Die Gattin funkt aus dem fernen, durch WhatsApp freilich denn doch wieder irritierend nahen China, wie zahlreich das Publikum zum Klavierabend erscheine, obwohl die Karten dort ungefähr das Doppelte kosten wie in der Heimat, wie begeistert die Menschen auf die europäische Musik reagierten, ihr die CDs, wie man sagt, aus den Händen rissen, oft gleich mehrere kauften usw. Dies „zahlreiche“ Erscheinen von Zuhörern mag dem Umstand geschuldet sein, dass jenes Provinzstädtchen, in dem sie gestern konzertierte, dem durchschnittlichen Europäer zwar unbekannt, aber doch deutlich größer als New York ist, und eben nicht jeden Abend eine Abendländerin dortselbst zu Bach, Chopin oder Rachmaninoff bittet. Die Akustik des Konzertsaals, berichtet sie, sei jener sämtlicher Münchner Konzertsäle mindestens ebenbürtig gewesen, und auf der Bühne habe ein nagelneuer D-Steinway gestanden, was auch nicht selbstverständlich ist. Anders als hierzulande, wo klassische Konzerte eher die Senioren anziehen, sei das Durchschnittsalter des Auditoriums nahezu in studentischen Dimensionen angesiedelt gewesen.
Augenscheinlich genießt die europäische klassische Musik in China und in anderen asiatischen Ländern, speziell auch in Japan, hohe Verehrung; zahlreiche Menschen dort sind jedenfalls der Ansicht, dass sie an einem feierlichen, bildenden, sittlich hebenden, meinetwegen religiösen Ereignis teilnehmen, wenn sie ein Konzert oder eine Oper besuchen, und genau so verhält es sich ja auch, obwohl viele Westler inzwischen darauf verzichten, jene überwältigenden Schöpfungen des menschlichen Schönheitswillens überhaupt zur Kenntnis zur nehmen. Folgerichtig explodiert die Zahl der Asiaten, die ein klassisches Instrument spielen, während sie im Westen eher schrumpft.
Die europäische Kultur ist den asiatischen Kulturen gewiss ebenso fern und fremd wie den orientalischen. Und doch vollziehen täglich Abertausende Asiaten den Schritt über den Graben. Jeder beliebige Blick in ein deutsches Orchester, eine Musikhochschule, einen Opernchor zeigt, dass unser Musikbetrieb ohne Instrumentalisten und Sänger aus Fernost kaum mehr funktionieren würde. Konzerttourneen europäischer Orchester in Asien sind regelmäßig ausverkauft. Da die klassische Musik zu 80 Prozent deutsch ist, darf womöglich bald von einem Überleben der deutschen Kultur in Asien gesprochen werden. Umgekehrt sieht man auch hierzulande in den Museen, Galerien und Konzertsälen Asiaten in bemerkenswerter Zahl. Ist das nicht reizend und vor allem: verblüffend?
Nun folgt der unvermeidliche Schwenk auf die dominierende Einwanderergruppe in Europa, von welcher man bedauerlicherweise wird konstatieren müssen, dass aus ihrer Schar selten interessierte oder auch bloß neugierige Einzelne die Kunstmuseen durchstreifen oder den Konzerten beiwohnen oder selber auf dem Pianoforte oder der Violine exzellieren. Hier manifestiert sich eine Fremdheit, die sich nicht allein auf die Sozialstruktur der muslimischen Einwanderer und das Fehlen eines breiten gebildeten Milieus zurückführen lässt. In der islamischen Tradition hat sich ein Bilder- und Musikverbot etabliert, das zwar koranisch nicht wirklich herleitbar ist – „Wen gibt es, die Schönheit zu verbieten, die Gott für seine Geschöpfe hervorgebracht hat?“ 7, 32 – aber in Teilen der muslimischen Bevölkerung eine Ablehnung der westlichen Tonkunst und bildenden Künste begründet. Eine befreundete muslimische Theologin hat mir erklärt, die Aversion Muhammads gegenüber der Musik habe damit zu tun, dass in den Tagen des Propheten Musik vor allem in Freudenhäusern gespielt wurde. Dass die Künste weltlicher Tand sind und die Gedanken des Gläubigen von Gott ablenken, ist denn auch das Hauptargument frommer Eiferer, denen diese herrlichen Hervorbringungen, speziell wenn sie auch noch aus dem christlichen Weltteil stammen, samt und sonders als haram gelten. Allah hat dergleichen nie geboten, und Allah hat im Koran darauf hingewiesen, dass er nichts vergessen habe (u.a. 19, 64). Was er nicht verboten hat, hat demzufolge auch kein Mensch zu verbieten. Was könnte es Gottgefälligeres geben als das Schöpfungslob Bachs oder die Paradiesverheißungen Mozarts? Das am Rande.
