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Sonntag, 8. August 2021

Das Wort zum Sonntag

Ich bin ein Kind der Bundesrepublik. Meine Welt war aufgeräumt, geordnet und gewaltfrei. Die Straßenschlachten meiner Jugend fanden im Fernsehen statt. Doch selbst diejenigen, die sich vor Wasserwerfer stellten oder im Staatsforst gegen Großprojekte protestierten, sie riskierten nicht wirklich ernsthafte Verletzungen. Denn die Polizisten meines Landes hatten zuvor geübt, wie man demonstrierende Sitzblockierer ohne weitere Gewalteskalation von der Straße hebt. Wirkliche Prügeleien gab es nur in der Nähe von Fußballstadien. Und wer nicht den Fehler beging, sich mit einem roten Schal in eine blaue Kurve zu setzen, der blieb unbehelligt.

In einem solchen Umfeld schien selbstverständlich, dass Waffenbesitz ein Privileg des Staates war. Allenfalls behördlich handverlesen ausgesuchte Bürger in Jagd- oder Sportlerkreisen hatten die Chance auf eine eigene Schusswaffe. Wo kämen wir denn hin, sprach ich meinen Lehrern nach, wenn jeder Dummkopf die Möglichkeit hätte, nach Belieben überall herumzuballern?

Meine Einstellung zur Frage des Waffenbesitzes hat sich inzwischen völlig gewandelt. Ich bin heute der Auffassung, dass jeder unbescholtene Erwachsene das Recht hat, in angemessenem Umfang selbst privat Waffen zu besitzen, wenn er sie nachweislich technisch beherrscht und wenn er für deren möglichen Fehleinsatz Versicherungsschutz organisiert hat. Staatliche Gesetze können dieses grundlegende menschliche Recht nicht wirksam beseitigen. Im Gegenteil ist es sogar die Aufgabe eines Staates, dieses Recht auf privaten Waffenbesitz positiv zu respektieren. Woher kam der Wandel in meiner Auffassung?

„Die Entwaffnung der Bevölkerung ist im Kern die Entwaffnung der Opfer“


Die traditionelle europäische Staatsphilosophie geht bekanntlich spätestens seit Thomas Hobbes am Ende des 17. Jahrhunderts davon aus, dass der einzelne Bürger sich im Befriedungsinteresse aller entwaffnen solle, um sein ursprüngliches Selbstverteidigungsrecht den legitimierten und ordnungsgemäß kontrollierten staatlichen Stellen zu überantworten. Wenn dann dereinst alle Bürger entwaffnet seien, könne der Staat durch seine nach wie vor bewaffneten Bediensteten schnell und dauerhaft den allgemein wünschenswerten Frieden sicherstellen und nötigenfalls herbeiführen. Der bedrohte Bürger greift dann nicht mehr selbst zum Schießeisen, um haarige Situationen zu bestehen, sondern er telefoniert rasch einen polizeilichen Profi herbei, der dies für ihn besorgt.

Diese weit verbreitete Sicht auf die Dinge übersieht allerdings mindestens drei ganz wesentliche Gesichtspunkte: Erstens verkennt sie den Umstand, dass ausgerechnet die aggressivsten Angreifer sich selbst nicht an das gesetzliche Verbot halten, keine Waffen zu benutzen. Die Entwaffnung der Bevölkerung durch den Gesetzgeber ist also im Kern die Entwaffnung der möglichen Opfer, nicht aber die Entwaffnung der wahrscheinlichen Täter. Zweitens verkennt sie den Umstand, dass Täter und Waffen unter den heutigen technischen Möglichkeiten äußerst schnell ihren Einsatzort wechseln können. Thomas Hobbes hatte nicht die Möglichkeit, mit einem Mobiltelefon binnen Minuten eine Polizeihundertschaft herbeizurufen. Die Angreifer zu seiner Zeit waren aber auch nicht in der Lage, mit ein paar Lieferwagen schnell größere Tätergruppen flexibel von einem Ende der Stadt an das andere zu fahren. Kurz: Auch das schnellste Telefon mit Notrufknopf kann niemals einen Polizisten so schnell in Verteidigungsstellung bringen wie jeder Täter seine illegalen Waffen in Angriffsstellung.

