„Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte“ – vielen gilt diese Inschrift nicht nur als Inbegriff des „alten“ Preußens, sondern ganz allgemein des unantastbaren Grundrechts eines jeden Menschen auf Gewissensfreiheit. Und in der Tat steht hinter diesem Spruch eine in vielerlei Hinsicht hochinteressante Geschichte, die uns auch heute zu denken geben sollte.
Für das Verdienst
Johann Friedrich Adolf von der Marwitz entstammte einem alten märkischen Adelsgeschlecht und trat wie die meisten seiner Standesgenossen der preußischen Armee bei. Mit nur 17 Jahren brachte er es zum Kommandeur des Regiments „Gens d‘armes“ und führte dieses in der Schlacht bei Zorndorf mit Auszeichnung. Auch in der Schlacht bei Hochkirch tat von der Marwitz sich hervor. Als aber 1761, gegen Ende des Siebenjährigen Krieges, die preußischen Truppen das kurfürstlich-sächsische Jagdschloss Hubertusburg mitsamt seiner prächtigen Innenausstattung eroberten, beauftragte Friedrich der Große von der Marwitz mit der Ausräumung des Anwesens, denn er hatte die Plünderung von Charlottenburg 1760 durch die Russen, Österreicher und Sachsen und somit den Verlust seiner Antikensammlung nie verwunden.
Von der Marwitz, Träger des „Pour le mérite“, weigerte sich, wie es heißt, denn ein solcher Auftrag „würde sich allenfalls für den Offizier eines Freibataillons schicken, nicht aber für einen Kommandeur Seiner Majestät Gens d‘armes“, und bat um Abschied aus dem Heer, der ihm sofort gewährt wurde.
Folgerichtig fiel er beim preußischen König in Ungnade und zog sich in die innere Emigration zurück. Erst viele Jahre später, im Bayerischen Erbfolgekrieg, sollte er erneut als Generalkriegskommissar für Prinz Heinrich von Preußen ins Heer eintreten und wurde schließlich, gegen Ende seines Lebens, zum Generalmajor befördert, bevor er 1781 starb.
Sein Neffe, Friedrich August Ludwig von der Marwitz, ließ dann auf den Grabstein folgende, bis heute vielfach zitierten Worte setzen: „Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in all seinen Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“
Konstruktiver Widerstand
Nun ist der genaue Hintergrund jener Ereignisse wie so viele Preußenlegenden in der Forschung nicht ganz unumstritten; aber nicht darum soll es hier gehen, denn „se non è vero, è ben trovato“: Vielmehr wollen wir diese kleine Geschichte zum Anlaß nehmen, uns einmal genauer mit der Frage nach den moralischen Werten zu beschäftigen, die unser Leben in letzter Instanz zu leiten haben, auch wenn uns dies zur Frontstellung gegen Staat, Gesellschaft und selbst Familie zwingt – und natürlich mit der Überlegung, was dies alles mit dem „alten Preußen“ zu tun hat.
Die Lehre jener Geschichte ist denkbar simpel: Auch (oder gerade?) im Preußen zur Zeit des „Alten Fritz“ war konstruktiver Widerstand gegen die Staatsgewalt möglich, wenn deren Order mit dem eigenen Wertekorsett kollidierte; und wenn der Preis dafür auch vorübergehende Ungnade war, schloß dies, nachdem die Wogen sich geglättet hatten, eine spätere Rehabilitierung keineswegs aus. Und in der Tat sind die Preußenbücher voll von kauzigen Anekdoten, welche allesamt demonstrieren sollen, daß Friedrich II., wiewohl ein Mensch wie alle anderen und durchaus rasch zu erzürnen, als „philosophe“ über die Fähigkeit verfügte, seine Eigeninteressen doch einem allgemeinen Rechtsverständnis unterzuordnen – man denke nur an die berühmte Mühle von Sanssouci.Kein Wunder, daß das „alte Preußen“ (nicht nur in Deutschland) auch heute noch, wo Zeiten und Moralverständnis paradoxerweise gleichzeitig sowohl relativistischer als auch untoleranter geworden sind, als Vorbild einer idealen Rechts- und Gesellschaftsordnung beschworen wird. Und tatsächlich mag es gute Gründe dafür geben, sich in das 18. Jh. zurückzuwünschen; die Frage ist allerdings, inwieweit dies wirklich genuin etwas mit dem Begriff der „preußischen Tugenden“ zu tun hat, oder nicht vielmehr erheblich tiefere Wurzeln aufweist.
