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Dienstag, 17. Oktober 2023

Bekenntnis eines Schweizer Weltenbummlers: Liebe zu Deutschland

Meine Mutter, Dozentin für Mathematik und Musik, machte aus ihrer abgrundtiefen Abneigung gegen alles Deutsche nie einen Hehl. Sie parliert akzentfrei Italienisch und Französisch, doch ihre deutsche Muttersprache war stets durchdrungen von Helvetismen und jenem eigentümlich sperrigen Schweizer Tonfall. Wenn sie in ein überspitztes Bühnendeutsch verfiel, dann nur, um sich über die Deutschen zu mokieren. Und wehe, wenn sie ein deutsches Nummernschild auf der Autobahn sichtete. Sie fand immer etwas zu meckern: zu schnell, zu langsam, eine lächerliche Farbe, und überhaupt.

Im Schicksalsjahr 1933 geboren, war sie ein Kriegskind, insofern verständlich. Doch alle anderen Nachbarländer waren uns damals kaum freundlicher gesinnt. Meine Mutter ist kein Einzelfall. An Schweizer Schulen legt man bis heute viel Wert auf akzentfreie Fremdsprachen – aber bitte kein sauberes Hochdeutsch. Das käme schlecht an. Auch und erst recht im Rundfunk.

Meine Mutter reiste viel und gerne, wir waren oft in Italien, Frankreich oder England. Doch in meiner ganzen Jugend war ich nie in Deutschland. Obwohl die Grenze gerade mal eine halbe Stunde entfernt war. Österreich existierte für uns eh nur saisonal, wenn gerade ein Skirennen lief. Vielleicht liegt es daran, dass wir Schweizer nie recht wussten, wer wir sind. Wir wissen nur, was wir sicher nicht sind: Deutsche oder Österreicher.

Deutschland, der grosse Bruder, war für die Eidgenossen stets Bedrohung wie auch Inspiration. Die Schimpfworte «Sauschwabe» und «Kuhschweizer» wurden im 15. Jahrhundert erstmals schriftlich dokumentiert. Heimlich bewundern wir ihren Schneid. Die Deutschen reden schneller, als wir denken können. Nur leise zweifeln wir bisweilen, ob sie überhaupt denken – oder ob das alles nur angelernte Plattitüden sind. Und wenn Deutsche «Pass mal auf!» rufen, verschanzen wir uns reflexartig im geistigen Alpenreduit. Erst recht, wenn sie im Rudel aufkreuzen.

Erstmals richtig in Kontakt kam ich mit Deutschen als Teenager, in Israel, wo ich in den 1970er Jahren eine längere Zeit lebte. Bei meiner Freundin – einer Tochter von Shoa-Überlebenden aus München – gingen viele Deutsche ein und aus. Wir hatten alles andere im Kopf als das Dritte Reich, doch ich erfasste erstmals, wie schwer sich die Deutschen mit ihrer Geschichte tun.

Typischerweise entschuldigten sich unsere Freunde dauernd und ungefragt für ihre Herkunft, was mir idiotisch erschien. Die Germanophobie meiner Mutter trug bei mir nie Früchte. Dagegen hatte sie mich gelehrt, Sippenhaft und Kollektivschuld als barbarische Konzepte abzulehnen. Ich hadere schon genug mit meinen eigenen Schandtaten. Was meine Vorfahren im Schlechten oder auch im Guten angerichtet haben, liegt nicht in meiner Verantwortung. Bisweilen verspürte ich einen Hauch von Mitleid mit meinen Freunden, die für etwas Busse taten, wofür sie nichts konnten. Wenn mich etwas an den Deutschen störte, dann die Manie, alle zu belehren und die Welt retten zu müssen.

Als mich das Schicksal in den 1980er Jahren nach Südamerika verfrachtete, lernte ich das deutsche Wesen unter einem neuen Licht kennen, unbefleckt vom ewigen Nazithema. Mein Nachbar in Peru zum Beispiel hatte vor seiner Haustür, weitherum sichtbar, ein Hakenkreuz aufgebaut. Er züchtete deutsche Schäferhunde. Als ich ihn ermunterte, sich doch bitte ein appetitlicheres Firmenemblem zu erdenken, konnte er meinen Bedenken überhaupt nicht folgen. Er verkaufe keine Schosshunde, erwiderte er, die Swastika repräsentiere genau das, was seine Kunden wünschten: knallharte Disziplin, einen scharfen Biss, Treue und Gehorsam bis zur Selbstaufgabe, Zucht und Ordnung.

