Wenn Samuel Schirmbeck, langjähriger ARD-Korrespondent in
Algier, bei gelegentlichen Heimreisen seinen überwiegend linken Freunden
die aggressive Landnahme des politischen Islam in Algerien schilderte,
dann entgegneten die ihm regelmäßig: er müsse irren. Er übertreibe. Muslime
seien überwiegend gemäßigt und die Einwohner des Maghreb gefälligst als
Opfer europäischer Kolonialpolitik zu betrachten. Schirmbeck, Jahrgang
1941, verfolgt die Entwicklung in Nordafrika zwar seit Anfang der
neunziger Jahre, er spricht perfekt Französisch, einigermaßen Arabisch
und kennt den Koran. Bei seinen wohlmeinenden deutschen
Gesprächspartnern zählte das alles wenig bis nichts.
Sein neues Buch trifft wie der Vorgänger „Der islamische Kreuzzug und die Ratlosigkeit des Westens“
von 2016 auf eine deutsche Gesellschaft, in der die Neigung, den Islam
durch das westlich-linke Raster zu sehen, zumindest die öffentliche
Meinung beherrscht. „Die Linke hat den Verstand verloren“,
diagnostiziert Schirmbeck. Sie sei dabei, alles aufzugeben, was sie
einmal prägte: Religionskritik, Ideologiekritik, Einsatz für
Frauenrechte, Verteidigung von Juden und Homosexuellen: „Ihre
Toleranz dem Islam gegenüber duldet alles, was der aufgeklärten
deutschen Gesellschaft und was freiheitsbewussten Muslimen und
Musliminnen in Deutschland und aller Welt schadet.“ Der Autor
erlebte die schrittweise Islamisierung Algeriens, eines Landes, dessen
Intellektuelle sich noch in den Neunzigern an Frankreich orientierten
und westlich lebten, und für dessen Bevölkerung noch vor zwanzig Jahren
der Islam mehrheitlich nicht das ganze Leben bestimmte. Schirmbeck kennt
auch die Linke in Deutschland und Europa. Er steht ihr ratlos
gegenüber, aber nicht feindselig. Wütende Polemik ist seine Sache nicht.
Eher bietet er der Linken eine Art Therapiegespräch an.
Wie
erklärt sich, fragt er, die Verbindung der merkwürdigen Bettgenossen,
die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen? Der Schlüssel, schreibt
Schirmbeck, liege in einer Gemeinsamkeit, die mächtiger sei als alles
Trennende: dem Schuldgefühl. „Das linke Schuldgefühl kommt aus der
Hölle der deutschen Vergangenheit. Das islamische Schuldgefühl kommt aus
dem allmächtigen Himmel, in dessen Dienst die islamische Welt ihre
Zukunft verpasst. Das linke Schuldgefühl entlastete sich durch maximale
Toleranz. Das islamische Schuldgefühl besänftigt sich durch maximale
Intoleranz. Beide Schuldgefühle erzeugen ein Monstrum aus Irrationalität
auf deutschem Boden.“
Der Autor schöpft aus seinen langen
Erfahrungen in Nordafrika und Frankreich, er streut in sein Buch auch
mehrere Interviews ein, etwa mit dem Politiker Ali Ertan Toprak, der die
Grünen wegen deren Naivität gegenüber dem politischen Islam verließ.
Oder mit dem Chronisten der altlinken Bewegung Wolfgang Kraushaar, der
daran erinnert, dass gerade die Achtundsechziger dem Begriff „Toleranz“ – damals als „repressive Toleranz“
gewendet – außerordentliches Misstrauen entgegengebracht hatten. Heute
gilt dass Wort als eine Art Generalschlüssel, der dem politischen Islam
die Türen im Westen öffnet.
Kraushaar weist in Schirmbecks Buch
auch darauf hin, wie ahnungslos und begeistert Linke wie Joseph Fischer
1979 den Sturz des Schah im Iran und die Machtübernahme Khomeinis
bejubelten. Sie sahen in dem Umsturz eine Revolution nach linkem Muster.
Die Religion interessierte sie kaum.
Diese historischen
Rückblenden geben dem Buch eine Tiefenschärfe, die auch die aktuelle
Migrations- und Islamdebatte in einen größeren Zusammenhang stellt.
„Gefährliche Toleranz“
räumt einem Phänomen großen Raum ein, in dem für Schirmbeck der
aktuelle Widersinn besonders grell aufscheint: Während junge Frauen im
Iran unter hohem Risiko gegen den Verschleierungszwang kämpfen, erklären
muslimische Aktivisten und ihre linken Unterstützer im Westen den
Schleier gerade zum Symbol der weiblichen Emanzipation. Der Schleier,
meint er, stehe symbolisch gegen alles, was einmal zu der
emanzipatorischen Linken gehört habe. Er sei das „Leichentuch für 1968“.
Bei
Samuel Schirmbeck finden sich immer wieder Sätze von großer Prägnanz.
Einer davon umreißt das Desinteresse des politischen Islam an Aufrufen
wie dem von Katrin Göring-Eckardt, man müsse die muslimische Religion in
toto hier „beheimaten“. Schirmbeck schreibt: „Der Islam fragt nicht, ob er zu Deutschland gehört.“ Wendt