Heute sei ein sogenanntes Sachbuch an dieser Stelle präsentiert. Wie
der regelmäßige Besucher und die allzeit nicht nur mitgemeinte, sondern
besonders geschätzte Besucherin meines kleinen Eckladens wissen, lese
ich so ziemlich alles, was Alexander Wendt schreibt. Das gilt nicht erst
recht, aber auch, wenn mich das Thema in Sphären führt, mit denen ich
eher fremdle, wie im Falle von Wendts soeben erschienenem Buch
"Kristall. Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts"
(Klett-Cotta, 242 S., zu bestellen hier oder hier).
Also
nicht, dass ich in meinem Lotterleben keine Drogen jenseits jener
genommen hätte, welche man in seiner Jugend aus der Flasche und später
aus Gläsern enthusiastisch in sich hineinsaugt, doch das ist lange her
(ich bin, nebenbei, der DDR-Haschischkonsumschilderer von Seite 40/41).
Mein Stimulus und unangefochtener persönlicher Existenzaufheller ist und
bleibt der Rebensaft, weil er als einzige Droge die verlässliche
Rauschanbrandung mit geschmacklichen Offenbarungen sui generis verbindet. Ich mag überhaupt nichts zu mir nehmen, das mir nicht schmeckt. Einschub beendet.
Bei
näherer Betrachtung ist Wendts Buch ein Bäumchen-wechsle-dich, es
handelt nur teilweise von Psychopharmaka, tatsächlich geht es um die
Selbstoptimierung des Menschen. "Kristall" beginnt als Drogen-Reportage
aus Produzenten-, Händler-, Bekämpfer- und Konsumentensicht, verwandelt
sich in eine Drogenhistorie, was automatisch auch die Medizin- und
Chemiegeschichte tangiert, und endet als eine Art Fortsetzung von Peter
Sloterdijks Selbststeigerungs-Opus "Du musst dein Leben ändern". Das
hängt entscheidend mit der zentralen These des Buches zusammen, welche
lautet: Die Droge als Rauschmittel war nur Intermezzo und Experiment;
die Zukunft gehört der Droge als Mittel zur Leistungsoptimierung. Der
traditionelle Gebrauch war eine Flucht, er führte Beladene und Suchende
aus einer als unvollständig empfundenen Welt in Ersatz- und
Parallelwelten; der zukünftige Gebrauch wird der Beherrschung der
Realität nach den Wünschen des Konsumenten dienen. Der sensitive Ernst
Jünger hatte 1948 in einem Brief an den LSD-Erfinder Albert Hoffmann
geschrieben: "In unserer Zeit glaube ich übrigens weniger eine Neigung
für die Phantastica als für die Energetica wahrzunehmen."
Beginnen
wir von vorn. Drogengebrauch gehört zu den anthropologischen Konstanten
wie der Tanz, der Gesang, das Jenseits, der Mythos, die bildende Kunst.
Es gibt kein Volk, das nicht seine Rauschmittel gefunden hätte. "Könnte
es sein", fragt Wendt, "dass die Wünsche nach Freiheit von
Beschränkungen wie Schmerz, nach Unverwundbarkeit, nach dem Herumspielen
an der eigenen Standardeinstellung so ursprünglich und elementar sind,
dass Narkotika zum Gehirn also passen wie ein Schlüssel zum Schloss?
Dass Menschen und Drogen ein System bilden?"
Auf jeden Fall bilden
beide ein System des Gebens und Nehmens. Der herkömmliche Nießbrauch
beruht auf einer Art Pakt zwischen Mensch und Droge: Entrückung,
Schmerzfreiheit, seelische Entlastung, Wachheit und Leistungskraft
werden getauscht gegen Lebenszeit, Lebensenergie, Gesundheit. Mit Drogen
– speziell mit leistungssteigernden Mitteln – zapft Homo sapiens
seine existentiellen Batterien an (ich bin mir, ohne es begründen zu
können, recht sicher, dass jedem Menschen sein Quantum Lebensenergie
genetisch zugewiesen ist); es ist wie ein Kredit, den man investiert,
aber zurückzahlen muss.
Um an diesen Kredit zu kommen, neigen
Bedürftige seit jeher zu extremen Verhaltensweisen. Wendt zitiert den
Weltreisenden Oliver Goldsmith, der Mitte des 18. Jahrhunderts bei den
Tataren einen so unappetitlichen wie eindrucksvollen Vorgang beobachtet
hatte, nämlich dass die Bessergestellten unter den Steppenreitern ein
Gebräu aus psychoaktiven Pilzen tranken, welches wegen seiner
berauschenden Wirkung sehr begehrt war – so begehrt, dass die
Angehörigen der unteren Schichten mit hölzernen Schüsseln vor den Hütten
der feiernden Reichen warteten, um deren Urin aufzufangen und "die
köstliche Substanz, welche sich durch die Filtration kaum geändert hat",
zu trinken. 250 Jahre später dient das Phänomen unvollständiger
Filtration, welches heute vornehmlich genäschige Ratten enthusiasmieren
dürfte, dem Nachweis eines Paradigmenwechsels in der
Drogenkonsumentenwelt. "Nach einer Untersuchung des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addinction
(EMCDDA), das jährlich das Abwasser von Großstädten nach Resten von
Rauschmitteln durchsuchen lässt, verbrauchen Kokainkonsumenten in London
während der Woche mehr Stoff als an den Wochenenden", notiert der
Autor. Der europäische Kokain-Hotspot ist demzufolge Barcelona,
doch auf den Plätzen folgen ausgesprochen nüchterne Städte: Antwerpen,
Zürich, St. Gallen, Genf, Basel, Bern. Auch das spricht dafür, dass die
Droge tendenziell eher der Arbeit als dem Vergnügen dient und, um einen
kurzen Aufmerksamkeitsschwenk nach Deutschland einzuflechten, Christoph
Daum um mindestens eine Nasenlänge trendiger war als Michel Friedman.
