Günter Grass und Ernst Jünger bilden als ‚linker‘ und
‚rechter‘ Schriftsteller einen fast schon idealtypischen Gegensatz. Sie
könnten in ihren ästhetischen Programmen und in ihrem politischen wie
gesellschaftlichen Selbstverständnis kaum unterschiedlicher sein. Umso
frappierender fällt Grassʼ intensive Beschäftigung mit Ernst Jünger auf.
In Mein Jahrhundert wird kein anderer
Schriftsteller von Grass so ausführlich gewürdigt wie ausgerechnet Ernst
Jünger. (Umgekehrt pries Ernst Jünger an Grassʼ Roman Das weite Feld „die wunderbare Sprache des Romans“). Bei Mein Jahrhundert
handelt es sich um keinen geschlossenen Text, sondern um eine Sammlung
100 kurzer narrativer Prosastücke, von denen jedes für eines der 100
Jahre zwischen 1900 und 1999 steht und wichtige Entwicklungen oder
Ereignisse des betreffenden Jahres literarisch verarbeitet. Nur die
Jahre des Ersten Weltkrieges, 1914 bis 1918, werden auf eine in dieser
Text-Sammlung ansonsten einmalige Art und Weise aus dem Gesamtgefüge
dadurch herausgehoben, dass sie eine erzählerische Einheit bilden. Unter
Zuhilfenahme einer narrationstechnischen Verfremdungssituation werden
diese Jahre, Jahre des Schreckens und massenhaften Sterbens in den
Schützengräben, einer Erzählerin in den Mund gelegt, die erst im
Wohlstandsfrieden nach dem Wirtschaftswunder Mitte der 1960er-Jahre nach
den Geschehnissen im Ersten Weltkrieg zu fragen beginnt und zu diesem
Zweck zwei Zeitzeugen einlädt, die gegensätzlicher nicht sein könnten:
die Kriegsschriftsteller Erich Maria Remarque und Ernst Jünger. Beide
fungieren als Augenzeugen, werden aber nicht, wie eigentlich zu
erwarten, als Gegensätze ausgespielt, sondern letztlich in einer
Erinnerungsgemeinschaft vereint, die das Erleben gemeinsamer Schrecken
über unterschiedliche politische Wertungen dieses Erlebens stellt.
Gemeinsames Gedenken, so die Grassʼsche Botschaft, versöhnt.
Jünger und Remarque wären damit in Mein Jahrhundert
die beiden meistgenannten Schriftsteller, würde Ernst Jünger dort nicht
später noch einmal auftreten und so noch vor Remarque in die
privilegierte Rolle des meistgenannten Autors gerückt werden: Jünger
findet abermals Erwähnung im Kapitel „1984“, das dem symbolisch der
Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich dienenden historischen
Besuch des französischen Präsidenten François Mitterand und des
deutschen Kanzlers Helmut Kohl auf dem ehemaligen Schlachtfeld von
Verdun gewidmet ist. Jünger war tatsächlich an diesem Treffen beteiligt
(ihn zu erwähnen aber ist die Entscheidung von Grass).
Wichtiger als solche Erwähnung ist der direkte literarische Einfluss von Jünger auf Grass. Jüngers Erzählung Aladins Problem von 1983 und Günter Grass’ Erzählung Unkenrufe
von 1992 weisen in Thematik und erzählerischer Ausgestaltung
verblüffende Parallelen auf. In beiden Texten wird der Versuch
unternommen, eine völkerübergreifende Gedenk- und Versöhnungs-Utopie
fiktional auszugestalten. Beide wählen als Gegenstand dafür einen
fiktiven Friedhof, der den ewigen Frieden der Verstorbenen sichern und
ihnen posthum menschliche Gerechtigkeit widerfahren lassen soll.
Jüngers Erzählung ist der in Ich-Form verfasste
Lebensbericht des Protagonisten Friedrich Baroh. Im Klappentext heißt
es, Namen, Orte und Daten wären lediglich Motive, die keine Realität für
sich beanspruchten, sondern nur entfernt an historisch reale Vorbilder
anklängen. Der Text spielt an zwar verfremdeten, durch die Entfremdung
hindurch aber noch deutlich erkennbaren Orten, deren bloße Nennung die
Vertreibung der Deutschen aus Schlesien aufruft.
