95 Prozent der Zuschriften indes sind erfreulich, etwa jene von Leser ***, der meine Worte zitiert
"Als
ein den Geistesdingen Wohlgesonnener und Homme de lettres pflege ich
eine gewisse Distanz gegenüber den fürs Technische und Bezifferbare
Empfänglichen"
und dazu schreibt:
"Ich empfehle Ihnen Distanzlosigkeit.
Wo
wären wir heute, wenn die fürs 'Bezifferbare Empfänglichen' die Welt
ausschließlich den Geistes'wissenschaftlern' überlassen hätten?
Die
Erde wäre noch immer eine Scheibe. Sie würden sich darauf bestenfalls
auf einem Pferd schneller fortbewegen, oder wären mit hoher
Wahrscheinlichkeit schon Pest, Cholera oder einer anderen
Infektionskrankheit erlegen. Eine Blinddarmentzündung hätte auch
gereicht.
Im Besitz ihrer absoluten geistigen Wahrheit hätten
Heilsbringer die Welt bereits erfolgreich zerstört. Leider begreifen sie
es einfach nicht und versuchen es immer wieder.
Vermutlich ist
die Überheblichkeit der Geisteswissenschaftler indirekt proportional zu
deren Fähigkeit zu falsifizierbarem und exaktem naturwissenschaftlichen
Denken.
Mit freundlichen Grüßen
***
Dipl.-Ing."
Gewiss
doch, alles richtig. Dass der momentane Zustand der
Geisteswissenschaften beklagenswert ist, sei unbestritten. Nur
"Geistes"wissenschaftler_innen konnten sich ausdenken, dass Geschlecht
ein "Konstrukt" sei und Gender-Mainstreaming eine Lösung für Probleme,
von denen außer ein paar Okkultisten niemand etwas wusste, oder dass es
keine Menschenrassen gebe, aber weiße Männer am Elend des Planeten
schuld seien, oder dass ausgerechnet die alte BRD, im konkreten Fall mit
Blick auf den Starnberger See, eine "Risikogesellschaft" gewesen sei.
Die Abiturienten- und Habitiliertenschwemme ist ein Problem der
Geisteswissenschaften, wo man auch als Plattkopf mit einer gewissen
trendkonformen Flexibilität und der richtigen Gesinnung bzw.
Anprangerung der falschen durchkommt, während ein Trottel in den
Naturwissenschaften sofort auffiele. Aber wie armselig wäre eine
Bibliothek ohne die großen Philosophen oder ohne Autoren wie Jacob
Burckhardt, Dilthey, Max Weber, Friedell, Mommsen, Luhmann, um nur ein
paar deutsche Namen zu nennen? Und wie sähe die Welt aus, wenn man sie
allein den Praktikern und Berechnern überließe? Was bliebe im
Technikerparadies von den überflüssigen Schönheiten dieses Planeten, den
natürlichen wie den geschaffenen, übrig? Merke Gómez Dávila: "Der
Teufel hat heute eine geometrische Form."
Wie ich an dieser
Stelle bereits ausführte, lösen sich der Widerspruch auf, wenn man sich
entschließt, die Dinge goethisch zu sehen, sich sowohl für die
Naturwissenschaften als auch für die Geistesdinge – und die Künste! –
interessiert, sie als etwas Zusammengehörendes begreift, in ihnen lebt
und webt, und zwar ohne Scheu vor dem unausweichlichen Dilettantismus,
in den sich in unserer überkomplexen Welt jeder begibt, der über sein
kleines Fachgebiet hinaus geistige Interessen pflegt und sich möglichst
viel "Welt" aneignen will. MK am 15. 5. 2017
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