In vorletzter Stunde deutet sich eine Umkehrung der Beweislast an.
Nicht mehr die Verteidiger des Nationalstaats, sondern die Euphoriker
der Globalisierung geraten unter Rechtfertigungsdruck. Die verheißene
Eine Welt, die sich wirtschaftlich, rechtlich, kulturell und personell
immer intensiver austauscht und annähert, um schließlich die grenzenlose
Heimat einer allumfassenden und unterschiedslosen Menschheit zu bilden,
verliert ihre Faszination und wird im eigenen Haus zum Alptraum. Die
Ahnung, daß die gewaltsame Abschaffung der Nationalstaaten für die
Mehrheit ihrer Bürger mit unübersehbaren Risiken und Nebenwirkungen
verbunden ist, wird zur statistischen Gewißheit.
Um in Deutschland zu bleiben: Was nützt der Titel des Export-Welt-
oder Vizeweltmeisters, wenn die Exportwaren teilweise vom eigenen
Steuergeld beglichen werden, gleichzeitig der Reallohn sinkt und im
Gegenzug ein massenhafter Import sogenannter Anspruchsberechtigter
stattfindet, der die Sozialsysteme überstrapaziert und die Abgabenlast
und Kriminalität hochtreibt? Bunter Ethno-Kitsch bringt keine
geistig-kulturelle „Bereicherung“ – ein Wort übrigens, das inzwischen
aus dem öffentlichen Sprachgebrauch weitgehend verschwunden ist – und
kompensiert nicht den Rückgang der durchschnittlichen Lese- und
Schreibkompetenz.
Lächerlich wirkt der Gebrauch des Adjektivs „weltoffen“, bei dem nie
ganz klar ist, welche belastbaren Einsichten, Kenntnisse und Kompetenzen
es bezeichnet. Seine Benutzer wollen signalisieren, daß sie den inneren
Provinzmuffel überwunden haben und über den nationalen Tellerrand
hinausblicken. In Wahrheit sind die Propagandisten der Weltoffenheit
außerstande, die Würde, Überzeugungsstärke und Verbindlichkeit zu
erfassen, welche die anderen Kulturen für deren Träger besitzen. Die
multikulturelle Perspektive ist nur die Transzendierung der eigenen
Beschränktheit, ein provinzieller Größenwahn!
Großbritannien konnte sich aufgrund seiner weltbeherrschenden
Stellung lange Zeit leisten, seinen Nationalismus mit dem
Kosmopolitismus zu identifizieren. Nun zieht es sich aus einer
supranationalen Organisation, der EU, zurück, weil der politische
Instinkt der Wählermehrheit besagt, daß sein soziales Gefüge, seine
Identität und der Rechtsfrieden sich nicht innerhalb, sondern nur gegen
die Brüsseler Restriktionen aufrechterhalten lassen.
Frankreich, das die republikanische Idee als seine Weltmission
versteht, schafft es nicht einmal, die Einwanderer aus seinen ehemaligen
Kolonien sozial und ideell zu integrieren und lebt offiziell im
Ausnahmezustand. Hier formiert sich der nationale Widerstand unter der
Fahne des Front National.
Die Niederländer, die sich in Fragen des Liberalismus und der Toleranz
gern als Weltmacht aufführten, favorisieren inzwischen eine Partei, die
dem Land die Selbstbestimmmung zurückgeben will. In den osteuropäischen
Ländern will ohnehin niemand die nationalen Kompetenzen nach Brüssel
oder an globale Organisationen delegieren. Das Ende des Nationalstaats
läßt noch auf sich warten.
Im Konflikt zwischen den Globalisten und Internationalisten auf der
einen und den Anhängern des Nationalstaats erneuert sich der überwunden
geglaubte Klassenkampf. Zur ersten Gruppe zählt Rainer Hank,
Wirtschaftsredakteur der FAZ, unter anderem die „Investmentbanker,
Operndiven, Star-Ökonomen und alle übrigen Lonely-Planet-Traveller“.
Ihnen eröffnet die Globalisierung großartige Chancen. Für eine
Mehrheit ist die globale Dauermobilität und -flexibilität weder möglich
noch erstrebenswert, die anfallenden Kosten müssen sie dennoch tragen.
Fällt der Nationalstaat als schützende Instanz weg, stehen sie der
Übermacht der „Global Player“ schutzlos gegenüber.
Der Ruf nach „mehr Europa“ führt unter den gegebenen Umständen
gleichfalls in die Irre. Das Dublin-Abkommen hat den Massenansturm auf
Deutschland nicht aufgehalten und nicht einmal abgebremst. „Mehr Europa“
heißt vor allem, daß die weniger leistungsfähigen Länder den Zugriff
auf die Kassen der leidlich funktionierenden Volkswirtschaften erstreben
und im übrigen ihren Schlendrian fortsetzen wollen.
„Mehr Europa“ bedeutet auch, daß ein Zauberlehrling aus dem Hause
Goldman Sachs als oberster europäischer Währungshüter waltet. Zwar kann
er kein Stroh zu Gold spinnen, doch er kann immer neue Strohfeuer
entzünden, indem er, vom Europäischen Gerichtshof abgesegnet, die
Ersparnisse der Deutschen verbrennt.
Noch brutaler und unheimlicher würde sich ein Weltstaat auswirken.
Jüngst hat eine UN-Arbeitsgruppe in Deutschland „strukturellen
Rassismus“ festgestellt, fehlende Minderheitenrechte für Afrikaner und
das „racial profiling“ – die Überprüfung von Personen nach äußeren
Merkmalen – kritisiert, das freilich auf Erfahrungswerten aus der
Kriminalitätsbekämpfung basiert.
Die indigene Bevölkerung soll also die ungefragte Einpflanzung
fremder, schwer kompatibler Kulturen nicht nur hinnehmen, sondern sogar
privilegieren und die Verschlechterung der eigenen Lage klaglos
akzeptieren. Das wäre das Gesetz des Dschungels im Namen der Weltethik.
Es ist Mode geworden, den Nationalstaat als „Konstrukt“ abzuwerten,
als die materielle Verwirklichung einer Fiktion, die man im Umkehrschluß
auch dekonstruieren und durch zeitgemäßere Fiktionen ersetzen kann.
Daran ist richtig, daß der Entstehung der europäischen Nationalstaaten
offenbar keine global gültige Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, denn sonst
hätten weltweit vergleichbare Prozesse stattgefunden. Sie ist das
Ergebnis besonderer kultureller, politischer und technischer Faktoren
und auch von Zufällen.
Das dabei entstandene „Konstrukt“ ist ein hart erarbeitetes Privileg,
das den Rahmen abgibt für den Rechts- und Sozialstaat, für die
Wertschätzung des Bildungsgedankens, die Ablösung des Stammes- und
Clanwesens, die individuelle Freiheit, für die Verinnerlichung eines
informellen Regelwerks, das auf Vertrauen basiert, das die
gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Abläufe vereinfacht
und sie leistungsfähig macht.
Dieses „Konstrukt“ ist eine bewährte Realität; auf ihr beruht
letztlich auch die Attraktivität Europas für die Dritte Welt. Deshalb
ist es nicht beliebig austauschbar. Daran ändert auch der Nationalismus
nichts, der in seiner chauvinistischen Übersteigerung zu furchtbaren
Exzessen geführt hat. Nicht die Abschaffung, sondern die behutsame
Fortentwicklung des Nationalstaats ist also das Gebot der Stunde. Wer
etwas anderes sagt, beansprucht eine Herrschaftsrolle. Für die anderen
will er den Dschungel. Thorsten Hinz
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