Die Erzählung des ersten von vier Teilen setzt nach dem
2. Weltkrieg in Liegnitz ein, das seit 1945 Legnica heißt, also in einer
durch die Westverschiebung Polens polnisch gewordenen früheren
deutschen Stadt. Der dort noch immer lebende Deutsche Baroh ist letzter
Nachkomme des durch den Heerführer berühmt gewordenen schlesischen
Adelsgeschlechts der Blüchers und wählt nach dem Abschluss des
Gymnasiums eine für die Familientradition typische militärische Laufbahn
in der Armee – bei der es sich nun freilich um die polnische Volksarmee
handelt. In der Kriegsschule lernt er einen jungen Hauptmann mit dem
deutsch-polnischen Namen Jagiello Müller kennen. Der ermöglicht ihm die
Flucht nach Westberlin. Nach dem Studium steigt Baroh in das
Bestattungsunternehmen seines Onkels ein und arbeitet sich dort im
zweiten Teil der Erzählung hoch, um im dritten Teil mit zwei
gleichgesinnten Freunden das Bestattungsunternehmen ,Terrestra‘ zu
gründen, dessen Ziel die völkerübergreifende Pflege des Totenkultes in
einer anatolischen Totenstadt ist. Barohs Idee entsteht
bezeichnenderweise auf dem Weg nach Verdun, „der Hauptstadt des
Friedens“. Das Projekt ‚Terrestra‘ speist sich aus dem Unbehagen an der
modernen Begräbniskultur und verspricht als international angelegtes
Unternehmen die Befriedigung des Bedürfnisses nach einer wirklich
gesicherten ewigen Ruhestätte. Es wird zum überwältigenden kommerziellen
Erfolg. Die Begräbnisstätte wird angelegt in den in Tuffstein
geschlagenen Felsenstädten bei „Ürgüp, in der Mitte von Anatolien“,
einem Ort, der als Musterbeispiel eines interkulturellen Ortes dienen
mag (und durchaus dem Grassʼschen Interesse für Orte mit national
heterogener Geschichte – wie Danzig – entspricht). Dort sollen Gräber
„auf ‚ewige‘ Dauer“ verpachtet werden. Am Ende, so das Versprechen, wäre
die Welt vereint im Totengedenken. Obwohl das Geschäft floriert, zieht
Baroh, abgestoßen vom Kommerz, sich schließlich in mystisch anmutende
neue Aufgaben und Sphären zurück, deren konkrete Gestalt nur diffus
angedeutet wird.
Gewalt und Tod, Krieg und Verlust sind ‚Urerfahrungen‘
von Grass wie Jünger. Beide begannen ihre schriftstellerische Karriere
als tabubrechende Bürgerschrecke, die diese Erfahrungen verarbeiteten.
Das Werk beider lebt von der – stilistisch sehr unterschiedlichen –
Verarbeitung grauenhaft hässlicher Wirklichkeit, eine wenn auch jeweils
andere Ästhetik des Hässlichen ist beiden nicht fremd. Vergleicht man
nun die Unkenrufe mit Aladins Problem zeigen sich trotz
aller Unterschiede in Stil und Handlung zahlreiche Übereinstimmungen. In
beiden Texten münden deutsch-polnische Lebensgeschichten in der von der
Zeit des Nationalsozialismus und ihren Folgen, insbesondere der
Vertreibung der Deutschen im Zuge der Westverschiebung, geprägten langen
Nachkriegszeit in ein utopisches Friedhofsprojekt. Wendet Baroh sich
jedoch bei Jünger von Schlesien aus ins Universelle (und schließlich
sogar Transzendentale), bleibt bei Grass der deutsch-polnische Fokus als
konkreter Bezugspunkt stets erhalten. Grass bleibt bei aller
Visionskraft Realist, Jünger in aller Realitätskritik Visionär.
Jüngers ,Terrestra‘ mit dem an das lateinische ,terra‘
(Erde) angelehnten, science-fiction-haft anmutenden Namen, in dem die
Erde zur planetarischen Einheit verschmilzt, entspricht bei Grass in
etwas kleinerem Maßstab eine ,Deutsch-Polnische Friedhofsgesellschaft‘,
die nach den Wunden, die Krieg und Vertreibung beiden Seiten, den
Deutschen wie den Polen, geschlagen haben, Aussöhnung zumindest der
Toten in einem gemeinsamen Friedhofsprojekt ermöglichen soll. Beide
Projekte wachsen über die Erwartungen der Protagonisten hinaus. Ihnen
droht, in Kommerz und groß dimensionierten Alltagsgeschäften zu stranden
und durch ihren eigenen Erfolg korrumpiert zu werden. Wo Jüngers
Projekt jedoch ins Phantastische wächst und schließlich nur durch
mystische Weiterungen relativiert werden kann, bleibt das Grassʼsche
Projekt immer zurückgebunden an die bürokratisch und menschlich
schwierige Wirklichkeit.
