Was vom Adel bleibt, dafür findet Jens Jessen ganz am Ende des Buchs
ein in schöner Ambivalenz schillerndes Wort: eine Leerstelle. Das Buch
resümiert genau 100 Jahre nach dem Machtverzicht des deutschen Adels,
was die ehemals gesellschaftsprägende Klasse der Gegenwart noch zu
bieten hat. Zum einen: es bleibt eine Leerstelle, niemand konnte in die
Rolle derjenigen schlüpfen, die durch Herkunft oben standen, kaum einer –
von ein paar bürgerlichen Mäzenen abgesehen – die fürstlichen
Verschwender und Kunstförderer ersetzen.
Zum anderen, und das
gehört zur Vielzahl der intelligenten Betrachtungen Jessens, hat sich
der Adel auch nach seiner Abdankung als ziemlich fest umrissenes Milieu
trotzdem fast besser gehalten als das Bürgertum.
Der ZEIT-Autor nennt sein Buch „eine bürgerliche Betrachtung“:
er kennt sein Objekt, erzählt oft sehr unterhaltsam von seinen
Begegnungen mit Adligen, hält aber Distanz. Dadurch stattet er sein Buch
mit einer Doppelperspektive aus: Es ist auch ein Essay über den, wie
gesagt, mittlerweile ebenfalls verblichenen klassischen Bürger. Der
schaute nämlich lange Zeit auf die Adligen herab und gleichzeitig zu
ihnen hinauf. Hinab auf den „Stolz ohne Leistung“ (Jessen),
hinauf, wenn er sich den Umgang mit schwerem Silberbesteck und den
Aufbau von Kunstsammlungen abschaute, und vor allem, wenn er zur
Behelfsnobilitierung in Adelsfamilien einheiratete (und sie meist mit
seinem Geld wieder flottmachte).
Warum hält sich nun der Adel wie
ein Trockenblumenstrauß? Weil er wie keine andere Klasse die Kunst der
Formwahrung auch im Abstieg beherrscht. Machtverlust, Landverlust, das
zählte für einzelne Adelsgeschlechter seit jeher zum Betriebsrisiko.
Wahrscheinlich deshalb sind ihre Vertreter oft Meister darin, sich
einigermaßen klaglos mit den Verhältnissen zu arrangieren und trotzdem
nach Kräften zu konservieren, was zum Erbe gehört. Verschleiß und
Verfall gelten ihnen weder in ihren Schlössern noch beim Mobiliar als
peinlich. „Gebrauchsspuren, selbst gänzliche Zerschlissenheit“ stellen keinen Makel dar, wie Jessen schreibt:
„Das Hinfällig und Kaputte bezeugt Alter und Würde der Familie und ist
insofern kein Zeichen der Verwahrlosung, sondern von liebevoller
Verbundenheit mit der Tradition.“
An einer Stelle erzählt er,
wie er einmal in einem Palácio aus dem 17. Jahrhundert in Mexiko-Stadt
ahnungslos über ein Loch im Fußboden lief, durch das er in das
darunterliegende Geschoss hätte fallen können, wenn ihm nicht mehrere
kaschierende Teppichlagen darüber hinweggeholfen hätten: „Der Fuß kam gewissermaßen vorübergehend ins Schwimmen.“
So ungefähr gelangte der Adel auch über den Epochenbruch von 1918. Wendt