Drittens aber verkennt die heute noch herrschende Doktrin weitgehender Waffenlosigkeit den Umfang ihrer eigenen Rationalität. Die Entwaffnungsgesetze der Gegenwart werden von Menschen gemacht, die selbst in bestens bewachten Sonderbiotopen inmitten unserer Metropolen leben. Ministerbüros und Ministerfahrzeuge verfügen über Panzerglas, Ministerien und Abgeordnetengebäude über Eingangskontrollen. Bewaffnete Bedienstete chauffieren die Entscheider bisweilen viele Jahre und Jahrzehnte durch hauptstädtische Gefilde. Niemals ist ein waffentragender Beamter mit Blaulicht und Kollegen weiter als ein paar Schritte entfernt.

„Wer eine Waffe besitzt – und sei es illegal, weiß sich im taktischen Vorteil“


Völlig anders ist die Lage dort, wo die Feldwege enden, wo einsame Bauernhäuser fern aller Siedlungen in Wäldern stehen, wo kein Laternenschein die Szene erleuchtet und wo über weite Flächen Funklöcher im Mobilnetz klaffen. Die Zeiten der Dorfgemeinschaft, in der man jedes Gesicht kannte und die dahinter wohnende Seele einzuschätzen wusste, sind vorbei. Die meisten Menschen, die uns tagtäglich begegnen, haben wir noch nie gesehen. Globalisierung mobilisiert Menschenmassen in Ausmaßen, wie sie die Welt noch nie sah. Offene Grenzen tun ihr Übriges dazu. Der Kontakt zu einem Fremden ist nicht mehr die Ausnahme, sondern geradezu die Regel.

Wo die persönliche Vertrautheit aber schwindet, da erwächst der Bedarf nach einem kleinen zeitlichen und räumlichen Zusatzabstand, um erst einmal eine gewisse Lageklärung betreiben zu können. An wenigsten Stellen versinnbildlicht sich dieses Bedürfnis besser sichtbar als in der Architektur unserer Gerichtsgebäude. Nicht mehr nur wenige örtlich zugelassene Anwälte haben dort heute unbeschränkten Zugang, sondern ungezählte Unbekannte begehren Einlass. Deswegen werden sie dort von bewaffnetem Personal zuerst durch Hochsicherheitsschleusen geleitet. Man will ja wissen, mit wem man es zu tun hat. Man will wissen, ob der Gast nichts Böses im Schilde führt. Man will ihn waffenlos begrüßen.

Im Zentrum des ganzen Themas steht dies: Das Waffenrecht einer Gesellschaft verrät die Erwartungshaltungen ihrer Mitglieder. Dabei sind wir stets auf Spekulationen über das künftige Verhalten unserer Mitmenschen angewiesen. Basiert diese Spekulation einem Fremden gegenüber auf der Möglichkeit, er könne uns angreifen, während wir von uns selbst wissen, unbewaffnet zu sein, dann verschafft diese Balancelosigkeit ein Gefühl der Unsicherheit. Beruht das wechselseitige Spekulieren über das künftige Verhalten eines Fremden zudem auf der gemeinsamen Annahme, es sei wenig wahrscheinlich, dass einer von beiden sich im Angriffsfalle mit Waffen würde wehren können, dann intensiviert sich dieses Unbehagen in einer Konstellation besonders: In der Konstellation nämlich, in der ein gesetzestreuer (d.h. waffenloser) Akteur sich vorstellt, sein Gegenüber sei mutmaßlich nicht gesetzestreu (d.h. bewaffnet). In diesem Fall wird jedes Aufeinandertreffen Unbekannter von einer potentiellen Handlungsasymmetrie geprägt. Wer in solcher Lage die Waffe tatsächlich besitzt – und sei es illegal –, der weiß sich im taktischen Vorteil.

„Niemand fühlt sich in der Schweiz unsicher, obwohl dort alle Armeeangehörigen eine Schusswaffe im eigenen Haus vorhalten“


Im allgemeinen Diskurs über Waffen in Deutschland ist heute das Argument weit verbreitet, man wünsche nicht, dass jedermann jederzeit freien Zugang zu einer Waffe habe. Denn dann könne zu viel und zu unkontrolliert geschossen werden. Dieses Argument beruht ersichtlich auf der Annahme, die ganz überwiegende Mehrzahl der Beteiligten werde sich regeltreu an das gesetzliche Verbot unerlaubten Waffenbesitzes halten. Diese Ansicht geht zumeist einher mit der Darstellung, man würde sich nicht mehr sicher fühlen in der Öffentlichkeit, wenn jedermann die Möglichkeit hätte, eine Waffe zu führen.

