Was
geschieht, wenn es in Europa um „Europa“ geht? Wer lange genug
hinsieht, weiß, dass jedes europäische Land sich unter „Europa“ und dem,
was die Deutschen in ihrem Idealismus die „europäische Idee“ nennen,
etwas anderes vorstellt, abhängig von seinen nationalen Erfahrungen und
Interessen. Was vor einiger Zeit als „Sakralisierung Europas“ bezeichnet
wurde, geht in Deutschland einher mit einer routinemäßigen
Exkommunikation von Zweiflern an EWU und EU
und ihrer Brandmarkung als „Euroskeptiker“ oder gar „Anti-Europäer“.
Der hier zu grüßende Geßlerhut ist das Wort „der Kanzlerin“: „Scheitert
der Euro, so scheitert Europa“, mit dem die fehlkonstruierte
(teil-)europäische Währung gewissermaßen nachsakralisiert wird.
Wer zu salutieren zögert, riskiert
den Ausschluss aus dem Verfassungsbogen, weil er „der Rechten Vorschub
leistet“, sofern er dieser nicht der Einfachheit halber gleich selbst
zugeschlagen wird - und nur im günstigeren Fall der AfD.
So sorgen Regierung und Opposition, Verbände und Medien gemeinsam
dafür, dass der nationale Europa-Diskurs keine Interessen kennt, schon
gar keine deutschen, sondern nur Ideen und eigentlich nur eine Idee, die
„europäische“, an die zu glauben auch für jene Mitgliedsländer eine
moralische Pflicht ist, denen der Euro im Interesse der deutschen
Handelsbilanz das ökonomische Blut aussaugt.Hinter alledem steht ein politisches System von opaker Geschlossenheit, zusammengehalten durch eine Unzahl von Sprech-, Denk- und Frageverboten, verteidigt von „allen demokratischen Kräften“ und zu sich selbst gekommen in einem zehnjährigen Reifungsprozess als „System Merkel“.
Sein Herzstück bildet die Herrschaftstechnik der „asymmetrischen Demobilisierung“ und die Transformation des Amtes des Bundeskanzlers in eine Art persönlicher Präsidentschaft. Während asymmetrische Demobilisierung die Wähler anderer Parteien durch Vermeidung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit deren Zielen vom Wählen abhalten soll, stützt sich personalisierte Herrschaft auf die Darstellung postideologischer politischer Wendemanöver als persönlicher Bekehrungserlebnisse, die die Bürger unter Anleitung der regierungsamtlichen PR-Maschinerie und mit Hilfe der mehr oder weniger regierungsamtlichen Medien mitfühlend verfolgen und diskutieren dürfen.
Personalisierung füllt die von der pragmatischen Beliebigkeit perspektivloser Politik gerissenen Legitimationslücken, indem sie die aufeinanderfolgenden, machtpolitisch getriebenen Wechsel der Programme und Koalitionen als persönlichen Entwicklungsroman abbildet.
Voraussetzung ist eine
Öffentlichkeit mit kurzem Gedächtnis, geringen intellektuellen
Konsistenzansprüchen und hohem Sentimentalitätspotential, enggeführt
durch den institutionellen oder moralischen Ausschluss kritischer Fragen
- etwa derart, wie eine seinerzeitige „Atomkanzlerin“ bis einen Tag vor
Fukushima den Ausstieg aus dem harterkämpften rot-grünen Atomausstieg
betreiben konnte, weil sie sich als „gelernte Physikerin“ davon
überzeugt hatte, dass das schon damals in Tschernobyl längst zu
besichtigende Restrisiko hinnehmbar sei, aber nur eine Woche nach
Fukushima, immer noch als gelernte Physikerin, wegen dieses selben
Restrisikos über Nacht zur Kanzlerin der „Energiewende“ wurde.
Erleichtert
werden derartige Wendemanöver in Deutschland durch ein
parlamentarisches Regelwerk, das es dem Kanzler erspart, wie dem
britischen Premierminister viermal in der Woche dem Oppositionsführer
gegenüberstehen zu müssen, um sich von ihm ins Kreuzverhör nehmen zu
lassen; in Deutschland tritt an die Stelle der Prime Minister’s Question
Time die Plauderstunde mit Anne Will.
