In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Spießbürger eher der rechten und konservativen Gesinnung, die die Lufthoheit über die Stammtische der jungen Republik innehatten. Wenn wir den rheinischen Karneval als Messlatte deutscher Biederkeit anerkennen, stellt sich heraus: Der Spießer von einst ist längst im Ruhestand. Wo früher turnusmäßig über die Sozis hergezogen wurde, um sie für alles Übel verantwortlich zu machen, fliegen die Pfeile heute in die entgegengesetzte Richtung, um auf gewohnt holprige Lachart die Rechten als bedrohlichen Dauerbrenner festzustellen.
Die Wachablösung verlief schleichend. Schon 1983 zog die Hamburger Punkband „Slime“ in einem Song über „Linke Spießer“ her. Erstaunlich scharfsichtig hieß es damals schon über Lehrer und Beamte, Gelehrte, Sozialarbeiter und Studenten: „Immer kritisch und politisch/Marx und Lenin auf dem Nachttisch/Ihr seid nichts als linke Spießer/Ihr habt nichts dazugelernt.“ Und als 2001 die Rockband „Blumfeld“ von der „Diktatur der Angepassten“ sang, waren damit die Linkskonformen gemeint und der Mainstream bereits hinreichend nach links verschoben, sodass es für eine rot-grüne Bundesregierung reichte. Schon zwei Jahre zuvor schrieb Norbert Bolz ein ganzes Buch über „Die Konformisten des Andersseins“, jenen neuen Typus von Opportunisten, die ihre Mäntelchen nunmehr im Wind des progressiven Kritischseins flattern ließen. Deutsche Biederkeit gibt sich seither im Zweifel linksdurchtönt.
Zu verdanken ist dies den Kohorten der Babyboomer, die mit Popkultur, Kritischer Theorie und 68er-Pädagogen aufwuchsen. Später gründeten sie Familien, schlossen Bausparverträge ab und saßen wie ihre Eltern abends vorm Fernseher. Wer sich einst „forever young“ wähnte, wurde zum Leistungsträger der Gesellschaft. Das Herz schlug weiterhin links, der juvenile Vorsatz „Born to be wild“ versteinerte in der Pose des rot-grün wählenden Wohlstandsbürgers. Der Schrebergärtner von heute hört nicht mehr Blasmusik, sondern AC/DC. Kritik als Attitüde, nicht als Praktik, ist das neue Angepasstsein. Allein die schiere Masse der Babyboomer rückte den Mainstream der Republik nach links.
Statisten der politischen Meteorologie
Nur
dadurch wurde es überhaupt möglich, dass die CDU als traditionelle
politische Heimstatt deutschen Biedersinns unter Führung der
Endloskanzlerin Merkel ihre Drift Richtung Sozialdemokratie und Grüne
vollzog, wovon sich die Union bis heute nicht erholt hat. So, wie der
politische Konservatismus sein Obdach verlor, so suchte der Phänotyp des
ewigen Spießers im linken Zeitgeist Unterschlupf.
Natürlich sind linke Spießer keine ernsthaften Sozialisten oder gar Kommunisten. Vielmehr sind sie, wie zu allen Zeiten, willfährige Statisten der jeweiligen politischen Meteorologie. Sobald es die Wolkenfronten der Geschichte in andere Richtungen zieht, wird auch das Spießertum bereitwillig folgen. Wenn Spießer sein bedeutet, mit minimalem Kenntnisstand maximal Recht haben zu wollen, dann muss die Überzeugung dieses Menschenschlages notgedrungen flexibel bleiben.
Spießbürger werden so genannt, weil die Waffe der städtischen Unterschicht in mittelalterlichen Siedlungen der Spieß war. Bei der Abwehr von adeligen Ritterheeren dienten sie mit ihren günstig herstellbaren Waffen als städtische Fußtruppen, die in Schlachten oft siegreich und deshalb zunächst hochangesehen waren. Später litt ihr Leumund, „vielleicht weil man zu den Spießbürgern nur die ärmsten und untauglichsten wählete, dagegen die reichern bessern zu Pferde dieneten“, heißt es in einem Wörterbuch von 1811. „Jetzt gebrauchet man es nur im verächtlichen Verstande von einem jeden geringen Bürger.“
Spuren einer Geisteshaltung
Es war dieser Typus,
der es in seiner Niedertracht zu Hitlers Gefolgschaft brachte und später
als Feindbild die Protestbewegung von 1968 mitentfachte. Auf ihrem
Marsch durch die Institutionen wollte die vermeintlich antiautoritäre
Bewegung die patriarchale Geisteshaltung der Alten möglichst besenrein
entsorgen. Allerdings sollte Spießigkeit sich als hartnäckiger
herausstellen als erwartet.
Denn die offen autoritären Eltern und Großeltern vererbten wesentliche Charakterstrukturen auf Kinder und Enkel. Ihre besserwisserische Verbohrtheit gepaart mit Gefühlen persönlichen Ungenügens sind in den nachfolgenden Generationen quicklebendig. Waren rechte Spießer aus Unsicherheit strukturell konservativ, wurden ihre Kinder zu linken Spießern und aus Unsicherheit strukturell ideologisch.
Wie ehemalige Außenseiter inzwischen progressiv domestiziert wurden, lässt sich exemplarisch an Homosexuellen beobachten. Einst zählten sie zur unbürgerlichen Avantgarde, mittlerweile zieht es sie in die gesellschaftliche Mitte. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften können sich gar nicht bieder genug geben und turnen heteronormative Ehe- und Elternmodelle nach. Gesellschaftliche Anerkennung um jeden Preis und bloß nicht aus der Reihe tanzen, lautet seit jeher die Devise des rechten wie linken Spießers.
Auch der Antisemitismus ist seit geraumer Zeit nicht mehr allein in der Regie rechtsextremer Eiferer. Michael Wolffsohn spricht in seinem Buch „Nie wieder? Schon wieder!“ (Herder) von einer judenfeindlichen Allianz aus „Ganz-Rechten“, mehr noch aber aus „muslimischen Neudeutschen“ sowie „alt-einheimischen Linksextremisten“ und „ihren bürgerlich-linksliberalen Landsleuten“ (siehe hierzu auch das Interview in PAZ 5/2023).
Wo sich Geschichte wiederholt
Auch so kann die Ewiggestrigkeit der Linken zum Ausdruck gebracht werden. Holger Fuß
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