Das Erbe der Ritter
Denn wenn die Erzählung um die Ungnade des von der Marwitz eines zeigt, so gerade nicht die tiefere moralische Qualität des preußischen Staates an sich, der ja, wie jeder andere absolutistische Staat, ganz vom Willen des Herrschers abhing und über keine oder doch nur wenige institutionell fest eingebaute Bremsen und Korrekturinstrumente verfügte: Nur solange der König selbst fähig zur Selbstkritik war, konnte der letztlich lediglich auf Effizienz ausgerichtete preußische Machtapparat auch auf eine moralisch hochstehende Weise eingesetzt werden. Gerade die werte-mäßige Neutralität Preußens, in dem jeder „Nach seiner Façon selig werden“ soll, und in dem „nur die Seelen dem Untertan gehören, alles andere aber dem König“, ist insoweit also kein Beispiel für einen moralischen Idealstaat, sondern vielmehr die Blaupause für den Verwaltungsstaat der Moderne, der viel mehr mit dem geistigen Erbe Kants und somit Preußens zu tun hat als etwa mit dem Modell des Heiligen Römischen Reichs und seinen doppelten wesensmäßigen Pfeilern von Subsidiarität und christlichem Transzendenzbezug.
Denn die Werte, auf die von der Marwitz sich ultimativ bezog, stammen nicht ultimativ aus dem Gesetzbuch des preußischen Staates: Friedrich II. mochte zwar dessen erster Diener sein, war aber letzten Endes als „König und Herr“ auch dessen faktisch letztinstanzliche positive Rechtsquelle. Die Werte, die zur Ungnade führten, entstammten vielmehr einem Ehrgefühl, dessen Wurzeln viel tiefer reichten und sich keineswegs ein bloß historisch gewachsenes, im Kern also akzidentelles aristokratisches „Standesverhalten“ reduzieren lassen und auch nur bedingt mit jenen „preußischen Sekundärtugenden“ wie Fleiß, Pünktlichkeit, Sparsamkeit oder Ehrlichkeit zu tun haben, die allesamt nur prozedurale, nicht aber ontologische Bedeutung haben.
Denn der Aristokrat, ob in Preußen oder sonstwo, ist in seiner Essenz nicht etwa die militarisierte Variante des Beamten, sondern vor allem der späte Abkömmling des mittelalterlichen Ritters, dessen gleichsam metaphysische Freiheit und Unabhängigkeit ihn (im Gegensatz etwa zur feudalen Gebundenheit des Bauern) mehr als alle anderen auch dazu zwingt, sich im Rahmen des christlichen Liebesgebots aktiv für das Recht der Schwachen einzusetzen: Größeres Recht bringt auch größere Verantwortung zum Handeln, auch wenn zweifellos das Gottesgesetz für jeden gleichermaßen gilt.
Gehorsam oder Gewissen?
Die Plünderung herrenlosen Guts widerspricht, selbst im Krieg, der im Dekalog begründeten Pflicht zum Respekt vor dem Besitz des anderen, und so sehr der Wunsch nach persönlicher Vergeltung für angetanes Unrecht auch ein psychologisch verständliches Argument sein mag, so ist dessen „wilde“, staatsrechtlich und moralisch ungedeckte Ausführung doch eine Tat, die gerade für den echten, also selbstverantwortlichen Adligen ultimativ als unritterlich gelten muß und höchstens jenen überlassen werden kann, die sich in die unmittelbare Abhängigkeit des Herrschers begeben haben und entsprechend als bloße Verlängerungen seines Willens fungieren.
Freilich: Gerade die alt-preußische Geschichte jener Zeit, als dieser rein voluntaristische Militärstaat, der heute an der Weichsel und morgen am Rhein liegen konnte, da seine Identität ganz in seinem Heer und seiner Verwaltung aufging und weder eine nationale noch eine konfessionelle Identität besaß, ist voll von kauzigen Anekdoten des grollend vom Herrscher akzeptierten „Widerstands“ gegen die Staatsgewalt.