Und am besten gelingen solche Manöver, wenn sie in die Fahrtrichtung
der Opposition hinein stattfinden, die dann schon aus vorauseilender
Koalitionsdisziplin auf alles verzichtet, was den wieder einmal
gedemütigten glaubensfesten Fahnenträgern des Regierungslagers Auftrieb
geben könnte.
Kernstück der neudeutschen Ideologie ist nämlich ein Selbstverständnis deutscher Politik als europäische, als Politik aus europäischer Identität für europäische Interessen, schon deshalb, weil es deutsche Identität und deutsche Interessen nicht mehr geben kann. Damit aber verbindet sich ein moralischer Anspruch auf die Gefolgschaft aller anderen Europäer, der nur Widerstand hervorrufen kann, noch gesteigert durch die Unberechenbarkeit einer als „One-Woman-Show“ (Roman Herzog und sein „Konvent für Deutschland“) betriebenen deutschen Regierungspolitik, die den Imperativen einer innenpolitischen Macht- und Parteipolitik folgt, die mindestens so exzeptionell ist wie die jedes anderen Landes. So schlagen dann die dem System Merkel eigenen, schon in Deutschland verwirrenden Positionswechsel auf die verbündeten Länder durch, und die faktische Inanspruchnahme europäischer und mitgliedstaatlicher Politik für deutsche Zwecke - die Eingemeindung der nationalen Identitäten und Souveränität anderer europäischer Länder im Zuge der Umetikettierung der deutschen Politik und Identität als europäische - wird zur internationalen Gefahrenquelle.
Ebenso wie an der Euro-Rettung lässt sich auch an der Flüchtlingspolitik die zerstörerische Dynamik des neudeutschen Sonderwegs illustrieren.
Das beginnt mit der Befremdlichkeit der deutschen „Willkommenskultur“ nahezu überall außerhalb Deutschlands, die weit über das Normalmaß internationalen Fremdelns hinausgeht.
[Wobei der Gipfel der Dummheit erreicht wurde, als ausgerechnet unser Außenminister zu faseln begann, Deutschland sei das beliebteste Land der Welt und diese weltfremde Behauptung damals auch noch als Leitmotiv dem Website von Review 2014 voranstellte.]
Gesteigert wird sie durch eine von außen als unheimlich wahrgenommene nationale Konsenskultur, die die konformistische Hinnahme auch erstaunlichster Behauptungen kollektiv obligatorisch macht.
So
ist in Deutschland zum Beispiel zu glauben oder doch zu bekennen und
jedenfalls nur unter Gefahr des Ausschlusses aus der demokratischen
Kommunikation öffentlich zu bezweifeln, dass zwischenstaatliche Grenzen
sich im 21. Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten lassen; dass dennoch
erfolgreiche Grenzsperrungen gegen Menschenrechte verstoßen, wenn sie
in Ungarn oder Mazedonien, nicht aber unter deutscher Aufsicht zwischen
der Türkei und Griechenland stattfinden; dass zwischen Asylsuchenden, Flüchtlingen
und Migranten kein Unterschied zu machen ist; dass es bei Migration nur
Push gibt und niemals Pull; dass Flüchtlinge Flüchtlinge sind, auch die
entlassenen Dolmetscher der amerikanischen Armee in Afghanistan, die
nicht in sein Land zu lassen ihr früherer Arbeitgeber Gründe zu haben
scheint; dass die Hilfsbedürftigkeit eines Migranten und die humanitäre
Pflicht ihm gegenüber sich danach bemessen, ob er genügend Geld für die
Schlepper und Kraft für die Balkan-Route hat und wie weit er auf dieser
kommt; dass es bei der Aufnahme von Migranten keine „Obergrenze“ geben
darf; dass die gemeinsam mit dem türkischen Möchtegern-Diktator
ergriffenen Maßnahmen zur Beendigung des Flüchtlingsstroms hierzu nicht
in Widerspruch stehen; und dass dasselbe für die Bemessung der Zahl der
zukünftig aus humanitären Gründen aufzunehmenden Syrer anhand der Zahl
ihrer am maritimen Anfang der nunmehr freilich abgeriegelten
Balkan-Route aufgegriffenen Landsleute gilt; dass die „Schließung der
Balkanroute“ im Anschluss an die Kölner Silvesterfeiern durch „Europa“,
unter Führung der deutschen Bundeskanzlerin, bewirkt wurde und nicht
durch Österreich oder Slowenien, weshalb sie auch in Einklang mit
„unseren Werten“ steht, was andernfalls anders wäre.