Koks
als "reiner Treibstoff", wie einer von Wendts kalifornischen
Gesprächspartnern formuliert, ist in Firmen, Banken und Bürohäusern bis
in die höchsten Management-Etagen verbreitet, desgleichen MDMA, der
Ecstasy-Wirkstoff, und andere Wachmacher, denn lange Zeit konzentriert
arbeiten zu können, ohne zu ermüden, gilt in dieser Sphäre als ein Wert
an sich. Entscheidend ist, dass sich der Mitarbeiter oder Chef nicht
berauscht – also nicht genießt –, sondern sich durch die Technik des
"Microdosing" in einen leistungsfähigen "fröhlichen Roboter" (Helmut
Schelsky) verwandelt. Der besagte kalifornische Gesprächspartner, ein
mit LSD hantierender Unternehmer, quantifiziert eine Mikrodosis als
"etwa das Zehntel einer Rauschdosis". Das sei nicht so viel, dass sich
visuelle Veränderungen einstellten, aber eine Wirkung im Gehirn sei
spürbar: "Ich fühle mich besser und konzentrierter." Auch Steve Jobs
soll mit LSD experimentiert haben. Anno 2016 setzen Londoner
Neurowissenschaftler 20 Probanden unter LSD und werteten deren Hirnscans
aus. Sie beobachteten, wie das Ich-Zentrum durch die Wirkung der Droge
vorübergehend die Kontrolle verlor, während sich Hirnregionen, die
üblicherweise Distanz zueinander halten, zu einem spontanen Netzwerk
zusammenschlossen – "die biologische Masse bekommt etwas Rechnerartiges.
Genau diese Wirkung kam möglichweise Steve Jobs entgegen", spekuliert
Wendt.
In der deutschen Version von "Pulp Fiction" gibt es eine
Szene, in welcher der Auftragskiller Vincent von seinem Dealer das
aktuelle Sortiment präsentiert bekommt, darunter einen sensationellen
Stoff "aus dem Erzgebirge" (im englischen Original stammt das Heroin
seltsamerweise aus dem Harz). Wie Wendts Buch zeigt, lag zumindest die
deutsche Synchronisation vollkommen richtig. Der Erzgebirgsraum,
besonders die tschechische Seite, war das Drogenzentrum des Ostblocks.
Vor allem Crystal Meth wurde bzw. wird dort hergestellt. Von dem Zeug
weiß die Öffentlichkeit gemeinhin nur, dass es Junkies binnen kurzer
Zeit in Wracks verwandelt, es gibt eindrucksvolle Vorher-nachher-Fotos.
Doch auch dieses Methamphetamin eignet sich mikrodosiert gut dazu, die
Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Wenn Cracks auf Chrystal Meth mit
gebrochenen Gliedmaßen einfach weiterrennen oder -kämpfen können, was
mehrfach bezeugt ist, dann vermag sich jeder auszurechnen, welche
vitalisierende Wirkung bereits in einem geringfügigen Quantum steckt.
Drogen
machen Angst, das wird sich auch in Zeiten ihrer zumindest teilweisen
Verwandlung von Rauschmitteln in Fitmacher kaum ändern. Um die
Kreditschuldentilgung kommt niemand herum, mögen sich die modernen
Hochleistungs-Junkies auch noch so gesund ernähren, Sport treiben und am
eigenen Erfolg berauschen. Wendt erinnert daran, dass parallel zu den
erfolgreichen und gutverdienenden Mikrodosierern in der IT-Industrie vor
allem in den heruntergekommenen einstigen amerikanischen
Industriestädten eine der schwersten Drogenmiseren seit vielen Jahren
herrsche, Opiod Crisis genannt. "In einem vergröberten
Holzschnittbild erscheint Microdosing psychedelischer Stoffe als
Substanzgebrauch der gesellschaftlichen Avantgarde und Overdosing von
Opioiden als Praxis der weißen Industriearbeiternachhut und derjenigen,
die noch weiter zurückgefallen sind." Immer mehr der Letzteren sterben
an einer Überdosis. West-Virginia etwa verzeichnete 2017 eine Todesrate
von 41,5 auf 100.000 Einwohner, was die Zahl der Schusswaffentoten in
vielen lateinamerikanischen Ländern (und in den USA erst recht)
übertrifft. In Lateinamerika wiederum sterben hundertmal so viele
Menschen im Kampf um den Drogenmarkt. Speziell in Mexiko führen diese
Bandenkriege mit ihren viehischen Exekutionspraktiken zu Todesraten wie
in einem Bürgerkrieg. Nach einem historischen Exkurs über das Scheitern
jedweder staatlichen Prohibition erteilt Wendt den Befürwortern einer
kontrollierten Drogenfreigabe das Wort: einem Lissaboner Arzt, der als
Regierungsbeauftragter in Portugal die Quasi-Legalisierung mit
durchgesetzt hat, einer ehemaligen MI5-Mitarbeiterin, die sich
mittlerweile gegen den War on Drugs einsetzt, einem führenden
deutschen Suchtexperten. Wie schon zu Zeiten des legendären Al Capone
haben die heutigen Monopolisten des Schwarzmarktes nur eine Sorge: dass
ihre Ware aus der Illegalität geholt wird.
