Stationen

Samstag, 2. April 2016

Kostbare Skepsis

Wenn alles so läuft wie geplant, wird die AfD in gut einem Monat über ein Grundsatzprogramm verfügen. Eines, das es in sich hat: Auf 80 ziemlich eng beschriebenen Seiten wird ein nahezu vollständiger Katalog alles dessen aufgeblättert, was neuerdings zur Politik gehört; so will es die Basisdemokratie, der sich die AfD verpflichtet fühlt. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, will diese Basis über die endgültige Fassung des Programms entscheiden.
Für eine Partei, die es liebt, sich als konservativ zu bezeichnen, ist das kein leichtes Unterfangen. Denn wenn es etwas gibt, was einem wahrhaft Konservativen verdächtig, ja zuwider ist, dann die Verpflichtung auf Programme, Ideologien und Dogmen gleich welcher Art. Tatsächlich ist die CDU, solange sie sich als konservative Kraft verstand (und deshalb so erfolgreich war) jahrzehntelang ohne ein Programm ausgekommen. Programm war die Wirklichkeit, die Nüchternheit und Augenmaß verlangte, aber keine Projekte und erst recht keine Visionen von einer rundum besseren Welt.

Das hat sich geändert, in Deutschland und in ganz Europa. Die Erfolge so unterschiedlicher Parteien wie der Schwedendemokraten und des Vlaams Belang, der englischen Ukip und des französischen FN lassen das erkennen. Gemeinsam ist ihnen die Abneigung gegen Projekte und Visionen, überwölbt vom Mißtrauen gegen eine politische Klasse, die Lösungen für Probleme anbietet, die wir ohne sie gar nicht hätten.
Und eben das, der Zweifel, die Vorsicht, das Mißtrauen gelten seit jeher als genuin konservative Tugenden. In einem Land, in dem Christliche Demokraten den Islam propagieren, in dem die SPD den Spekulanten schöne Augen macht und Grüne jede Abtreibung als Heldentat feiern, besteht dazu ja auch Anlaß genug. Mißtrauen ist ein Zeichen für die Bereitschaft zur Rückkehr in die Wirklichkeit.

Diese zutiefst konservative Skepsis durchzieht das AfD-Programm. „Wir glauben nicht an die Verheißungen politischer Ideologien oder an die Heraufkunft eines besseren, eines neuen Menschen“, heißt es gleich im ersten Kapitel. Dem Geraune vom Ende der Geschichte, dem Kinderglauben an eine Welt ohne Verluste, ohne Krankheit, Unglück und Enttäuschung setzt die AfD den skeptischen Realismus des Engländers Michael Oakeshott entgegen, der den Konservativen als einen Menschen beschrieben hat, der das Vertraute dem Unbekannten vorzieht, das Erprobte dem Unerprobten, das Gegebene dem Verborgenen, das Nächstliegende dem Entfernten, das Vorhandene dem Möglichen, das Begrenzte dem Unbegrenzten, das Brauchbare dem Vollkommenen „und die Fröhlichkeit dem utopischen Glück“.
Solche Bekenntnisse sind weder rechts noch links. Sie stehen quer zur Programmatik der Altparteien, die den Wählern das Märchen vom ewigen Wachstum, vom immerwährenden Fortschritt, vom Anbruch eines neuen, herrlichen Zeitalters täglich neu auftischen. Das glauben die Leute aber längst nicht mehr. Sie gehen in den Wald und sehen, daß die Bäume wachsen; aber nicht in den Himmel wachsen. Die AfD sieht das auch. Und sagt es.

Sie setzt auf den starken, aber schlanken Staat. Einen Staat, der dort sitzt, wo er hingehört: über den Parteien, über den Verbänden und über den Heerscharen von Lobbyisten und Experten, die dem Bürger über den Mund fahren, wenn er es wagt, ihn aufzumachen. Alle diese Neben-Regierungen haben ihre eigenen Interessen im Auge, wenn sie behaupten, den unseren zu dienen; die EZB, die eine Politik für Banker, aber nicht für Bürger betreibt, ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Ihr Versuch, die Grenzen ihrer Macht selbst abzustecken, ist ein Angriff auf den urdemokratischen Grundsatz, daß legitimer Machtgebrauch die Zustimmung der Machtunterworfenen voraussetzt.
Die AfD nimmt diesen Grundsatz ernst. Um den Bürger als Souverän des Ganzen zu ertüchtigen, wehrt sie sich gegen die Übermacht von Parteien, die das Wirksamwerden jener „besonderen Organe“ der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalten einfach dadurch unterlaufen, daß sie, wie es der Staatsrechtslehrer Dieter Grimm formuliert hat, „ihr Werk immer schon verrichtet haben, ehe die verfassungsrechtliche Gewaltentrennung zugreifen kann“. Und eben damit, wäre zu ergänzen, einer der wichtigsten Bastionen zur Verteidigung unserer bürgerlichen Freiheitsrechte in den Rücken fallen.

Mit ihrer Kritik am herrschenden Parteibetrieb hat sich die AfD auf eine heikle Sache eingelassen. Sie greift die Wucherungen des Parteienstaates ja nicht von außen an, sondern von innen, als Mitspieler und Konkurrent. Daraus ergibt sich ein Dilemma: Einerseits muß sie sich, um gegenüber den Mitspielern nicht ins Hintertreffen zu geraten, der Möglichkeiten bedienen, die ihr der außer Rand und Band geratene Parteibetrieb eröffnet. Auf der anderen Seite will sie diese Möglichkeiten aber einschränken, auf ein verfassungskonformes Ausmaß reduzieren: kein leichtes Spiel.
Nachdem die Partei in der Hälfte aller Landesparlamente angekommen ist, muß sie beweisen, daß sie es ernst meint mit ihren Bekenntnissen zur Gewaltenteilung, zur Trennung von Amt und Mandat und zur Position des von ihr so genannten Bürgerabgeordneten, einer Person, die sich vom herkömmlichen Abgeordneten dadurch unterscheiden soll, daß sie ihr Mandat den Wählern, nicht dem Parteiestablishment verdankt. Die Probezeit hat eben erst begonnen.  Konrad Adam

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