Eines meiner Seminare bei Ernst Bloch zwischen 1969 und 1971 an der Uni Tübingen trug den Titel „Schein und Vorschein in der Kunst“. Kernsubstrat, das der utopische Marxist Bloch – Hauptwerk: „Das Prinzip Hoffnung“ – uns dabei mitgab: In der Kunst bildet sich die Hoffnung auf ein besseres Morgen ebenso ab wie die Beschreibung einer Welt, die sich erst im Stadium des „Noch-nicht“ befindet. Kunst offenbart, dass die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht. Sogar Apple- oder Samsung-Produkte finden sich vorscheinhaft schon in der Kunst vergangener Jahrhunderte wieder.
„Kunst ist grundlegend als reeller Vor-Schein bestimmt, als ein – zum Unterschied zum Religiösen – immanent vollendeter. Eben dadurch wird dieser Vor-Schein erlangbar, dass Kunst ihre Stoffe, in Handlungen, Situationen wie Gestalten, zu Ende treibt, in Leid, Glück wie Bedeutung zum ausgesagten Austrag bringt“ („Das Prinzip Hoffnung“).
Ich weiß nicht mehr, ob ich das damals alles verstanden habe, auch wenn ich es mir immer einbildete. Jetzt habe ich endlich den Beweis dafür gefunden, dass Bloch recht hatte. Er wusste, zu welchen konkreten Utopien die Kunst, zumal die bildende, tatsächlich fähig ist. Ein altes Gemälde, „Die Erwartete“ von Ferdinand Georg Waldmüller (1793-1865), das in der Neuen Pinakothek in München hängt, ist von verblüffender Zukunfts-, für uns Heutige also Jetztzeitnähe. Hat man im Silicon Valley vielleicht nur für unsere heutige Alltagswelt nach-geschaffen, was sich schon ein bayrischer Genre-Maler vor 150 Jahren im Wortsinne „ausmalte“?
Texting while walking und das schon vor 150 Jahren
In diesem Bild hat Waldmüller einen Begegnungsmoment zweier junger Menschen auf einem hochsommerlichen Feldweg eingefangen. Eine scheinbar etwas banal geratene bukolische Romanze, die wohl gerade im Entstehen begriffen sein könnte, jedenfalls, wenn man sich in die schmachtende Erwartung des jungen Burschen hineinversetzt. Das aus der Mitte dem Bildbetrachter entgegenkommende Mädel jedoch wird den Jüngling kaum beachten, der ihm entgegenzubrennen scheint.Das, was die junge Frau gerade in ihren Händen vor sich herträgt, verlangt in diesem Augenblick ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie liest etwas mit jenem gefesselten Blick, der seit einigen Jahren zunehmend auch auf unseren Straßen weder uns noch der übrigen Umgebung gilt... wenn wir Menschen an uns vorbeigehen sehen, die, so scheint es, den nämlichen Gegenstand in der Hand halten, über den ihr Kopf sich neigt – hochkonzentriert und in sich gekehrt wie auf dem Bild des romantischen Malers.
Zwischen Messias und Messenger besteht nur ein sehr gradueller Unterschied
Natürlich, auf dem Gemälde hält die junge Frau kein Smartphone in den Händen, es ist ein Gebetsbuch. Die religiöse Inbrunst, die mönchische Monade einer Botschaften empfangenden Smartphone-Nutzerin mehr als anderthalb Jahrhunderte später hat Waldmüller allerdings schon genau bis in die Körperhaltung hinein erfasst. Texting while walking, in gespannter Erwartung der nächsten WhatsApp-Nachricht oder beim Tippen einer SMS. Und die Vergeblichkeit, mit der wir außerstande sind, eines anderen Menschen Blick, der aufs Display des elektronischen Verkünders („messenger“) wie fest montiert gerichtet ist, kurz vielleicht zu uns herüber zu lenken, durch unser Lächeln etwa oder eine Handbewegung.Verurteilt sind wir stattdessen zur Ergebnislosigkeit unserer Gesten, unseres Wollens und unserer Augenaufschläge, unter der Herrschaft nicht mehr des längst abgedankten Prinzips Hoffnung, sondern des Prinzips Samsung, das streng die Schritte und die Augen der Anderen lenkt und jede Irritation abweist, jedes Begehren – an den äußersten unteren Bildrand gedrängt wie das des Jünglings in Waldmüllers verzweifelt-traurigem Arrangement. Paul Nellen
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