Doch wäre es falsch, diesen kurzen historischen Ausschnitt verabsolutieren oder gar zu einer statischen Utopie ausbauen zu wollen. Denn was hier moralisch ausgetragen wurde war nichts anderes als der erste Akt jenes Dramas, dessen Höhepunkt wir heute erleben: Der Kampf zwischen dem gottes- und naturrechtlich verankerten Gewissen des Einzelnen auf der einen Seite und dem immer erbarmungsloseren Druck einer werte-losen Verwaltung auf der anderen, die im Namen angeblich „rechtsstaatlicher“, beständig relativistisch verschobener Prinzipien und Prozeduren bedingungslosen Gehorsam einfordert.
Das alte Preußen, das aufgrund seiner institutionellen „Modernität“ diesen Konflikt früher und radikaler austrug als seine Nachbarn, konnte ihn noch provisorisch dadurch lösen und sogar in eine positive Dynamik umleiten, weil sowohl Adel als auch König sich in letzter Instanz auf ein Wertegerüst beriefen, das außerhalb des preußischen Gesetzbuchs verankert war. Denn wenn Herrscher wie Volk fest in Tradition und Herkommen verankert sind, bedarf es weder vieler Gesetze noch institutioneller Gegengewichte, wenn auch schon der alte Zyniker Friedrich II. dieses Wertegerüst entsprechend dem Geist seiner „aufgeklärten Zeit“ nur noch als pragmatischen Sozialkitt verstehen und konservieren konnte.
Die ehrenlose Mehrheit
Nur nach der schrecklichen Erfahrung der Französischen Revolution konnte dann auch in Preußen – für eine kurze Zeit – verstanden werden, daß die „Dialektik der Aufklärung“ ultimativ die Rechtssicherheit des Einzelnen eher zerstörte als garantierte, und nichts weniger bedeutet dann auch die von Friedrich Wilhelm IV. angebrachte Inschrift auf der Kuppel des Berliner Stadtschlosses, welche in grundlegend unfriderizianischer Art die letztlich werteneutralen „preußischen Tugenden“ erneut explizit in der christlichen Transzendenz verankern sollte.Doch war diese Einsicht nur von kurzer Dauer, denn rasch wurde der Gottesbezug der Restaurationszeit durch die Absolutierung der Nation, des Fortschritts, der Rasse und der Klasse ersetzt, um heute schließlich durch diffuse Begriffe wie „Klimakampf“, „Minderheitenschutz“ oder „Menschenrechte“ abgelöst zu werden, deren hoher Moralingehalt letztlich nur eine dürftige Fassade dafür ist, daß der durch Gottes- und Naturrecht gesetzte, absolute und transzendent begründete gesellschaftliche Rahmen des Abendlands durch den Relativismus des „Aushandelns“ ersetzt worden ist und der aus Aufklärung und Preußentum hervorgegangene moderne Staat sich mit Haut und Haar zum Handlanger jener neuen Götzen gemacht hat.
Kein Wunder, daß die Inschrift an der Kuppel des Berliner
Stadtschlosses im Mittelpunkt einer heftigen Debatte steht, bei der es
ultimativ um nichts weniger geht als um die Letztbegründung unseres
Handelns: Ist es jenes von oben eingegebene „Ehrgefühl“, dem von der
Marwitz gerne die königliche Gunst opferte? Oder ist es das Diktat eines
absolut gesetzten Staates, der die ontologische Freiheit des Einzelnen
längst durch das Gebot der Unterwerfung unter die ständig schwankende
und beliebig manipulierbare angebliche „Mehrheit“ ersetzt hat? David Engels
Diese von David Engels verfasste Erörterung ist die bisher beste Antwort auf eine Frage, die mich lange beschäftigt hat. Ich bin erst vor etwa 10 Jahren zu derselben Schlussfolgerung gekommen, aber ich hätte es nicht so elegant formulieren können. Ich war bei dem Fazit angekommen, dass das Böckenförde-Dilemma ohne Gottesgnadentum oder einer ihm gleichwertigen Awareness nicht gelöst werden kann, und dass Adam Smiths "Unsichtbare Hand" nur deshalb funktionieren konnte, weil es sichtbare Hände gab, die Gott gehorchten (und man sich darauf verlassen konnte, dass sie straften).
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