Dass viele Nazis Unterschlupf fanden bei den Diktatoren Juan Domingo Perón und Alfredo Stroessner, die ihren Respekt für Mussolini und Hitler nie verhehlten, ist sicher kein Zufall. Doch die meisten Deutschen – übrigens auch Juden – waren viel früher nach Südamerika zugewandert. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Immigranten, die sich schnell mit den Einheimischen vermischten, blieben viele Deutsche unter sich.* So sind heute geschätzte 1,5 Millionen Brasilianer deutscher Muttersprache. Namentlich in Paraguay, Uruguay, Argentinien und Chile gibt es ganze Landstriche, wo Deutsch gesprochen wird. 

Und sie geniessen einen hervorragenden Ruf, die Deutschen. Es mag klischiert anmuten, aber es ist so: Die Deutschen gelten als fleissig, redlich, tüchtig. Sie sind so zuverlässig wie ihre Ingenieurskunst. Auch wenn sie schon seit Generationen hier leben. Ein Handschlag mit einem Deutschen, das weiss jedes Kind hier, ist mehr wert als hundert notariell beglaubigte Verträge mit einem Latino.

Der Odebrecht-Clan mit seinen über den ganzen Kontinent verteilten, milliardenschweren Bauunternehmen ist ein tragisches Beispiel vom Glanz deutscher Massarbeit. Wie alle andern zahlte Odebrecht Bestechungsgelder für Staatsaufträge, was in dieser Weltgegend leider so unvermeidlich ist wie das Almosen in der Kirche. Der einzige Unterschied: In deutscher Gründlichkeit führte Odebrecht eine detaillierte Buchhaltung über die korrupten Zahlungen. Das wurde der Firma zum Verhängnis. Heute steht ihr Name für den wohl grössten Korruptionsskandal aller Zeiten. Was nichts daran ändert, dass die Bauwerke von Odebrecht preisgünstig und stets von bester Qualität waren.

Meine Liebe zu Deutschland entdeckte ich erst gegen die Jahrtausendwende, als ich während mehrerer Jahre für die Zeitschriften Stern und Geo arbeitete. Die Hamburger haben mich mit offenen Armen empfangen, ich fühlte mich in der Stadt sofort zu Hause. Selten habe ich so viel Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfahren. Die durchzechten Nächte mit Freunden und Kollegen im Hafenviertel werden mir auf ewig in bester Erinnerung bleiben.

Die strikte Hackordnung im Betrieb war gewöhnungsbedürftig. In der Schweiz ist ein Chefredaktor bestenfalls ein Primus inter Pares. Seine Befehle werden, sofern er solche erteilt, eher als Empfehlung wahrgenommen, der man erst mal mit Skepsis begegnet. Und wenn einer mit grandiosen Ideen brilliert, fahren ihm die Bedenkenträger schnell in die Parade. Die egalitären Eidgenossen sind allergisch auf Führerfiguren. Es gilt das Rasenmäherprinzip: Wer den Kopf zu weit in die Höhe streckt, wird zurückgestutzt. Welch ein Kontrast zur zackigen germanischen Betriebskultur.

Kurioserweise fügte ich mich schmerzlos in dieses System ein. Werner Funk, damals Chefredaktor beim Stern, genoss den Ruf eines Tyrannen. Schon beim Einstellungsgespräch meldete ich unbeschwert meine Kritik am Heft an. Funks Assistentin erstarrte förmlich, doch der alte Haudegen schien meine Unverschämtheit zu goutieren. Vielleicht war es auch bloss eine Laune. Jedenfalls hatte ich eine Stunde später einen mehr als passablen Vertrag in der Tasche.