Wie Jünger geht Grass von deutsch-polnischen
Verstrickungen aus, wird jedoch historisch konkret, wo Jünger nur die
enigmatische Lebensgeschichte des deutschen Adeligen in der
kommunistischen Volksrepublik imaginiert: Bilder der Zerstörung von
Danzig, die brennenden Häuser der Altstadt, Knochenfunde in den
Kirchengruften, das Konzentrationslager Stutthof und anderes mehr
verweisen viel deutlicher auf die leidvolle und von deutscher Schuld
belastete Geschichte als Jüngers eher abstrakte Reflexionen eines
intellektuellen Militärs in geistunfreundlicher Kasernenumgebung, die
dem klassischen Plot deutscher Bildungsgeschichten entsprechen: Der
Einzelne arbeitet sich bei Jünger aus einer ihm unangemessenen Umgebung
heraus und durchbricht als das transzendentale Ich der idealistischen
Tradition der deutschen Philosophiegeschichte die Hemmungen einer nur
realen Wirklichkeit.
Grass hingegen spaltet sein Personal deutsch-polnisch und
dialogisch auf: In symmetrischer Konstruktion begegnen einander 1989 in
Gdańsk ein Deutscher und eine Polin, beide aus ihrer Heimat vertrieben,
er aus, sie nach Gdańsk. Sie hatte als Kind Wilno, er Danzig verlassen
müssen. Beide sind nun verwitwet, „durch Tod des Ehegefährten
freigestellt und abermals mündig“, beide nach einem Leben in jeweils
einer der beiden Hälften des bis 1989 gespaltenen Europa. Selbst die
Namen spiegeln die Konstruktion wider: Er heißt Alexander, sie heißt
Alexandra. Die beiden sind deutlich als Zwillingswesen angelegt. Beide
beschäftigen sich beruflich mit der Vergangenheit, beide studierten
Kunstgeschichte. Sie sind vom Erzähler daraufhin angelegt, einander zu
entsprechen und zu ergänzen. Selbst noch ihre äußere Gestaltung erweist
in ihrer Stereotypenhaftigkeit den Konstruktions- und Modellcharakter
der beiden füreinander geschaffenen Figuren: Bei ihr, Alexandra, handelt
es sich selbstverständlich um eine attraktive, eine schöne und
elegante, eine vielleicht sogar zu elegante Polin, bei ihm, Alexander,
um einen vom ‚linken‘ Zeitgeist auch äußerlich geprägten hageren
Deutscher mit der „rundglasige[n] Brille in nußbrauner Fassung“, die ihm
erlaubt, „gelehrtenhaft dreinzuschaun“.
Ihre gemeinsame, so ähnliche und doch wiederum
spiegelverkehrt unterschiedliche Geschichte führt zwangsläufig zu
wechselseitiger Reflexion und intensivem Austausch über das Vergangene
und den Umgang mit ihm. Insbesondere der Deutsche Alexander hat sich von
den organisierten deutschen Vertriebenen abzusetzen und persönliche
Erfahrung durch historisches Wissen um Schuld und Zusammenhänge zu
relativieren, aber auch um den Fortgang der Geschichte seither: „Mir
allerdings war nur Trauer möglich, die sich durch mittlerweile
geschichtlich gewordene Tatsachen relativiert hat.“ Erst der gemeinsame
Rückblick am Lebensabend und unter steter deutlicher Nähe des Todes
erlaubt ihm eine neue biographische Authentizität und die Utopie einer
Heimat, die zwar verloren, aber doch im Tod durch einen Akt symbolischer
Versöhnung wiedergewonnen werden könne: „die uns eigentümliche Heimat
ist schuldhaft und endgültig vertan worden –, aber das Recht der Toten
auf Heimkehr könnte, sollte, dürfte angemahnt werden.“
Daraus entsteht die „erdgebundene Versöhnungsidee“ einer
Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft, deren Ziel es ist, Deutschen
aus Danzig zu ermöglichen, sich im nun polnischen Gdańsk bestatten zu
lassen. Am Ende wird die in der Erzählanlage anvisierte versöhnende
Symmetrie jedoch ebenso aufgegeben und in ein Außerhalb des Textes
verlagert (wie bei Jünger der Ort der mystischen Transzendenz) mit dem
Ergebnis, dass diese Idee einer Versöhnung durch die Möglichkeit einer
Rückkehr der Toten in die Erde ihrer Heimat vorerst nur für die
Deutschen gelten soll. Die mit Blick auf Alexandra eigentlich notwendige
Erweiterung der Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft zu einer
Deutsch-Polnisch-Litauischen wird hintangestellt.
