Der Philosoph aus Karlsruhe arbeitet in seiner Tagebuchserie schon
seit vielen Jahren als Chronist des großen Theaters im eigenen Kopf.
Dort geht es nie langweilig zu, sondern wie in einer Mischung aus der
Schule von Athen und Varieté. Sloterdijk unterhält sein Publikum auf
gleichbleibend artistischem Niveau, egal, ob er eine erweiterte
Zeitungsschau liefert, Berichte über seine Radausflüge, intellektuellen
Klatsch oder Kristallisationskerne künftiger Bücher. Einer dieser Kerne
liest sich so: „Nichts ist so europäisch wie der Vorwurf, europäische
Grundsätze würden zu selektiv angewendet“, schreibt der Autor
hellsichtig in einem Eintrag am 16. September 2011: „Stellen wir die
Frage probeweise andersherum: warum werden keine iranischen Preise für
die Verteidigung der Menschenrechte verliehen? Wo ist die arabische
Nation, die politischen Flüchtlingen aus Osteuropa Sozialhilfe gewährt?
Wo ist das afrikanische Land, das seinen Arbeitslosen ein
Minimaleinkommen garantiert? Es sind Europäer und immer nur sie, samt
ihrer Filialkulturen jenseits der Ozeane, die hohe moralische Standards
aufrichten, bis hin zur Ebene von Grundrechtserklärungen, und dann sich
selbst geißeln, und zur Kritik von außen einladen, wenn sie nicht
imstande sind, sie vollständig zu erfüllen.“
Dass die neue Ausgabe von „Zeilen und Tage“
2013 endet, hat die Qualität eines Cliffhangers: viele luzide Skizzen
dieser Art dürften sich in seinen hoffentlich schnell folgenden
Einträgen nach 2015 zu großen Panoramen entfalten. Wendt