Schließlich
ist fest zu glauben, dass die Entscheidung, die deutschen Grenzen zu
öffnen, nichts mit einem politischen Bedürfnis nach Imagekorrektur im
Gefolge der Zerschlagung des griechischen Gesundheitssystems durch die
deutsche Austeritätspolitik zu tun hatte, ebenso wenig wie mit
vorgezogenen Koalitionsplanungen für 2017 oder auch mit dem
unüberwindbaren Widerstand in Merkels eigenen Reihen gegen ein
Einwanderungsgesetz und den absehbaren Folgen dieses Widerstands für die
deutsche Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik - sondern dass diese
Entscheidung allein einem richtlinienbestimmenden moralischen Impuls der
Kanzlerin als Person zu danken war und deshalb auch keines
Kabinettsbeschlusses, keiner Regierungserklärung, keines Gesetzes und
nicht einmal eines schriftlichen Erlasses an die zuständigen Behörden
bedurfte.In den Mitgliedsländern der Europäischen Union muss die Engführung der deutschen politischen Öffentlichkeit umso bedrohlicher erscheinen, als von ihnen verlangt wird, sich ihr widerspruchslos auszuliefern.
Zwar neigt jede nationale Verständigungsgemeinschaft dazu, sich ihre Außenwelt als Verlängerung ihrer Innenwelt vorzustellen. Die deutsche Politik verbindet ihre europäische Selbstdefinition aber mit dem Anspruch, dass ihre kleineren Nachbarn ihr bizarres Hin und Her laufend nachvollziehen - etwa wenn Deutschland nach „europäischen Lösungen“ für Probleme sucht, die für alle anderen deutsche sind. So bestand die deutsch-europäische Antwort auf den Migrationsdruck zunächst bekanntlich in der Forderung, Einwanderung „ohne Obergrenze“ zuzulassen und die Eingewanderten in nach oben offenen „Kontingenten“ auf alle Mitgliedstaaten der Union zu verteilen.
Ein
halbes Jahr später dagegen enthielt sie die ursprünglich für unmöglich
erklärte Absperrung der europäischen Außengrenzen mit Hilfe der Türkei,
der im Gegenzug von der deutschen Regierungschefin im Namen „Europas“
die von ihr selbst bis dahin für unerwünscht erklärte Aufnahme in die
Union sowie die Abschaffung der Visumpflicht für türkische Bürger durch
deren Mitgliedstaaten in Aussicht gestellt wurde.
Oberstes Prinzip war
das Verbot von „nationalen Alleingängen“, allerdings mit der Ausnahme
von Deutschland, das, ähnlich wie seinerzeit bei der „Energiewende“, das
Dublin-Regime ohne Konsultation der anderen europäischen Länder außer
Kraft gesetzt hatte und nur wegen der „Alleingänge“ anderer Staaten -
zunächst moralisch verurteilt, dann „europäisch“ vereinnahmt - das
Kunststück fertigbringen konnte, seine Grenzen „ohne Obergrenze“ offen
zu halten und zugleich den Zustrom der Einwanderer nach Deutschland zu
beenden.
So eingeschüchtert, wollte dann niemand wissen, was genau gemeint gewesen sein könnte, als Merkel verlauten ließ, die Flüchtlinge würden „unser Land verändern“, und zwar „zum Guten“, gefolgt ein paar Wochen später von der euphorischen Ankündigung ihrer künftigen Vizekanzlerin, durch die Einwanderung werde „unser Land religiöser werden“.
