„Warum haben sich die Menschen nicht gewehrt? Warum geht man sehenden
Auges zur Schlachtbank?" Das fragte der Fernsehtalker Markus Lanz die
greise Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano in seiner Sendung, als sie
ihm das Leben und vor allem das Sterben in dem Vernichtungslager
schilderte. „Es hat ganze Aufstände gegeben“, antwortete Bejarano ihrem
offenbar konsternierten Gastgeber.
Obwohl sich tausende Filme und Bücher mit der Judenverfolgung
beschäftigten, blieb ein kleines, hoch bedeutendes Detail in Deutschland
bisher nahezu unbekannt: der Auschwitz-Aufstand am 7. Oktober 1944. Wie
sollten sich ausgemergelte Häftlinge auch gegen schwer bewaffnete
SS-Männer erheben? Die israelische Historiker Gideon Greif und Itamar
Levin rekonstruieren in ihrem Buch „Der Aufstand in Auschwitz“ die
Geschichte der Rebellion, die gegen jede Wahrscheinlich doch stattfand.
Eben deshalb, weil Häftlinge sich nicht zur Schlachtbank führen lassen
wollten. Greifs und Levins Buch, das erste umfassende Werk zu dem
Aufstand, das jetzt auch auf Deutsch vorliegt, zeichnet ein hoch
auflösendes Bild aus hunderten Aussagen von Auschwitz-Überlebenden, aus
Dokumenten und Recherchen.
Auf vielen Seiten liest sich ihr Sachbuch allerdings so dicht und
drängend wie ein Thriller. Kein Regisseur müsste den Stoff bei einer
Verfilmung noch mit Spannung anreichern. Denn alle Dramatik ergibt sich
aus einem Punkt: Hitlers Deutschland ist dabei, den Krieg zu verlieren.
Das wissen alle: Der für die Judenvernichtung zuständige Referent im
Reichssicherheitshauptamt Adolf Eichmann, die SS-Lagerleitung in
Auschwitz, aber auch die Häftlinge des so genannten Sonderkommandos im
Lager. Diese Gefangenen, die „Elendesten unter den Elenden“ (Greif)
hatten die Aufgabe, die Kleidung der zum Vergasen angetretenen Juden zu
sortieren, die Leichen zu den Verbrennungsöfen zu transportieren und
Goldzähne aus ihren Gebissen zu brechen. Dafür versorgte die SS diese
Funktionshäftlinge mit Essensrationen, die ihnen das Überleben
erlaubten. Durch Neuzugänge, die in ihr Kommando beordert wurden,
gehörten sie zu den wenigen Häftlingen, die Nachrichten über den
Kriegsverlauf aufschnappen konnten.
Weil die Zeit gegen ihn lief, trieb Eichmann seinen
Vernichtungsapparat zu Höchstleistungen an. Ab Mai 1944 ließ er
die ungarischen Juden zur Vernichtung deportieren, 424 000 Menschen innerhalb
von 56 Tagen. Es war der letzte große Akt der Endlösung. Die meisten
von ihnen kamen schon am Tag ihrer Ankunft ins Gas.
Gleichzeitig planten die im Untergrund agierende jüdische
Lagerleitung und eine Gruppe innerhalb des Sonderkommandos den finalen
Aufstand: er sollte die Mordmaschinerie stoppen, zumindest sabotieren
und möglichst in einen Massenausbruch münden. Die Sonderkommando-Männer
wussten: Sollte das Lager wegen der heranrückenden Front geräumt werden,
dann würde die SS auch sie liquidieren – schließlich handelte es sich
um die wichtigsten Mitwisser. Den Gefangenen ging es darum, andere Leben
zu retten – aber auch ihr eigenes.
Greif und Levin erzählen, wie die zum Widerstand entschlossenen
Häftlinge heimlich an beiden Seiten angespitze Speere basteln, wie sie
aus den Union Metallwerken, einer Rüstungsfabrik auf dem Gelände, in der
Häftlinge Zwangsarbeit leisten, unter Lebensgefahr Sprengstoff
herausschmuggeln. Daraus entstehen Handgranaten, mit Blechdosen als
Hülle und Stofffetzen als Zünder. Ihr Plan ist ebenso einfach wie
tollkühn: Sie wollen die Wachleute in ihrer Nähe überrumpeln,
entwaffnen, die Gaskammern und Krematorien zerstören und ausbrechen – um
wenigstens frei zu sterben.
Aber wann soll die Revolte stattfinden? Je näher die Rote Armee
rückt, argumentiert die jüdische Lagerleitung, desto besser stünden die
Chancen, dass wenigstens einige der ausgebrochenen Häftlinge sich in
ihre Richtung oder zur polnischen Untergrundarmee durchschlagen könnten.
