Stationen

Dienstag, 24. Mai 2016

Dornröschen


 Es ist zum Verrücktwerden. Da ackerte sich Deutschland in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts aus der Rolle des kranken Mannes Europas heraus. Die Politik setzte die Reformagenda 2010 durch – gegen heftigen Widerstand aus der Bevölkerung. Was die meisten vergessen haben, parteiübergreifend! Im Bundestag verfügten Sozialdemokraten und Grüne über die Mehrheit, im Bundesrat Union und FDP.

Der Arbeitsmarkt wurde damals liberalisiert, die teure und über dem Existenzminimum liegende lebenslange Arbeitslosenhilfe abgeschafft und dafür Hartz IV eingeführt; eine geringe Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung, Praxisgebühr genannt, durchgesetzt. In sieben westdeutschen Bundesländern wurden Studiengebühren beschlossen. Als letzte Strukturreform erhöhte schließlich die erste große Koalition im Jahr 2006 unter Angela Merkel, aber vor allem dank Franz Müntefering, das Renteneintrittsalter in Stufen (bis 2029) auf 67 Jahre.
 
Der Erfolg dieser Politik ist beispiellos. Nie waren mehr Menschen erwerbstätig als heute. Die Zahl der Arbeitslosen sank wie nie zuvor. Die allermeisten neuen Jobs sind sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte. Die Einnahmen der Sozialversicherungen und die Steuereinnahmen aller staatlichen Ebenen erklimmen Rekordstände.
Selbst die Finanzmarktkrise und den Konjunkturabsturz im Jahr 2009 überwand Deutschland rascher als jede andere Volkswirtschaft der Welt. Trotz der jahrelangen Desinformationskampagnen der Gewerkschaften und der Sozialverbände ist das ein Faktum. Auch der immer wieder behauptete Absturz der breiten Mittelschicht ist eine Mär, die empirisch nicht belegbar ist.
Doch die Politik und die öffentliche Debatte werden häufig von Narrativen bestimmt, die wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. 

Weil die Agenda-Reformen erfolgreich als neoliberales Teufelszeug diskreditiert wurden, als größter sozialer Kahlschlag in der Geschichte unseres Landes, setzten sich spätestens mit der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 alle Urheber von ihrem Werk ab.

Gerhard Schröder verlor die Kanzlerschaft, die Union rettete sich knapp in eine große Koalition, weil der erwartete schwarz-gelbe Wahlerfolg ausblieb. Und das Volk hatte die Reformpolitik so satt – und so sah es auch die Parteivorsitzende und Kanzlerin der Union –, dass danach (mit Ausnahme der Erhöhung des Renteneintrittsalters) die Wähler in Watte gepackt wurden.  

Rückabwicklung der objektiv erfolgreichen Reformpolitik war und ist bis heute angesagt.

Warum ignoriert die vereinigte Rollback-Fraktion im Deutschen Bundestag die Fakten? Warum wird der Arbeitsmarkt in Deutschland wieder verriegelt, während manche insgeheim den späten "Mut" des französischen Präsidenten François Hollande bewundern, der gegen den scharfen Widerstand eines Teils seiner Sozialistischen Partei und der Gewerkschaften den Schröder macht?

Was treibt SPD-Chef Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer in eine neue Rentendebatte, mit der sie die säkulare Alterung der Gesellschaft ignorieren, wenn sie die längst beschlossene Rentenniveauabsenkung in Frage stellen? 

Was reitet die Bundesregierung, einem staatlichen Interventionismus zu frönen, der von immer absurderen Regulierungen des Energiemarkts und Eingriffen in den Wohnungsmarkt bis zur aberwitzigen Subventionierung des Kaufs von Elektromobilen führt?

Sind wir Bürger so dumm und einfältig, dass wir den Zusammenhang zwischen staatlichen Ausgabenexzessen und unserer persönlichen Steuer- und Abgabenlast nicht sehen wollen? Glauben wir wirklich, wir könnten aufgrund der stetig steigenden Lebenserwartung immer länger unsere Renten und Pensionen beziehen, ohne dafür länger arbeiten zu müssen als frühere Generationen? 

Können es unsere Kinder und Enkel wirklich besser haben, wenn wir sie die Zeche dafür bezahlen lassen, dass wir als immer wichtiger werdende Wählergruppe von der Politik die Besitzstandswahrung bei unserer Altersversorgung erwarten?

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Oder sind wir inzwischen alle ein bisschen Donald Trump, der sich als Präsidentschaftskandidat in der größten Volkswirtschaft der Welt mit einem scharfen Anti-Establishment-Kurs, aber vor allem mit größtmöglicher Faktenignoranz in den Vorwahlen seiner Partei durchsetzte? Der amtierende US-Präsident Barack Obama parodierte in einer in den sozialen Medien zehntausendfach verbreiteten Rede vor Studenten dessen Politikstil: 

"Es ist nicht cool, nicht zu wissen, worüber man redet. Weder in der Politik noch im wirklichen Leben ist Ignoranz eine Tugend!"

Wie wahr! Und doch ignoriert auch die deutsche Politik seit Jahren die Fakten. Hätten Union und SPD ansonsten die Rente mit 63 oder die Mütterrente einführen dürfen – ohne Rücksicht auf die wegen des demografischen Wandels ohnehin strukturell massiv steigenden Ausgaben? Schon in vier Jahren werden aus dem Bundeshaushalt mehr als 100 Milliarden Euro jährlich an die Rentenversicherung überwiesen. Dieses Jahr sind es rund 86 Milliarden Euro. Die Kosten explodieren. Und trotzdem reden Gabriel und Seehofer von neuen Rentenleistungen.
Es ist Zeit, dass wir aufwachen. Unser Land hat die Rendite der Reformpolitik von 2003 inzwischen vervespert. Die Investitionstätigkeit, aus der sich künftige Prosperität speist, ist seit Jahren zu niedrig. Die Produktivität entwickelt sich unterdurchschnittlich. Die Bereitschaft zur Selbstständigkeit sinkt, obwohl wir alle wissen müssten, dass es ohne Unternehmer keine Arbeitsplätze gibt.

Dafür steigen die Lohnstückkosten, ein wichtiger Faktor zur Beurteilung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, seit Jahren überdurchschnittlich. Die Nachhaltigkeitslücke in den sozialen Sicherungssystemen wird größer, statt sie durch Strukturreformen zu schließen. Deutschland profitiert vom freien Güter- und Warenverkehr auf diesem Globus wie kaum ein anderes Land. Trotzdem laufen Bürger und Politiker verbal Amok gegen ein transatlantisches Freihandelsabkommen wie nirgendwo sonst.

Obwohl die Rechnung für die zahlreichen und teuren Wahlversprechen aus der letzten Bundestagswahl erst in der neuen Legislaturperiode fällig wird, zeichnet sich wieder ein Bundestagswahlkampf ab, in dem die Parteien uns Wähler mit neuen und teuren Leistungsversprechungen ködern wollen. Man wünschte sich Millionen von souveränen Wählerinnen und Wählern, die sich nicht ködern lassen, weil sie wissen, dass vor dem Verteilen das Verdienen steht. Eine trügerische Hoffnung?!   Oswald Metzger

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.