Interessant ist, dass Nietzsches Wort von der "Umwertung aller Werte" immer falsch, nämlich als Umkehrung aller Werte verstanden wird. Es handelt sich aber erstens nicht unbedingt um eine vertikale Drehung, sondern eher um eine horizontale, jedenfalls um eine, die den Einfallswinkel des Lichts auf alle Objekte (i.e. Werte) ändert. Und zwar nicht im selben Grade! Denn nicht alle Objekte sind gleich weit von der Quelle des Lichts entfernt.
So war zum Beispiel die Ausbreitung des Christentums keine Umkehrung aller Werte, sondern eine Umwertung. Augustinus hat diese Umwertung durch Vergleiche mit den Schriften Homers (z.B. das Verhalten der Goten bei der Plünderung Roms verglich er mit dem der Achäer bei der Plünderung Trojas) erläutert.
Noch interessanter ist die Frage, wie es zu diesem bornierten Missverständnis kommen konnte, denn hierfür gibt es zwei Möglichkeiten. Die stumpfsinnigere Variante ist die des paranoiden Deliriums. Der halbgebildete Kleinbürger reagiert aus Verunsicherung panisch und assoziiert bei dem Wort "Umwertung" das Bild einer als teuflisch empfundenen Umkehrung. Diese stumpfsinnige Mentalität war vor 50 Jahren im sich gebildet dünkenden halbgebildeten Milieu des akademischen Bürgertums der Vor-BAFöGzeit sehr verbreitet. Wie bei jedem pseudoelitären Milieu - ein solches war das akademische Bürgertum, bevor Willy Brandt plötzlich die Universitätszugänge verdoppelte, verdreifachte, vervierfachte... - neigte auch dieses zu Ghettobildung, Abkapselung, geistigem Inzest und sklerotischen Wertvorstellungen, wobei die liebgewordene Gewohnheit zur ewigen Wahrheit umgedichtet wird (auch das ist eine Umwertung!).
Aber es gibt auch einen ganz anderen Weg zum selben Missverständnis. Wie sehr war ich überrascht, als ich bei einer wirklich sehr gebildeten Jüdin auf dasselbe Missverständnis traf. In diesem Fall ist nicht Paranoia die fatale Weichenstellung, sondern Projektion. Die jüdische Vorliebe fürs Paradox führt zur Angewohnheit, alles umdrehen zu wollen. Jeder der mit Juden Umgang hat, wird bemerkt haben, dass der Tick, Redensarten, Sprichwörter und andere Parolen ironisch umzuformen und scheinbar oder tatsächlich ihren Sinn ins Gegenteil zu wenden (für Juden wurde die Wendigkeit in der Not oft zur Notwendigkeit), sehr verbreitet ist. Ein Jude, der Nietzsche so falsch versteht wie ein bornierter deutscher, protestantischer "Bildungsbürger", tut bei Nietzsche genau das, was er sonst nie tut: er schließt von sich auf andere.
Hinzuzufügen wäre, dass es - jenseits der nietzscheschen Einschränkungen, die so gerne von Relativisten, Konstruktivisten und Subjektivisten ausgeschlachtet werden - Wahrheit eben doch gibt. Nur ist es schwierig, sich ihr zu nähern und sie nicht mit dem zu verwechseln, was wir im nietzscheschen Sinne Wahrheit nennen, obwohl es sich nur um liebgewordene Unwahrheiten handelt.
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