Geht es Ihnen auch so? Sie wachen morgens auf, lesen die News und wissen nicht mehr, wo rechts und links ist. Sie erkennen die vertraute Welt nicht wieder. Sie kommen sich fremd vor im eigenen Land, verstehen nicht mehr, was die Regierenden treiben und dafür trotzdem gewählt werden. Das Normale gilt als nicht mehr normal, das Verrückte nicht mehr als verrückt. Spätestens jetzt denken Sie darüber nach, wie Sie es schaffen könnten, irgendwie klar zu kommen. Hier meine Idee.
I.
Früher einmal, es ist lange her, wurde ich gelegentlich als Querdenker bezeichnet. Es war, da bin ich mir trotz erlahmender Erinnerung an gute, alte Zeiten sicher, positiv gemeint. Es bedeutete so etwas wie nicht linientreu, nicht instrumentierbar, unabhängig, eigensinnig. Solche Eigenschaften sind heute so verpönt wie das Querdenken überhaupt. Seit es auch noch eine Art Bewegung gibt, die den Begriff Querdenker für sich in Anspruch nimmt, ist es ganz aus. Querdenker werden für Quertreiber gehalten, für gefährlich, suspekt, und außerdem total rechts, also politisch pervers und irgendwie andersherum. Nein, dann will ich auch nicht mehr quer sein. Aber was dann?
II.
Wer nicht mehr weiß, wo rechts und links ist, was verrückt ist und was nicht, weiß auch nicht mehr, wie man so schön sagt, ob er noch Männchen oder Weibchen ist. Daraus ließe sich etwas machen. Natürlich meine ich das nicht im sexuellen Sinn – meistens wache ich neben einer mir seit Jahren bekannten Frau auf – und finde es immer noch völlig normal. Obwohl man sich schon manchmal fragt, ob man als älterer Hetero noch ganz o. k. ist. Zugegeben, ich träumte bereits mehrfach von einer Geschlechtsumwandlung. Nicht, dass ich mich mit meinem Anteil weiblicher Gefühle im männlichen Körper nicht wohl fühlte: Es ist nur einfach so, dass ich mir als Frau wesentlicher leichter täte. Meine Bücher etwa fänden eine deutlich positivere Aufmerksamkeit. Obwohl ich mich ja wirklich bemühe. Neulich schrieb ein Kritiker sogar, ich verstünde es vorzüglich, „aus weiblicher Perspektive“ zu schreiben. Also bitte! Nur nützt mir das nichts. Ich bin nun einmal ein heteronormativer Cis-Mann.
III.
Doch zum Glück leben wir in herrlichen, selbstbestimmten Zeiten. Zwar haben wir bald nicht mehr die Freiheit, darüber selbst zu bestimmen, ob wir uns impfen lassen möchten, dafür aber wählen wir sogar unser Geschlecht selbst aus ungezählten Möglichkeiten. Vielfalt ist alles. Ich habe mich entschieden.
IV.
Natürlich stammt das englische Adjektiv queer vom deutschen quer ab. Sie sind beide vom gleichen Stamm. Beide kommen vom lateinischen torquere – verdrehen. Dem Wort quer erging es so wie dem Wort queer – nur eben andersherum. Queer diente lange als Schimpfwort – im Englischen war es die Entsprechung des deutschen schwul – und ist heute ein Ausdruck für Vielfalt und Selbstbestimmung. Mit dieser Umwertung – reclaiming – wurde queer zu einem positiv besetzten Trotzwort. Es bezog sich in der soziologischen und gesellschaftspolitischen Debatte keineswegs nur auf sexuelle Andersartigkeit, sondern überhaupt auf politischen Aktivismus mit dem Ziel, die natürliche Ordnung in Frage zu stellen und identitätspolitische Einschränkungen zu überwinden. Im Gegensatz dazu war das Wort quer ursprünglich positiv besetzt. Aber auch das hat sich gründlich verändert. Der Quere stellt sich quer, er opponiert gegen den von Oben dekretierten Haltungszwang. Der Quere ist nicht normal. Und Querphobie gehört zum guten Ton.
V.
Doch „nicht der Querdenker ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, um den berühmten Filmtitel des Regisseurs Rosa von Praunheim zu paraphrasieren. Aber so ist es nun einmal. Ich nehme für mich nur in Anspruch, was Postkolonialisten, Multikulturalisten, Geschlechtserfindern und anderen Normüberwindern selbstverständlich zugestanden wird. Ich bin anders, und das ist auch gut so. Also erkläre ich in freier Selbstbestimmung und im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte, dass ich nicht mehr quer bin, sondern queer. Queer ist das neue normal.
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