Jedenfalls offenbart sich für mich die Kluft zwischen Nichtmuslimen und Muslimen hierzulande am deutlichsten in der verbreiteten Ablehnung der westlichen Hochkultur, wobei ich selbstredend nicht das deutsche Regietheater oder Narrenschauen wie die documenta im Blick habe; umgekehrt wärmt es mir das Herz, wenn ich eine Muslima in einer der Pinakotheken sehe oder Meldungen höre wie diese von der Wiederauferstehung des Teheran Symphony Orchestra. Andersherum gesagt, falls das jemanden interessiert: Meine Nation trifft sich unter dem Zeichen des Violinschlüssels und des Kontrapunkts, von Hexameter und Blankvers, des Malerpinsels und der Radiernadel. Wer Sophokles, Shakespeare, Goethe liest, wer Beethoven hört oder spielt, wer in der Scrovegni-Kapelle zu Padua beglückt erschauert, wessen Blick in den Himmeln Claude Lorrains träumt, wer sich in die Schriften Platons, Kants, Nietzsches, Heideggers vertieft, ist mein Landsmann. Der Rest nicht. Basta.
PS: Leser *** verweist sogleich auf eine Aussage des Ajatollah Khomeini im Gespräch mit Oriana Fallaci: "Auch die Musik trübt den Geist, weil sie mit sich Genüsse und Ekstasen bringt, die den Drogen gleichen. Eure Musik meine ich (die westliche). Gewöhnlich erhebt sie den Geist nicht, sie schläfert ihn ein. Und sie lenkt unsere jungen Leute ab, die von ihr vergiftet werden und sich nicht mehr um ihr Land kümmern.
Fallaci: Auch die Musik von Bach, Beethoven und Verdi?
Wer sind diese Leute? Ich kenne sie nicht. Wenn sie den Geist nicht trüben, sind sie nicht verboten. Einige eurer Musiken sind nicht verboten, zum Beispiel die Märsche und die Hymnen zum Marschieren. Wir wollen Musik, die uns erhebt, wie die Marschmusik, die unsere Jugend bewegt, anstatt sie zu paralysieren, die sie veranlaßt, sich um ihr Land zu kümmern. Ja, eure Märsche sind erlaubt."
(Oriana Fallaci: Le radici dell’odio. La mia verità sull’Islam. Milano 2015. S. 295f.)
Darauf den alten Dessauer! MK am 21. 5. 2016
Jetzt erst einmal den Bayrischen Defiliermarsch!
Klonovskys Worten ist außer einer kurzen, bitteren Betrachtung nichts hinzuzufügen: auch in China stand die westliche Musik noch vor nicht allzu langer Zeit in einem schlechten Licht und war sogar verboten. Der wunderbare Dokumentarfilm "From Mao to Mozart" von Isaac Stern veranschaulicht, wie sehr Mao diesbezüglich sein Land ausgehungert hatte.
Aber der Maoismus war nur eine aus den Fingern gesogene Ideologie, deren Zerbröseln nur eine Frage von ein paar Jahrzehnten sein konnte. Beim Islam und seinen zeitgenössischen Deutungs-Inhabern geht die Wirkung sehr viel tiefer. Der Islam ist mehr Behälter als Inhalt! Der Islam ist als der Fülling harrendes Behältnis geschichtlich in der Mentalität der Muslime verwurzelt. Für die Festigkeit dieser Verwurzelung ist es völlig ausreichend, die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit wach zu halten. Und um diese Vergangenheit zu beleben, reicht es, sich als Nachahmer Mohammeds aufzuspielen. Ob man dabei brutaler als einst Mohammed vorgeht, ist unerheblich: Mohammed ging damals brutal vor und hätte heute genug Anlass, noch brutaler vorzugehen. Die Deutungshoheit seiner heute maßgebenden Repräsentanten wird gewiss nicht daran scheitern, den Koran strenger zu interpretieren, als uns Europäern oder gemäßigteren Interpreten recht wäre. Im Gegenteil.
Man kann nur hoffen, dass das Orchester in Teheran bestehen bleibt. Bis in den muslimischen Ländern ein ähnlich unbefangenes Interesse für die klassische europäische Musik gezeigt wird wie heute wieder in China, wird jedoch noch viel Zeit vergehen. Falls es je dazu kommen sollte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.