Als Ort der Versöhnungsgräber ist der ehemalige Park des
25. Jahrestages der Volksrepublik Polen auserkoren, genau der Ort, wo
sich vor 1945 (und noch bis 1949) die Vereinigten Friedhöfe befunden
haben. Wie bei Jünger soll der Ort der Gräber an versunkene historische
Vielfalt erinnern, Gemeinsamkeit im Tod ermöglichen. Und wie bei Jünger
wird bei Grass aus der Idee respektive Utopie rasch ein hartes Geschäft ˗
,Bungagolf‘ ˗, in dem die Gründer bloß ein Störfaktor sind. Aber die
Verwirklichung ihrer Idee lässt sich nicht aufhalten, auch sie selbst
vermögen das nicht. Schließlich wird dem Paar statt der Geschäftsführung
der Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft der Ehrenvorsitz über
dieselbe vorgeschlagen. Die Kontrolle über die Finanzen wird ihnen
entzogen. Wie bei Jünger hat sich die Idee im Zuge ihrer Ausführung zur
kapitalistischen Karikatur ihrer selbst verselbständigt.
Bei Jünger tritt an dieser Stelle die bereits aus
früheren Werken bekannte mystische Figur Phares in Aktion und ruft Baroh
in überirdisch höhere Sphären, die es ihm erlauben, die Wirklichkeit zu
transzendieren. Ein solcher deus ex machina ist für Grass weder
weltanschaulich noch ästhetisch möglich – wo es Jünger um eine die
Wirklichkeit übersteigende Schreibweise geht, legt Grass Wert auf
Sinnlichkeit und Immanenz. Kritik an dem Projekt wird deshalb nicht aus
seiner Gegenüberstellung mit dem Transzendentalen heraus möglich (aus
dem heraus Jüngers Ich-Erzähler bereits auf die ‚Terestra‘ wie auf etwas
Überwundenes zurückblickt), sondern durch den Erzähler, der die
Geschichte Alexandras und Alexanders im Auftrag seines ehemaligen
Schulkameraden Alexander aus dessen Tagebuch rekonstruiert (wie bei
Jünger also aus dem Rückblick erzählt). Er kommentiert diese mit Worten,
die sein Nicht-Einverständnis dokumentieren: „[D]as ist eine Furzidee.“
Erfolgte bei Jünger der Rückblick auf die science-fiction-haft
anmutende Geschichte aus einem transwirklichen Jenseits, erlaubt sich
Grass fast so, als wollte er noch möglichst viel von Jüngers
Erzählkonstruktion in seinen Text transponieren, einen Rückblick aus
einer Zukunft, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Unkenrufe
(1992) nur Science-Fiction sein konnte: Der Erzähler rekonstruiert das
Geschehen im Jahre 1999. Dies ermöglicht ihm den nötigen Abstand, um zu
bewerten, was als Utopie noch durch seine Ablehnung hindurch als eine
Vision lebendig bleibt, die an der Realität zwar scheitert, ihre
utopische Kraft aber noch im Scheitern behält.
Grassʼ Erzähler überblendet dieses Scheitern mit der
Geschichte der von Grass abgelehnten politischen Entwicklungen wie
beispielsweise der deutschen Einheit, genauer: der Art und Weise, wie
diese zustande kam: „Hat nicht der lautverstärkte Ruf ,Wir sind ein
Volk!‘ das Geflüster der Liebenden, ihr leises ,Wir sind ein Fleisch‘
übertönt?“ Damit entsteht ein Widerspruch zwischen
historisch-ökonomischer Entwicklung und der privaten Liebesgeschichte
von Alexandra und Alexander. Wie bei Jünger driften individuelle
Biographie und Entwicklung des Projekts auseinander, wie bei Jünger
gerät das Projekt in die Hände der Geschäftemacher (denen Grass ja auch
die von ihm abgelehnte Art und Weise der deutschen Wiedervereinigung
vorhält), während die Helden sich der weiteren Entwicklung entziehen. Wo
bei Jünger freilich der männliche Einzelne sich aus der Welt hinaus
transzendiert, wächst bei Grass das Paar zusammen und als „ein Fleisch“
in ihrer erotisch-sinnlichen Begegnung aus ihrer Welt (und dem Projekt)
hinaus. Selbst der eher ablehnende Erzähler kann seine Faszination
dieser Liebe gegenüber nicht verbergen: „Fast bewundere ich, wie die
beiden, gehoben von ihrer Idee, mehr und mehr abseits ihrer Nationen
lebten, oder sich ihnen überstellt begriffen.“
Wie aber kann, wie soll dies enden? Grass kann die Liebe
nur zu einem finalen Ende führen, einer raschen Bewegung aus dem
genossenen Augenblick in einen bei ihm transzendenzfreien Tod hinein.