Interessanterweise wird mir in einschlägigen Debatten allerdings immer wieder bestätigt, dass sich dieses vermeintliche Unsicherheitsgefühl bei allen Beteiligten noch nie eingestellt hat, wenn sie durch einen Ort in der Schweiz gegangen sind, obwohl dort alle Armeeangehörigen bekanntlich eine Schusswaffe im eigenen Haus vorhalten. Mithin könnte doch mindestens dort in jedem Augenblick ein Unglücklicher wild aus seinen Fenstern schießen. Ebenfalls hat mir noch nie jemand erklärt, er fühle sich an Flughäfen deswegen unsicher, weil dort junge Männer, die er noch nie gesehen hat und deren Namen er nicht kennt, schwer bewaffnet umherlaufen. Die bloße Tatsache, dass diese Waffenträger in einer bestimmten Farbe gekleidet sind und ihr Hemd einen bestimmten Aufdruck aufweist, sorgt hier bereits für Entspannung.

Dass nicht einmal der Dienstherr dieser Polizisten heute noch genügend Vertrauen zu ihnen hat, um ihnen zu erlauben, Strafmandate vor Ort in bar zu kassieren, scheint an diesem Vertrauensvorschuss der Bevölkerung nichts zu ändern. Dieselbe Bevölkerung, die in einer großen innerstädtischen Menschentraube wenige Zentimeter vor den kraftstrotzenden SUV-Fahrzeugen wildfremder Menschen mit laufenden Motoren die Fußgängerfurt überquert, fürchtet um ihre Gesundheit, wenn ihr Leben nicht am Kupplungsfuß eines Autofahrers, sondern am Abzugsfinger desselben Menschen hinge.

„Liberalismus schützt wie ein Colt“


Wir alle neigen dazu, unsere erfahrenen Realitäten zu verabsolutieren. Nur weil wir noch nie gesehen haben, dass ein Autofahrer aus seiner Warteposition plötzlich in eine Fußgängermenge hinein rast, nur deswegen halten wir diese Möglichkeit für fernliegend. Und was wir für fernliegend erachten, dafür glauben wir, keine Vorsorge treffen zu müssen. Politiker jedoch, die bislang – aus ihrer beschriebenen Sicherheit heraus – glaubten, bürgerliche Erwartungserwartungen mit allgemeiner Entwaffnung zur generellen Friedfertigkeit hin gestalten zu können, werden mittelfristig umdenken müssen. Ein Täter, der nicht mehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen darf, ein unbewaffnetes Opfer vor sich zu haben, der wird sich eher defensiv verhalten wollen. Wie wahrscheinlich ist es beispielsweise, dass sich das Kölner Silvester 2015/16 in der gesehenen Art ereignet hätte, hätte seitens der Angreifer die Überlegung bestanden, jede zehnte angegriffene Frau oder ihr Begleiter könne möglicherweise über einen Colt verfügen?

Waffen wirken bereits, wenn sie unsichtbar sind. Denn schon allein die bloße Möglichkeit ihrer Gegenwart ändert das Möglichkeitsspektrum der Verhaltensweisen aller Beteiligten. Und selbst wenn man nicht weithin allen Bürgern das Recht einräumen wollen mag, sich überallhin mit einer Waffe zu begeben, etwa weil es in unseren Innenstädten doch jedenfalls hinreichend polizeilichen Schutz gebe, so bleibt ein bürgerliches Recht nach meinem Dafürhalten heute kaum noch bestreitbar: Das Recht, sein eigenes Haus mit einer dort stationierten Waffe verteidigen zu dürfen. Denn niemand zwingt einen Fremden, mein Haus zu betreten. Wenn er es doch tut, dann weiß er, wer dort das Hausrecht hat und wie lange er dort freundlich empfangen ist. Ob das liberal sei, werde ich in letzter Zeit bisweilen gefragt. Nichts könnte liberaler sein, antworte ich. Denn der Liberalismus schützt Leben, Körper, Gesundheit, Eigentum, Privatheit und Selbständigkeit. So wie ein Colt.   Carlos A. Gebauer

 

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