Stationen

Dienstag, 24. Mai 2016

Wundervoller Osten

22.Mai 2016 – Das Eigene und das Fremde: Wir sind ja bestenfalls Möchtegernselbstversorger. Wir bessern uns. Die (meisten) Kinder waren heilfroh, als im März der letzte Kürbis über den Tisch gegangen war. Die Kartoffel- und Rote Beete-Vorräte hingegen waren für alle Geschmäcker zu früh erschöpft.

Heute vorjährige Schwarzwurzeln geernet, Blätter ergeben einen guten Salat. Äpfel, unser Lieblingsnahrungsmittel (allein in Form von Apfelchips sind diesen Winter Tonnen vertilgt worden), sind eben gerade zur Neige gegangen, sieht man von Apfelsaft und -wein ab. Der letzte Kirschkuchen aus eigenen Kirschen wurde im Café Schnellroda vertilgt.
Die Ziegen sind gerade hochproduktiv, kein Gericht ohne in Molke gekochtem Gemüse, ohne Überbackenes, selbst Butter muß seit Wochen nicht mehr eingekauft werden. Nun Ziegenmilcheis. Hat kein Hautgout, die Tiere stehen sehr sauber. Die Brennesselschwemme hab ich lange (nach ersten, mäßig schmeckenden Versuchen vor zig Jahren) ignoriert. Ein Leser (Grambauer) hat uns nun einen einzigartigen Zerkleinerer geschenkt: Nun kommt die Brennessel täglich auf den Tisch. Daumen hoch, sogar nahrungsindustriell verwöhnte Gäste sind begeistert.
Dann aber doch immer wieder die Lust auf das Exotische. Kiwi, Mango, Pfirsich, selbst an sonnigsten Stellen: Versuche abgebrochen. Zwecklos hier auf der Querfurter Platte, wo es stets zwei Grad weniger hat als im nahen Umland. Alles hat seinen Platz. Und jeder! Die Artischocken vom Vorjahr hingegen schauen ganz gut aus. Auch der Feigenbaum entwickelt sich erfreulich. Logisch ist: Wenn es überhaupt was wird, werden es kleine Früchtchen sein, unterentwickelt, Mitleidsernten. Zeigte sich schon bei der Paprika, seit Jahren. Es gibt schlichtweg einen Ort, Wurzeln zu schlagen, und einen Nicht-Ort. Man nennt letzteren: Utopie. Mal abwarten. Wir sind keine völkischen Gärtner. Die Empirie zählt.
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23. Mai 2016 – Ach ja, der gute alte Kulturpessimismus ist unschlagbar. Nichts wird besser. Mein erster Elternabend liegt 14 Jahre zurück. Damals dachte ich vor der Veranstaltung, ich würde sicher die jüngste Mutter im Raum sein. Ich war damals erst ein paar Tage in Sachsen-Anhalt. In meinen heimatlichen Kreisen in Offenbach gab es niemanden, der mit 22 ein Kind bekommen hätte. Hier nun war es völlig normal. 14 Jahre später bin ich logisch eine der Ältesten. (Dies nur als Randbeobachtung.)
Vor vierzehn Jahren gab es noch Heimatkunde (damals schon ein merkwürdig altertümlicher Begriff), längst heißt es SaU, Sachunterricht. Zudem ein ganz großartiges Fach namens „Geschickte Hände“ mit Handarbeitstätigkeiten. Tempi passati.
Überhaupt hat sich alles verändert, und nichts zum Guten. Mir fällt es sehr schwer, den hocheuphorischen Überschwang der die aktuellen Sachlagen anpreisenden Lehrerinnen zu teilen. Ganz individuell… jedes Kind da abholen, wo es steht … Teamwork, Networking… neueste wissenschaftliche Erkenntnisse usw. usf. Begeistert wird erklärt, warum in den ersten beiden Jahren auf Noten („diesen Wahnsinn“) ganz verzichtet wird und warum an deren Stelle nun ein vielseitiges Kompetenzportfolio getreten ist.
Beispiel: In welchem Maße das superindividuelle Kind gezeigt habe, daß es eigene „Rechtschreibstrategien“ entwickelt habe, werde nun mittels eines Kreises angezeigt. Ist er ganz schwarz (Lehrerin: „der ausgefüllte Kreis bedeutet, das Köpfchen ist voll!“), dann ist das Kind ein Spitzenstratege in Sachen Rechtschreibung. Ist Kreis/“Köpfchen“ dreiviertelvoll, dann ist es ein guter Stratege. Ist es nur zu einem viertel voll/schwarz, dann brauche es noch ein bißchen seine Zeit. Klar.
Überreicht wird ferner eine pralle Mappe voller nützlicher Informationen. Wie man sich richtig, sinnvoll und hygienisch die Hände wäscht. Und wann: N a c h dem Toilettengang, v o r dem Essen. Und ein Blättchen zu sicherer Kleidung. Ich hatte nicht gewußt, daß sich bereits seit 15 Jahren Hersteller und Händler von Kinderkleidung „darauf geeinigt“ haben, auf Kordeln in Kinderkleidung zu verzichten, weil man sich daran erhängen könnte.
Daß es mir lebenspraktisch nicht aufgefallen ist, liegt sicher an unserer Vorliebe fürs sogenannte Auftragen. (Es ist mir eine schwer zu vermittelnde Genugtuung, ein- und dieselbe Latzhose seit anderthalb Jahrzehnten zum Anziehen herauszulegen!) Nun lese ich, daß man als Second-hand-Liebhaber mit Kordeln so verfahren soll: „Sorgen Sie für eine Sollreißstelle. Entfernen Sie hierfür die Kordel aus dem Kleidungsstück und schneiden sie diese in der Mitte durch. Dann nähen Sie das Band mit ein bis zwei Stichen wider zusammen. So kann die Kordel unter Belastung an dieser Stelle durchreißen.“ Lieb gemeint, aber: Den Teufel werde ich tun. Schnürsenkel sind auch passé. „Klettverschlüsse sind die bessere Alternative.“
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24. Mai 2016 – Unser Lokalkolorit will, daß die Arzthelferin nicht sagt: „Heben Sie mal den Arm“, sondern: „Jetzt hebt sie bitte mal den Arm. “ Oder der Amtswalter: „Hat sie auch ein Paßphoto?“ Find ich schön. Sitze bei offenem Fenster am Schreibtisch. Draußen ist die Hauswand eingerüstet. Unser Lieblingshandwerker hat wie so oft zum Helfen seine Frau mitgebracht. Schon das hat für mich Begeisterungspotential, wie die schöne Blonde auf dem Gerüst turnt, Steine schleppt und anpackt wie ein Mann. Typisch Osten, das dahinter keine Genderoffensive steht. Man tut, was halt zu tun ist. Frau auch.
Ich stehe auf, um das Fenster zu schließen, weil es gleich sehr staubig werden wird. Letzter gehörter Wortfetzen (Mann will was hochreichen, Frau braucht noch ein paar Sekunden, um zur Stelle zu sein): „Warte er, warte er nur kurz noch!“
Neuen adel den ihr suchet// führt nicht her von schild und krone…  Ellen Kositza

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