland kam, besaß er ein Ingenieursdiplom, das hier anerkannt wurde. Er wollte keinem auf der Tasche liegen. Nikita sagt von sich, er sei kein Flüchtling, sondern ein Einwanderer (obwohl er gute Gründe hatte, aus der Diktatur Lukaschenkos zu verschwinden).


Trotzdem möchte er, dass Kriegsflüchtlinge hier in Deutschland Hilfe bekommen, auch von seinen Steuern. Er versteht nur nicht, warum er auch die staatliche Rundumfürsorge für abertausende nordafrikanische Jungpaschas mitfinanzieren darf, die weder als politisch Verfolgte noch Kriegsflüchtlinge kommen, aber auch kein nützliches Diplom mit sich führen, dafür aber Ansichten über Juden, Frauen und Schwule hegen, die sich kaum von der Weltsicht des letzten NPD-Holzschädels aus dem Erzgebirge unterscheiden. „Warum“, fragt er, können die einfach so kommen?" Ohne Asylgrund, ohne Sicherheitsleistung von tausenden Euro, ohne Papiere, ohne Unterschrift unter eine Verzichtserklärung für Sozialleistungen, dafür mit Taschengeld vom ersten Tag an? Und warum, möchte er wissen, ist es so vielen Deutschen gleichgültig, dass immer mehr Schwimmbäder Sicherheitskräfte einstellen müssen, um sexuelle Übergriffe zu unterbinden, in aller Regel von jungen arabischen Männern? Warum verkommen bestimmte Stadtviertel zu  Mikroversionen eines Failed State, beispielsweise die Gegend um das Kottbusser Tor in Berlin? Seit kurzem besitzt Nikita einen deutschen Pass. Für ihn ist das ein wertvolles Papier, das ihn unter anderem auch zum Wählen berechtigt. „CDU, SPD, Grüne und Linke werde ich jedenfalls nicht wählen“, sagt er.

Ein anderer guter Bekannter von mir aus München würde gern lieber heute als morgen das Land verlassen, in das er erst vor ein paar Jahren  kam, damals mit ähnlicher Begeisterung wie Nikita. Nennen wir ihn Gideon. Er ist Jude aus Russland, seine Freundin stammt aus einem mittelasiatischen Land und studiert hier. Dafür musste sie eine Sicherheitsleistung von 7000 Euro hinterlegen und unterschreiben, dass sie keine Hilfen aus deutschen Sozialkassen beansprucht. Bei einer Pro-Israel-Demonstration in München 2014 sah und hörte er, wie junge arabische Männer am Straßenrand standen und „Tod, Tod Israel“ skandierten. Seit September 2015 strömen hunderttausende neue junge Araber nach Deutschland, die Juden ganz selbstverständlich für Feinde der Menschheit halten.
Gideon liest die Nachrichten aus Europa anders als die meisten Deutschen. Die Meldungen von dem Massaker im Jüdischen Museum in Brüssel, von den antisemitischen Anschlägen in Frankreich. Hinter jeder dieser Meldungen auf seinem Smartphone erscheint die Frage: Wann passiert es hier? Auch Gideon denkt keinen Moment daran, wirklich Hilfsbedürftigen die Unterstützung zu verweigern. Er findet nur, dass Leute nicht zu den Schutzbedürftigen zählen, die einem Land und damit einem Volk öffentlich den Tod wünschen. Zusammen mit seiner Freundin will er gar nicht erst Göring-Eckardts drastische Änderung Deutschlands bis zur Vollendung abwarten. Sein Plan sieht so aus: „Weg, sobald wie möglich.“


Als nach den Silvesterübergriffen in Köln die Polizei plötzlich Razzien im so genannten marokkanischen Viertel Düsseldorfs durchführten, interessierten sich auch Journalisten für das, was die Einwohner dort zu sagen hatten, vor Jahren, manchmal vor Jahrzehnten eingewanderte Nordafrikaner, die dort Läden und Restaurants betreiben. Die Neuankömmlinge, in der Polizeisprache Nafris, nordafrikanische Intensivtäter, belagern dort die Straßen, stehlen in Läden, verkaufen Drogen, belästigen Kunden und Gäste. Die Umsätze der Geschäftsleute gehen stark zurück. Er habe  überhaupt nichts gegen Leute, die Hilfe bräuchten, sagte ein marokkanischer Gastwirt vor seinem Restaurant. Aber die Leute hier, die kürzlich seine Gäste beklaut hätten, seien überhaupt keine Flüchtlinge, sondern Straßenkriminelle aus Marokko. Was man mit denen machen sollte? „Abschieben, sofort“, sagte der Restaurantbetreiber in die Fernsehkamera. „In Marokko gibt es keinen Krieg.“
Natürlich werfen Politiker und Medien den Erkläromaten an, um sich eine neue schmucke Theorie für das aus ihrer Sicht unbegreifliche Phänomen zu stanzen. In groben Zügen lautet diese Theorie folgendermaßen: Etablierte Migranten konkurrieren mit den neuen um knappe Güter wie staatliche Unterstützung, billige Wohnungen und Arbeitsplätze. Außerdem fürchteten sie, ihr Image könnte unter Migranten leiden, die nicht als Verfolgte kommen, und, um es vorsichtig auszudrücken, die Möglichkeiten eines liberalen und reichen Landes wie Deutschland so ausbeuten, dass es ausschließlich ihnen nutzt.