Anderswo wären Umbaupläne dieser Art mindestens eine parlamentarische Fragestunde wert gewesen - in Deutschland blieb das Thema „der Rechten“ überlassen, beziehungsweise wurde, wer es für ein Thema hielt, derselben zugerechnet. Dasselbe gilt für Rechtsform und Rechtsgrundlage der Grenzöffnung; für die Folgen der von der Regierung betriebenen Einwanderung „unserer künftigen Mitbürger“ für deren Herkunftsländer; und für das Rätsel, warum die Regierung nicht die Bedürftigsten mit Flugzeugen aus den Lagern holt, für die anderen dort Schulen und Krankenhäuser baut und diejenigen, die die deutsche Wirtschaft als Arbeitskräfte braucht - angeblich 500.000 pro Jahr für 25 Jahre (Prognose vom April 2016) - wie in Kanada nach einem Punktsystem aussucht und einfliegt.
Auch nachträglich steht man staunend vor einer öffentlichen Diskussion, der es unmöglich war und noch ist, Humanitätspflichten von Wirtschaftsinteressen und die eigenen Bedürfnisse von denen der Flüchtlinge zu unterscheiden, um damit beiden besser gerecht zu werden, wie von George Soros (!) kürzlich in einem klugen Artikel in der „New York Review of Books“ detailliert vorgeschlagen. Stattdessen erklärt man demokratischen common sense für rechtsradikal und handelt sich damit die Gefahr ein, die rechtsradikalen als privilegierte oder gar einzige Vertreter desselben erscheinen zu lassen.
Auch
große Teile der deutschen Qualitätspresse, von den
öffentlich-rechtlichen Medien nicht zu reden, haben vergessen, dass es
zu den Aufgaben politischer Kommentierung gehört, die von den
politischen Maschinen produzierten „Narrative“ auf ihre Lokalisierung in
den in ihnen unterliegenden Geflechten kollektiver und partikularer
Interessen hin zu untersuchen, anstatt sich als Cheerleader einer
karitativen Begeisterungswelle zu betätigen, von der jeder wissen
konnte, dass sie nicht lange anhalten würde. Statt kritischer Analyse
erleben wir allzu oft eine psychologisierende Hofberichterstattung, vor-
und postmodern zugleich, über die Damaskus-Erlebnisse einer
Parteiführerin, die zu solchen, anders als der zum Paulus gewordene
Saulus, immer wieder von neuem, sobald es die Lage erfordert, fähig zu
sein scheint, von Fukushima über Budapest bis Istanbul.
Angeblich gewöhnt man sich ja an alles. Die letzte Wendung der deutsch-europäischen Flüchtlingspolitik scheint zu sein, dass die Mitgliedstaaten die deutsche Regierungschefin, den Ratspräsidenten im Schlepptau, „europäische“ Verträge mit wem auch immer aushandeln lassen, ohne die Absicht, sich hinterher an diese gebunden zu fühlen. Das ist allemal besser als die fortschreitende Ausbreitung der gewachsenen Feindseligkeit gegen einen als solchen wahrgenommenen deutschen Imperialismus, ökonomisch, moralisch oder beides zugleich. Vielleicht bereitet dies ja die Lockerung der lateralen Kopplung der Mitgliedstaaten an die Flatterhaftigkeit der deutschen Politik vor, indem sie sie vorwegnimmt.
Am Ende stünde dann möglicherweise eine der realen sozialen Verfassung Europas gerecht werdende politische Verfassung, in deren Rahmen die Deutschen nach ihrer Façon selig werden könnten, ohne dass alle anderen dabei mitmachen müssten. Auch hierfür ist es freilich unerlässlich, im Interesse guter Nachbarschaft an einer nachhaltigen Erweiterung des thematischen und argumentativen Spektrums der deutschen politischen Öffentlichkeit zu arbeiten, unter entschiedener Missachtung der von den Hoflieferanten der Milch der frommen Denkungsart verhängten Denkverbote und der zu ihrer Verteidigung eingesetzten Diffamierungen. Das Risiko, das man sich damit einhandelt - von Leuten, die nie aus Deutschland herausgekommen sind, als „Anti-Europäer“ oder gar „Sozialnationalist“ aus der politischen Legitimitätszone ausgebürgert zu werden -, muss uns Europa wert sein. Wolfgang Streeck
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