Es ist zum
Verrücktwerden. Da ackerte sich Deutschland in der ersten Hälfte des
letzten Jahrzehnts aus der Rolle des kranken Mannes Europas heraus. Die
Politik setzte die Reformagenda 2010
durch – gegen heftigen Widerstand aus der Bevölkerung. Was die meisten
vergessen haben, parteiübergreifend! Im Bundestag verfügten
Sozialdemokraten und Grüne über die Mehrheit, im Bundesrat Union und
FDP.
Der
Arbeitsmarkt wurde damals liberalisiert, die teure und über dem
Existenzminimum liegende lebenslange Arbeitslosenhilfe abgeschafft und
dafür Hartz IV eingeführt; eine geringe Selbstbeteiligung in der
Krankenversicherung, Praxisgebühr genannt, durchgesetzt. In sieben
westdeutschen Bundesländern wurden Studiengebühren beschlossen. Als
letzte Strukturreform erhöhte schließlich die erste große Koalition im
Jahr 2006 unter Angela Merkel, aber vor allem dank Franz Müntefering,
das Renteneintrittsalter in Stufen (bis 2029) auf 67 Jahre.
Der Erfolg dieser Politik
ist beispiellos. Nie waren mehr Menschen erwerbstätig als heute. Die
Zahl der Arbeitslosen sank wie nie zuvor. Die allermeisten neuen Jobs
sind sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte. Die Einnahmen
der Sozialversicherungen und die Steuereinnahmen aller staatlichen
Ebenen erklimmen Rekordstände.
Selbst die Finanzmarktkrise und den Konjunkturabsturz im Jahr 2009 überwand Deutschland rascher als jede andere Volkswirtschaft der Welt.
Trotz der jahrelangen Desinformationskampagnen der Gewerkschaften und
der Sozialverbände ist das ein Faktum. Auch der immer wieder behauptete
Absturz der breiten Mittelschicht ist eine Mär, die empirisch nicht
belegbar ist.
Doch
die Politik und die öffentliche Debatte werden häufig von Narrativen
bestimmt, die wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben.
Weil die
Agenda-Reformen erfolgreich als neoliberales Teufelszeug diskreditiert
wurden, als größter sozialer Kahlschlag in der Geschichte unseres
Landes, setzten sich spätestens mit der vorgezogenen Bundestagswahl 2005
alle Urheber von ihrem Werk ab.
Gerhard
Schröder verlor die Kanzlerschaft, die Union rettete sich knapp in eine
große Koalition, weil der erwartete schwarz-gelbe Wahlerfolg ausblieb.
Und das Volk hatte die Reformpolitik so satt – und so sah es auch die
Parteivorsitzende und Kanzlerin der Union –, dass danach (mit Ausnahme
der Erhöhung des Renteneintrittsalters) die Wähler in Watte gepackt
wurden.
Rückabwicklung der objektiv erfolgreichen Reformpolitik war und ist bis heute angesagt.
Warum
ignoriert die vereinigte Rollback-Fraktion im Deutschen Bundestag die
Fakten? Warum wird der Arbeitsmarkt in Deutschland wieder verriegelt,
während manche insgeheim den späten "Mut" des französischen Präsidenten
François Hollande bewundern, der gegen den scharfen Widerstand eines Teils seiner Sozialistischen Partei und der Gewerkschaften den Schröder macht?
Was treibt SPD-Chef Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer in eine neue Rentendebatte,
mit der sie die säkulare Alterung der Gesellschaft ignorieren, wenn sie
die längst beschlossene Rentenniveauabsenkung in Frage stellen?
Was
reitet die Bundesregierung, einem staatlichen Interventionismus zu
frönen, der von immer absurderen Regulierungen des Energiemarkts und
Eingriffen in den Wohnungsmarkt bis zur aberwitzigen Subventionierung
des Kaufs von Elektromobilen führt?
Sind
wir Bürger so dumm und einfältig, dass wir den Zusammenhang zwischen
staatlichen Ausgabenexzessen und unserer persönlichen Steuer- und
Abgabenlast nicht sehen wollen? Glauben wir wirklich, wir könnten
aufgrund der stetig steigenden Lebenserwartung
immer länger unsere Renten und Pensionen beziehen, ohne dafür länger
arbeiten zu müssen als frühere Generationen?
Können es unsere Kinder und
Enkel wirklich besser haben, wenn wir sie die Zeche dafür bezahlen
lassen, dass wir als immer wichtiger werdende Wählergruppe von der
Politik die Besitzstandswahrung bei unserer Altersversorgung erwarten?
Politik
beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Oder sind wir inzwischen
alle ein bisschen Donald Trump, der sich als Präsidentschaftskandidat in
der größten Volkswirtschaft der Welt mit einem scharfen Anti-Establishment-Kurs,
aber vor allem mit größtmöglicher Faktenignoranz in den Vorwahlen
seiner Partei durchsetzte? Der amtierende US-Präsident Barack Obama
parodierte in einer in den sozialen Medien zehntausendfach verbreiteten
Rede vor Studenten dessen Politikstil:
"Es ist nicht cool, nicht zu
wissen, worüber man redet. Weder in der Politik noch im wirklichen Leben
ist Ignoranz eine Tugend!"
Wie
wahr! Und doch ignoriert auch die deutsche Politik seit Jahren die
Fakten. Hätten Union und SPD ansonsten die Rente mit 63 oder die Mütterrente
einführen dürfen – ohne Rücksicht auf die wegen des demografischen
Wandels ohnehin strukturell massiv steigenden Ausgaben? Schon in vier
Jahren werden aus dem Bundeshaushalt mehr als 100 Milliarden Euro
jährlich an die Rentenversicherung überwiesen. Dieses Jahr sind es rund
86 Milliarden Euro. Die Kosten explodieren. Und trotzdem reden Gabriel
und Seehofer von neuen Rentenleistungen.
Es
ist Zeit, dass wir aufwachen. Unser Land hat die Rendite der
Reformpolitik von 2003 inzwischen vervespert. Die Investitionstätigkeit,
aus der sich künftige Prosperität speist, ist seit Jahren zu niedrig.
Die Produktivität entwickelt sich unterdurchschnittlich. Die Bereitschaft zur Selbstständigkeit sinkt, obwohl wir alle wissen müssten, dass es ohne Unternehmer keine Arbeitsplätze gibt.
Dafür steigen
die Lohnstückkosten, ein wichtiger Faktor zur Beurteilung der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit, seit Jahren überdurchschnittlich.
Die Nachhaltigkeitslücke in den sozialen Sicherungssystemen wird größer,
statt sie durch Strukturreformen zu schließen. Deutschland profitiert
vom freien Güter- und Warenverkehr auf diesem Globus wie kaum ein
anderes Land. Trotzdem laufen Bürger und Politiker verbal Amok gegen ein transatlantisches Freihandelsabkommen wie nirgendwo sonst.
Obwohl
die Rechnung für die zahlreichen und teuren Wahlversprechen aus der
letzten Bundestagswahl erst in der neuen Legislaturperiode fällig wird,
zeichnet sich wieder ein Bundestagswahlkampf ab, in dem die Parteien uns
Wähler mit neuen und teuren Leistungsversprechungen ködern wollen. Man
wünschte sich Millionen von souveränen Wählerinnen und Wählern, die sich
nicht ködern lassen, weil sie wissen, dass vor dem Verteilen das
Verdienen steht. Eine trügerische Hoffnung?! Oswald Metzger
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