Das alte Glücks- und Sehnsuchtsmotiv „Neapel sehen und sterben“ wird zur
Grundmelodie des deutsch-polnischen Todes, der Alexandra und Alexander
endgültig vereint: „Na, wenn ich schon gesehn hab Neapel, kann ich ja
sterben gleich.“ Ein Autounfall zwischen Rom und Neapel führt sie jenem
raschen Ende entgegen, das den Erzähler überhaupt erst zum Erben der
hinterlassenen Aufzeichnungen macht. Noch im Tod freilich wird das
Projekt der Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft relativiert,
vielleicht sogar auf eigenartige Weise transzendiert: Die beiden werden
auf einem italienischen Dorffriedhof namenlos begraben. Wie bei Jünger
sind sie am Ende weit jenseits dessen, was sie ursprünglich vorhatten.
Beide Autoren lassen die utopische Idee literarisch
scheitern am ökonomischen Zug der Moderne, denen die Hauptfiguren beider
Erzählungen am Ende entgehen. Scheitern ist, so könnte man sagen, in
das jeweilige Projekt eingeschrieben und stellt sich dann ein, wenn das
Utopische einer Kommerzialisierung zum Opfer fällt, sich die Moderne in
dem durchsetzt, was gegen sie gerichtet war. Den Helden bleibt dann nur
noch der rettende oder tödliche Auszug aus der Welt.
In ihrer gegen ihre Zeit (bei Grass gegen die ‚moderne‘
Ökonomisierung der Nachwende-Welt, bei Jünger gegen die Moderne
schlechthin) gerichteten Stoßrichtung bezeugen beide Erzählungen
Defizite in der kollektiven Wahrnehmung und Erinnerung, die auf einen
partiell tabuisierten Umgang mit der Geschichte zurückzuführen sind.
Vielleicht ist hier Jünger mit seiner verwirrenden Platzierung des
ersten Teils von Aladins Problem in einem leicht irreal wirkenden
polnischen Schlesien noch ‚tabubrechender‘ als Grass, der seinem, dem
Leser bereits bekannten Lebensthema Danzig treu bleibt. Jedenfalls
entwickeln beide von der schwierigen deutsch-polnischen Geschichte,
beide von einst deutschen und heute polnischen Schauplätzen aus ihre
Geschichte. Bei allen Unterschieden rühren sie damit an das kollektive
Gedächtnis mindestens zweier europäischer Völker – und zwar zu
Zeitpunkten, zu denen die gemeinsame Aufarbeitung naher Vergangenheit
noch weniger weit entwickelt war als heute.
Sie schreiben sich in die Wunde des Vergessens, in die
Tabus oft noch gegeneinander gerichteter gemeinsamer Verdrängung ein. So
kommt es zu den erstaunlichen Parallelen zwischen dem ‚linken‘
Großautor Grass und dem ‚rechten‘ Großautor Jünger – und natürlich auch
deshalb, weil Grass Jünger gelesen und daraus seine Schlüsse gezogen
hat: Er holt Jüngers ins Transzendentale weisende Utopie auf den Boden
der deutsch-polnischen Wirklichkeiten zurück, um von dort aus dem
revanchistischen Denken eine klare Absage zu erteilen, dem Jüngers Text
mit seiner Evokation eines deutschen Schlesien sich stellenweise
gefährlich nähert. Und dies sowohl inhaltlich als auch durch die für
Grass durchaus typische Ausgestaltung des unzuverlässigen Erzählers, der
in seiner gebrochenen Haltung einem anderen Geschichtsbild verpflichtet
ist, als der bis zuletzt ernst bleibende, monolithische Erzähler Ernst
Jüngers. Wo Jünger auktoriale Würde inszeniert, die letztlich
transrealer Stützung bedarf, konzentriert sich Grass auf die humane
Vergänglichkeit scheiternder Menschen. So finden seine Protagonisten ein
reales Grab in fremder Erde, während Jüngers Held die Welt verlässt, um
in ein Unbestimmtes zu verschwinden, das kein Grab ist, sondern dessen
Leugnung. Gabriela Ociepa
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