Sie beschwört die Widerständler im Juni, noch zu warten. Mitte 1944
stehen sowjetische Truppen schon bei Lublin, nur noch 350 Kilometer
entfernt. Die Untergrundgruppe legt den zweiten Aufstandstermin auf den
15. August fest. Doch auch der Termin muss verschoben werden: An diesem
Tag kommt ein Transport von Warschauer Juden in Auschwitz-Birkenau an,
bewacht von 200 SS-Leuten. So viele Bewaffnete kann die provisorisch
ausgerüstete Untergrundtruppe unmöglich überwältigen. Inzwischen ahnte
der SS-Hauptscharführer Otto Moll, oberster Verantwortlicher für die
Vergasung der ungarischen Juden in Birkenau, dass einige
Sonderkommando-Männer untereinander konspirieren. Er lässt den Ober-Kapo
Jacob Kaminski foltern, um Informationen aus ihm herauszupressen.
Kaminski gehört tatsächlich zu den führenden Köpfen der Häftlingsarmee.
Aber er gibt nichts preis. Auf Molls Befehl werfen SS-Wachmänner den
halbtot geschlagenen Kaminski in einen Verbrennungsofen.
Der Aufstand bricht schließlich zu einem Zeitpunkt los, den niemand
plante: am Samstag den 7. Oktober gegen Mittag. Die SS kündigt an, 300
der 663 Sonderkommando-Häftlinge sollten sofort in ein anderes Lager
verlegt werden, und verlangt von den Kapos eine Selektionsliste. Allen
ist klar, dass die 300 in Wirklichkeit ins Gas sollen.
Weil die
Evakuierung der gesamten Todesfabrik bevorsteht, gehen die Deutschen
systematisch daran, das Sonderkommando auszulöschen, genau so, wie die
Männer es vorhergesehen hatten. Sie stürzen sich mit Hämmern und
Schaufeln auf die SS-Leute, bewerfen sie mit Steinen, einige der
Wachleute gehen zu Boden, die anderen eröffnen das Feuer. Drei SS-Männer
und einen auf der Seite der SS stehenden Kapo können die Aufständischen
töten. Wie geplant zünden die Häftlinge das Krematorium und die
Gaskammer Nummer 4 an; das Gebäude steht schnell in Flammen,
wahrscheinlich – hier gehen die Berichte auseinander – explodieren in
seinem Inneren auch selbstgebaute Sprengsätze. Während herbeigeeilte
SS-Männer mit automatischen Waffen auf die Häftlinge feuern, schafft es
eine kleine Gruppe - etwa achtzig, darunter auch sowjetische
Kriegsgefangene – den Lagerzaun zu durchschneiden und auszubrechen. Nach
wenigen Stunden endet die Flucht in einer Scheune des nahgelegenen
Dörfchens Rajsko; ihre Verfolger stecken das Gebäude in Brand. Die
Geflohenen sterben entweder in den Flammen oder im Kugelhagel. Aber sie
starben, wie sie es wollten: als freie Menschen.
Seit 1986 sammelte Gideon Greif Aussagen ehemaliger
Sonderkommando-Häftlinge auf Tonband, er befragte 30 von ihnen und trug
hunderte Stunden Audiomaterial zusammen, auf das er sich schon bei
früheren Büchern stützte. „Ich wusste, dass ich mich beeilen musste,
bevor die Zeugen und ihre Geschichte verschwinden“, meint Greif. Heute
lebt nur noch ein Mitglied des ehemaligen Kommandos - keiner der damals
aktiven Kämpfer – hoch betagt in Los Angeles.
Die Geschichte des Sonderkommandos und damit auch des Aufstandes
blieb selbst in Israel lange unbekannt. Dort standen die von der SS zum
Leichenschleppen gezwungenen Häftlinge lange in Verdacht, mit der
Lagerführung kollaboriert zu haben. „Eines meiner wichtigsten Ziele“,
meint Greif, „war es, dieses falsche, ungerechte Bild zurechtzurücken
und damit ein Unrecht für die Geschichtsschreibung zu korrigieren.“
Heute, sagt er, gebe es kaum noch Anschuldigungen gegen die
Funktionshäftlinge von Auschwitz. Seine Tonbandaufnahmen, sagt er, seien
für die Männer und Frauen von damals eine „Rettungsmission“ gewesen. Alexander Wendt
Gideon Greif, Itamar Lewin, „Aufstand in Auschwitz“ Böhlau Verlag Köln 390 Seiten 24,99 Euro
KAMINSKI LEBTE
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