Die Erklärung ist gleich doppelt falsch. Erstens konkurrieren die Etablierten nicht mit anderen um Stütze. In aller Regel leben sie beruflich erfolgreich, oft als Unternehmer oder Selbständige. Gerade von autochthonen deutschen Dies-und-das-Aktivisten unterscheiden sie sich fast immer dadurch, dass sie keine staatlichen Subsidien in Anspruch nehmen. Ihr Weg führte immer über die Arbeit in die Gesellschaft. Und ein Imageschaden? Die allermeisten eingewanderten weißrussischen Ingenieure, marokkanischen Gastwirte und iranischen Ärzte empfinden sich ohnehin nicht als Teil eines Kollektivs mit zerbrechlichem Ruf, das sich fürchten müsste, für die Taten anderer zu haften. Wieso auch?


Es ist ein anderer Punkt, der sie bei aller Eigenständigkeit verbindet: Fast alle stammen aus gewalttätigen, anarchischen, kollektivistischen Gesellschaften, entweder sie selbst oder ihre Eltern. Deutschland erscheint ihnen eben deshalb als Paradies, weil es den Gegenentwurf repräsentiert: zivilisiert, geordnet, und gleichzeitig mit sehr viel Raum für ein Leben nach eigener Facon. Sie wünschen deshalb gerade keine drastische Änderung Deutschlands. Sie möchten, dass es im Wesentlichen so bleibt.
Wer die Alternative dazu kennengelernt hat, reagiert wahrscheinlich empfindlicher als viele Biodeutsche, wenn die öffentliche Ordnung unter dem Druck der Masseneinwanderung nachgibt. Wenn arabischen Herrenmännchen in jungen Frauen vor allem verfügbares Material sehen. Wenn in öffentlichen Räumen das Gewaltmonopol der Polizei flöten geht. Wenn in manchen Teilen Berlins die in letzter Zeit  angekommenen ganz anderen Migranten das Recht des Stärkeren durchsetzen, wie es kürzlich eine junge Frau im Berliner „Tagesspiegel“ beschrieb:
„Ich kam nachts gegen zwei Uhr aus dem Club „Matrix“ in der Warschauer Straße und wollte nach Hause. Ein Typ folgte mir und fragte, ob ich Drogen kaufen wollte. Ich habe ihn gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Er ging mir hinterher und kam mir so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Ich schrie. Er nannte mich eine Rassistin, weil ich mit ihm, einem Schwarzen, keinen Sex wollte. Weil er immer aggressiver wurde, wechselte ich die Straßenseite und schrie ihn weiter an. Ein anderer Typ kam dazu und sagte, ich solle mich beruhigen. Schließlich floh ich in den Dönerladen an der Revaler Straße, Ecke Warschauer Straße – ich floh, dabei mache ich Kampfsport. Weil mein Handy-Akku leer war, bat ich die Verkäufer, für mich die Polizei zu rufen. Die haben sich glatt geweigert, sagten, sie wollten keinen Ärger. Aber ich dürfe mein Handy laden! Draußen sammelte der Typ seine Dealerfreunde. Einer kam rein und schrie mich an – ich sei eine dreckige Schlampe, sie würden mich mit dem Messer draußen aufschlitzen, sobald ich den Laden verlasse. Ich floh hinter den Tresen. Schließlich half mir ein Pärchen aus Israel, obwohl die beiden kaum Deutsch sprachen und daher nicht alles verstanden hatten, was passiert war. Der Polizist am Telefon lachte kurz. ,Ach, da sind Sie, Revaler Straße, na das ist ja kein Wunder‘, sagte er.“


Und noch ein anderer Punkt unterscheidet Nikita und den marokkanischen Restaurantbesitzer bei allen sonstigen Differenzen von den seit eh und je Deutschen: Der Vorwurf des Rassismus prallt an ihnen  wirkungslos ab. Sie wollen einfach nicht das pflichtgemäße Zusammenzucken lernen, das sich nach Ansicht der Willkommensfraktion bei jedem Kritiker der ungeregelten Masseneinwanderung nach dem Triggerwort Rassist! einzustellen hat. Auch die sonstigen Motivationssprüche beeindrucken die erfolgreichen Migranten nicht sonderlich. Erstens der Topos, wir hätten durch den westlichen Kolonialismus und die westlichen Waffenlieferung Schuld auf uns geladen: Gerade die erfolgreichen und gebildeten Araber in Deutschland wissen im Zweifel besser als aktivistische deutsche Journalisten, dass die arabischen Länder eher kurz unter der westlichen Fuchtel standen, dafür aber sehr lange zum osmanischen Kolonialreich gehörten. Und außerdem, dass im Syrienkrieg höchsten die paar an die Peschmerga gelieferten deutschen Sturmgewehre und Milan-Raketen eine Rolle spielen, ohne die Kobane wahrscheinlich an den IS gefallen wäre, und dass es sich bei 99 Prozent aller auf syrischem Boden eingesetzten Waffen um solide sowjetische beziehungsweise russische Fabrikate handelt. Und auch das Narrativ, wir müssten ausnahmslos jeden über die Grenze lassen, "weil Opa für Adolf gekämpft hat" (Jakob Augstein), finden sie für ihre Biografie nicht recht passend. Zu allem Überfluss nehmen sie es sich auch noch heraus, Deutschland, siehe oben, für ein gelungenes Land zu halten, und zwar in der Gestalt, in der sie es kennengelernt hatten, und nicht in der drastisch verformten Variante, auf die sich  Katrin Göring-Eckhardt so intensiv freut, dass es bei ihr zu vorzeitigen Salbaderergüssen kommt.
Nikita jedenfalls wird sich von ihr nicht so einfach aus seinem Paradies verscheuchen lassen. Dafür ist er mittlerweile Patriot genug.

Von Alexander Wendt erschien zuletzt „Du Miststück. Meine Depression und ich“ (S. Fischer). Mehr auf dem Blog des Autors www.alexander-wendt.com

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