In Hamburg war ich stets ein Aussenseiter. Mein Hang zur politisch unkorrekten Querulanz ist vermutlich angeboren, wenn nicht pathologisch. Wenn alle in eine Richtung rennen, weiche ich instinktiv aus. Vor allem bei Geo sorgten meine flammenden Plädoyers für die Atomenergie – meines Erachtens neben dem Wasser die sauberste und nachhaltigste Stromquelle – und den freien Markt, gegen den «Drittweltismus» oder den Mythos des edlen Wilden für Irritation und rote Köpfe. Doch niemand verbot mir deshalb das Wort. Und mehr als einmal hörte ich den Satz: «Als Schweizer kannst du halt Dinge aussprechen, die wir Deutsche nicht mal denken dürfen.»

Womit wir zurück bei der Geschichte wären. Ich ergreife schon deshalb gerne Partei für Deutschland, weil es schlicht unfair ist, diese grossartige Nation auf zwölf Jahre Nazihorror zu reduzieren. Der Nationalsozialismus und sein Führerprinzip waren keine exklusiv deutschen Erfindungen, sondern in weiten Teilen eine Kopie des von Mussolini erfundenen Duce-Kults, der sich damals im Schwange eines unseligen Zeitgeistes um die halbe Welt ausgebreitet hatte. Was die Verbrechen der Nazis so einzigartig macht, ist die deutsche Gründlichkeit, mit der sie umgesetzt wurden.

Die grosse Schwäche der Deutschen ist gleichzeitig ihre grösste Stärke: eine kurze und stabile Leitung zwischen Wort und Tat. Was man verspricht, wird auch erfüllt. In Italien galten während des Zweiten Weltkrieges mehr oder minder dieselben Rassengesetze wie in Deutschland. Nur wurden diese nicht bis zur letzten Konsequenz umgesetzt. Die Deportationen und der Massenmord setzten erst mit der deutschen Besatzung im September 1943 ein, wobei die Überlebenschancen italienischer Juden, gemessen an jenen der deutschen, immer noch doppelt so hoch waren.

Immerhin: Anders als die Italiener, die sich stets als Opfer des Faschismus sahen, haben die Deutschen die volle Last der Schuld auf sich genommen. Es reicht jetzt, finde ich. Als Zugewandter plädiere ich dafür, dass diese einzigartige,  faszinierende Nation ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte und Identität endlich normalisiert. Es geht nicht ums Vergessen. Doch nur wer seine Stärken und Schwächen richtig einschätzt, kann die richtigen Schlüsse ziehen und aus seinen Fehlern lernen. Und dazu ist ein entspannter Blick auf die Geschichte unabdingbar.

Alex Baur

 *Und viele Juden! Juden und Deutsche sind die verschlossensten Gemeinschaften Südamerikas.

 

 

Max Liebermann - Münchner Biergarten

 Liebermann und Mendelssohn-Bartholdy, zwei Juden, die meine Eltern liebten (sie wussten nicht, dass die beiden Juden waren und hassten Orff und Barlach, die sie für Juden hielten und deren Kunst sie als entartet empfanden). Oh ja, wir Deutschen tun uns schwer mit dieser tief einschneidenden, tragischen Zeit, die immer noch nachwirkt. Wir tun uns schwer, wenn wir nicht völlig kaltschnäuzige Menschen sind. Gerade redliche, kluge Menschen tun sich schwer, weil sie nicht nur den Geschichten der eigenen Vorfahren misstrauen, sondern gleichermaßen den Aufklärern, die sie zu kritischen Bürgern erziehen wollen und, sei es aus Schlamperei, sei es in böser Absicht und aus moralistischer Eitelkeit dabei selber gedankenlos ungerecht werden und hemmungslos lügen. Und beide, die verklärenden Beschwichtiger und die aufklärenden Alarmierer glauben unerschütterlich die eigenen Lügen. Ich habe lange gebraucht, um da hindurch zu finden. Als es kein Internet gab, musste man Zeit in Bibliotheken verbringen, downloaden konnte man nicht, und die Belege, die man in seriösen Quellen sammelte, mussten fotokopiert werden, da es sich meist um vergriffene Bücher handelte. In dieser Hinsicht ist das Internet wirklich ein Segen.

 

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