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Dienstag, 23. Oktober 2018

68 und Islam - ein Monster auf deutschem Boden

Wenn Samuel Schirmbeck, langjähriger ARD-Korrespondent in Algier, bei gelegentlichen Heimreisen seinen überwiegend linken Freunden die aggressive Landnahme des politischen Islam in Algerien schilderte, dann entgegneten die ihm regelmäßig: er müsse irren. Er übertreibe. Muslime seien überwiegend gemäßigt und die Einwohner des Maghreb gefälligst als Opfer europäischer Kolonialpolitik zu betrachten. Schirmbeck, Jahrgang 1941, verfolgt die Entwicklung in Nordafrika zwar seit Anfang der neunziger Jahre, er spricht perfekt Französisch, einigermaßen Arabisch und kennt den Koran. Bei seinen wohlmeinenden deutschen Gesprächspartnern zählte das alles wenig bis nichts.
Sein neues Buch trifft wie der Vorgänger „Der islamische Kreuzzug und die Ratlosigkeit des Westens“ von 2016 auf eine deutsche Gesellschaft, in der die Neigung, den Islam durch das westlich-linke Raster zu sehen, zumindest die öffentliche Meinung beherrscht. „Die Linke hat den Verstand verloren“, diagnostiziert Schirmbeck. Sie sei dabei, alles aufzugeben, was sie einmal prägte: Religionskritik, Ideologiekritik, Einsatz für Frauenrechte, Verteidigung von Juden und Homosexuellen: „Ihre Toleranz dem Islam gegenüber duldet alles, was der aufgeklärten deutschen Gesellschaft und was freiheitsbewussten Muslimen und Musliminnen in Deutschland und aller Welt schadet.“ Der Autor erlebte die schrittweise Islamisierung Algeriens, eines Landes, dessen Intellektuelle sich noch in den Neunzigern an Frankreich orientierten und westlich lebten, und für dessen Bevölkerung noch vor zwanzig Jahren der Islam mehrheitlich nicht das ganze Leben bestimmte. Schirmbeck kennt auch die Linke in Deutschland und Europa. Er steht ihr ratlos gegenüber, aber nicht feindselig. Wütende Polemik ist seine Sache nicht. Eher bietet er der Linken eine Art Therapiegespräch an.
Wie erklärt sich, fragt er, die Verbindung der merkwürdigen Bettgenossen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen? Der Schlüssel, schreibt Schirmbeck, liege in einer Gemeinsamkeit, die mächtiger sei als alles Trennende: dem Schuldgefühl. „Das linke Schuldgefühl kommt aus der Hölle der deutschen Vergangenheit. Das islamische Schuldgefühl kommt aus dem allmächtigen Himmel, in dessen Dienst die islamische Welt ihre Zukunft verpasst. Das linke Schuldgefühl entlastete sich durch maximale Toleranz. Das islamische Schuldgefühl besänftigt sich durch maximale Intoleranz. Beide Schuldgefühle erzeugen ein Monstrum aus Irrationalität auf deutschem Boden.“
Der Autor schöpft aus seinen langen Erfahrungen in Nordafrika und Frankreich, er streut in sein Buch auch mehrere Interviews ein, etwa mit dem Politiker Ali Ertan Toprak, der die Grünen wegen deren Naivität gegenüber dem politischen Islam verließ. Oder mit dem Chronisten der altlinken Bewegung Wolfgang Kraushaar, der daran erinnert, dass gerade die Achtundsechziger dem Begriff „Toleranz“ – damals als „repressive Toleranz“ gewendet – außerordentliches Misstrauen entgegengebracht hatten. Heute gilt dass Wort als eine Art Generalschlüssel, der dem politischen Islam die Türen im Westen öffnet.
Kraushaar weist in Schirmbecks Buch auch darauf hin, wie ahnungslos und begeistert Linke wie Joseph Fischer 1979 den Sturz des Schah im Iran und die Machtübernahme Khomeinis bejubelten. Sie sahen in dem Umsturz eine Revolution nach linkem Muster. Die Religion interessierte sie kaum.
Diese historischen Rückblenden geben dem Buch eine Tiefenschärfe, die auch die aktuelle Migrations- und Islamdebatte in einen größeren Zusammenhang stellt.
„Gefährliche Toleranz“ räumt einem Phänomen großen Raum ein, in dem für Schirmbeck der aktuelle Widersinn besonders grell aufscheint: Während junge Frauen im Iran unter hohem Risiko gegen den Verschleierungszwang kämpfen, erklären muslimische Aktivisten und ihre linken Unterstützer im Westen den Schleier gerade zum Symbol der weiblichen Emanzipation. Der Schleier, meint er, stehe symbolisch gegen alles, was einmal zu der emanzipatorischen Linken gehört habe. Er sei das „Leichentuch für 1968“.
Bei Samuel Schirmbeck finden sich immer wieder Sätze von großer Prägnanz. Einer davon umreißt das Desinteresse des politischen Islam an Aufrufen wie dem von Katrin Göring-Eckardt, man müsse die muslimische Religion in toto hier „beheimaten“. Schirmbeck schreibt: „Der Islam fragt nicht, ob er zu Deutschland gehört.“   Wendt