Alle synthetisch
hergestellten Drogen begannen ihre Karriere als Medikamente (und wurden
nahezu samt und sonders von deutschen und deutschschweizerischen
Chemikern erstfabriziert, weil der deutschsprachige Raum zwischen ca.
1850 und 1950 das globale Zentrum der Chemie gewesen ist). In der Regel
fanden sie Verwendung als Schmerzmittel oder Antidepressiva. Sie sollten
helfen, heilen oder Dysfunktionen kompensieren, ungefähr wie Prothesen
oder Hörgeräte. Es war nur eine logische Konsequenz, dass irgendwann die
Frage aufkam: Wenn solche Mittel Kranken etwas geben können, das ihnen
fehlt, warum dann nicht auch Gesunden etwas, das sie kompletter macht?
Im
Schlusskapitel "Halbgötter" begibt sich der Autor in die Nebelgebirge
der Zukunftsschau und verbindet die individuelle Optimierung durch
Drogen mit den ambivalenten Versprechungen der künstlichen Intelligenz.
"Die Zukunft der entkriminalisierten, intelligent gehandhabten
Substanzen zeigt sich jetzt schon skizzenhaft im Silicon Valley, wo
viele Techies sich mit LSD und MDMA konditionieren und gleichzeitig an
der Mensch/Maschine-Schnittstelle und an der digitalen Kartierung des
menschlichen Gehirns arbeiten", schreibt Wendt und fragt nach den
Folgen, die sich ergeben, "falls irgendwann ein Teil der Bevölkerung mit
weniger Schlaf auskommt, konzentrierter arbeiten kann, unbelästigt von
größeren Krankheiten lebt und direkt aus dem Gehirn Verbindung mit
Maschinen und anderen Menschen aufnehmen kann". Diese transhumane Elite
würde sich "in ihren Möglichkeiten vom großen Rest so absetzen wie heute
Laptop- und Internetnutzer von Analphabeten". Es wären "die ersten
Siedler einer neuen Welt". Das erinnert an Nietzsches oder besser an
Trotzkis kommunistischen Übermenschen, der sich im Durchschnitt
"zum Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx emporschwingen", aber
in seinen besten Exemplaren darüber hinauswachsen und "zum Objekt
kompliziertester Methoden der Auslese und des psychophysischen
Trainings" avancieren sollte, nur ist heute die Möglichkeit einer
solchen Artenspaltung ungleich höher als damals. Mag die aus
lustfeindlichen Veredelungsideen sprechende Effizienzbesessenheit auch
abstoßend wirken, unsereins ist bereit, alles zu begrüßen, was Differenz
schafft und Ungleichheit forciert.
Doch Wendt geht, in den
Fußstapfen von IT-Gurus vom Schlage Ray Kurzweils wandelnd, noch einen
Schritt weiter: "Die ‚alten’ Menschen müssen sich mit Chemie, mit
Implantaten und vor allem mit einem festen Programm auf eine neue
Evolutionsstufe retten, um überhaupt einen akzeptablen Fusionspartner
für digitale Intelligenzen abzugeben, die übermorgen die Machtfrage
stellen." Cyborg sein oder nicht sein, das ist hier die Frage. Aber das
sollen andere klären. Ich ziehe mich mit meiner Droge dezent ins Auenland zurück.
PS:
Sehe gerade, dass Alexander Wendt auf seiner Webseite praktisch
zeitgleich mit mir eine Rezension der "Acta diurna" 2017-Buchausgabe
veröffentlicht hat; hier ist augenscheinlich eines der übelsten
deutschen Zitierkartelle am Werk, das sogar unabgesprochen wie
geschmiert funktioniert. (Da Wendt aber der einzige deutsche Journalist
sein dürfte, der es wagt, die "Acta" zu rezensieren – gelesen werden sie
ja von vielen, wir sind schließlich eine pluralistische Gesellschaft –,
können die Kartellwächter die Hände im Schoß ruhen lassen.) MK am 28. 10. 2018