22.Mai 2016 – Das Eigene und das Fremde: Wir sind ja bestenfalls
Möchtegernselbstversorger. Wir bessern uns. Die (meisten) Kinder waren
heilfroh, als im März der letzte Kürbis über den Tisch gegangen war. Die
Kartoffel- und Rote Beete-Vorräte hingegen waren für alle Geschmäcker
zu früh erschöpft.
Heute vorjährige Schwarzwurzeln geernet, Blätter ergeben einen guten
Salat. Äpfel, unser Lieblingsnahrungsmittel (allein in Form von
Apfelchips sind diesen Winter Tonnen vertilgt worden), sind eben gerade
zur Neige gegangen, sieht man von Apfelsaft und -wein ab. Der letzte
Kirschkuchen aus eigenen Kirschen wurde im Café Schnellroda vertilgt.
Die Ziegen sind gerade hochproduktiv, kein Gericht ohne in Molke
gekochtem Gemüse, ohne Überbackenes, selbst Butter muß seit Wochen nicht
mehr eingekauft werden. Nun Ziegenmilcheis. Hat kein Hautgout, die
Tiere stehen sehr sauber. Die Brennesselschwemme hab ich lange (nach
ersten, mäßig schmeckenden Versuchen vor zig Jahren) ignoriert. Ein
Leser (Grambauer) hat uns nun einen einzigartigen Zerkleinerer
geschenkt: Nun kommt die Brennessel täglich auf den Tisch. Daumen hoch,
sogar nahrungsindustriell verwöhnte Gäste sind begeistert.
Dann aber doch immer wieder die Lust auf das Exotische. Kiwi, Mango,
Pfirsich, selbst an sonnigsten Stellen: Versuche abgebrochen. Zwecklos
hier auf der Querfurter Platte, wo es stets zwei Grad weniger hat als im
nahen Umland. Alles hat seinen Platz. Und jeder! Die Artischocken vom
Vorjahr hingegen schauen ganz gut aus. Auch der Feigenbaum entwickelt
sich erfreulich. Logisch ist: Wenn es überhaupt was wird, werden es
kleine Früchtchen sein, unterentwickelt, Mitleidsernten. Zeigte sich
schon bei der Paprika, seit Jahren. Es gibt schlichtweg einen Ort,
Wurzeln zu schlagen, und einen Nicht-Ort. Man nennt letzteren: Utopie.
Mal abwarten. Wir sind keine völkischen Gärtner. Die Empirie zählt.
– – – – –
23. Mai 2016 – Ach ja, der gute alte Kulturpessimismus ist
unschlagbar. Nichts wird besser. Mein erster Elternabend liegt 14 Jahre
zurück. Damals dachte ich vor der Veranstaltung, ich würde sicher die
jüngste Mutter im Raum sein. Ich war damals erst ein paar Tage in
Sachsen-Anhalt. In meinen heimatlichen Kreisen in Offenbach gab es
niemanden, der mit 22 ein Kind bekommen hätte. Hier nun war es völlig
normal. 14 Jahre später bin ich logisch eine der Ältesten. (Dies nur als
Randbeobachtung.)
Vor vierzehn Jahren gab es noch Heimatkunde (damals schon ein
merkwürdig altertümlicher Begriff), längst heißt es SaU, Sachunterricht.
Zudem ein ganz großartiges Fach namens „Geschickte Hände“ mit
Handarbeitstätigkeiten. Tempi passati.
Überhaupt hat sich alles verändert, und nichts zum Guten. Mir fällt
es sehr schwer, den hocheuphorischen Überschwang der die aktuellen
Sachlagen anpreisenden Lehrerinnen zu teilen. Ganz individuell… jedes
Kind da abholen, wo es steht … Teamwork, Networking… neueste
wissenschaftliche Erkenntnisse usw. usf. Begeistert wird erklärt, warum
in den ersten beiden Jahren auf Noten („diesen Wahnsinn“) ganz
verzichtet wird und warum an deren Stelle nun ein vielseitiges
Kompetenzportfolio getreten ist.
Beispiel: In welchem Maße das superindividuelle Kind gezeigt habe,
daß es eigene „Rechtschreibstrategien“ entwickelt habe, werde nun
mittels eines Kreises angezeigt. Ist er ganz schwarz (Lehrerin: „der
ausgefüllte Kreis bedeutet, das Köpfchen ist voll!“), dann ist das Kind
ein Spitzenstratege in Sachen Rechtschreibung. Ist Kreis/“Köpfchen“
dreiviertelvoll, dann ist es ein guter Stratege. Ist es nur zu einem
viertel voll/schwarz, dann brauche es noch ein bißchen seine Zeit. Klar.
Überreicht wird ferner eine pralle Mappe voller nützlicher
Informationen. Wie man sich richtig, sinnvoll und hygienisch die Hände
wäscht. Und wann: N a c h dem Toilettengang, v o r dem Essen. Und ein
Blättchen zu sicherer Kleidung. Ich hatte nicht gewußt, daß sich bereits
seit 15 Jahren Hersteller und Händler von Kinderkleidung „darauf
geeinigt“ haben, auf Kordeln in Kinderkleidung zu verzichten, weil man
sich daran erhängen könnte.
Daß es mir lebenspraktisch nicht aufgefallen ist, liegt sicher an
unserer Vorliebe fürs sogenannte Auftragen. (Es ist mir eine schwer zu
vermittelnde Genugtuung, ein- und dieselbe Latzhose seit anderthalb
Jahrzehnten zum Anziehen herauszulegen!) Nun lese ich, daß man als
Second-hand-Liebhaber mit Kordeln so verfahren soll: „Sorgen Sie für
eine Sollreißstelle. Entfernen Sie hierfür die Kordel aus dem
Kleidungsstück und schneiden sie diese in der Mitte durch. Dann nähen
Sie das Band mit ein bis zwei Stichen wider zusammen. So kann die Kordel
unter Belastung an dieser Stelle durchreißen.“ Lieb gemeint, aber: Den
Teufel werde ich tun. Schnürsenkel sind auch passé. „Klettverschlüsse
sind die bessere Alternative.“
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24. Mai 2016 – Unser Lokalkolorit will, daß die Arzthelferin nicht
sagt: „Heben Sie mal den Arm“, sondern: „Jetzt hebt sie bitte mal den
Arm. “ Oder der Amtswalter: „Hat sie auch ein Paßphoto?“ Find ich schön.
Sitze bei offenem Fenster am Schreibtisch. Draußen ist die Hauswand
eingerüstet. Unser Lieblingshandwerker hat wie so oft zum Helfen seine
Frau mitgebracht. Schon das hat für mich Begeisterungspotential, wie die
schöne Blonde auf dem Gerüst turnt, Steine schleppt und anpackt wie ein
Mann. Typisch Osten, das dahinter keine Genderoffensive steht. Man tut,
was halt zu tun ist. Frau auch.
Ich stehe auf, um das Fenster zu schließen, weil es gleich sehr
staubig werden wird. Letzter gehörter Wortfetzen (Mann will was
hochreichen, Frau braucht noch ein paar Sekunden, um zur Stelle zu
sein): „Warte er, warte er nur kurz noch!“
Neuen adel den ihr suchet// führt nicht her von schild und krone… Ellen Kositza
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