Im Gegensatz zu
vielen meiner Altersgenossen bin ich nicht der Ansicht, dass früher
alles besser war. Ich will auch die Uhr nicht zurückdrehen. Im
Gegenteil: Gäbe es eine Zeitmaschine, würde ich gerne in das Jahr 2116
reisen, nur um zu sehen, was aus der Energiewende, der Klimakatastrophe
und der SPD geworden ist. Dennoch befällt mich eine seltsame Wehmut,
wenn ich an die vergangenen Jahrzehnte denke, die zweite Hälfte des 20.
Jahrhunderts.
Obwohl
es keine guten Zeiten waren. Ein Krieg löste den anderen ab. Der
Koreakrieg, der Vietnamkrieg, der Kalte Krieg. 1956 war das Jahr des
Ungarnaufstands, 1961 wurde die Mauer gebaut; 1962 schauten wir in einen
"Abgrund von Landesverrat" – die Spiegel-Affäre; die "heiteren Spiele"
von 1972 gipfelten in einem Blutbad, angerichtet von palästinensischen
Terroristen; 1977, im "deutschen Herbst", erklärte die Rote Armee
Fraktion dem "Schweinesystem" den Krieg und mordete für die Revolution.
Die Angst vor einem Atomkrieg, flankiert vom Ozonloch und dem
Waldsterben, war allgegenwärtig und mitnichten unbegründet. 1962, zur
Zeit der Kubakrise, war es beinah so weit.
Dennoch denkt es manchmal in mir: Lieber Gott, gib uns unsere Probleme von gestern wieder. Wir haben sie so geliebt!
Als wir – meine
Eltern und ich – 1958 in Köln ankamen, gab es das Wort
"Migrationshintergrund" nicht, und auch von einer "Willkommenskultur"
war keine Rede. Kaum hatten wir uns mit Möbeln vom Sperrmüll in einer
zweieinhalb Zimmer großen Sozialbauwohnung eingerichtet, fragten sich
meine Eltern, ob sie nicht die Koffer packen und nach Polen zurückgehen
sollten. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1959 war die eben
frisch restaurierte und neu eingeweihte Synagoge in der Roonstraße mit
Hakenkreuzen beschmiert worden. Obwohl es nicht der erste Vorfall dieser
Art war und obwohl die Täter, zwei Neonazis, die, wie viel später
bekannt wurde, im Auftrag der Stasi handelten, einen Tag darauf gefasst
wurden, war die Aufregung gewaltig.
Der
Bundestag trat zu einer Sondersitzung zusammen, Bundeskanzler Adenauer
wandte sich an die Bevölkerung und rief die Menschen auf, für Ordnung zu
sorgen und Trittbrettfahrern eine Lektion zu erteilen: "Wenn ihr
irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und
gebt ihm eine Tracht Prügel. Das ist die Strafe, die er verdient."
Im
Adenauer-Deutsch, also dem rheinischen Singsang, klang das nicht so
brutal, wie es sich heute liest. Und da damals der Begriff "political
correctness" ebenfalls noch unbekannt war, blieb ein "Shitstorm" aus. Es
meldete sich niemand zu Wort, um den Kanzler zu belehren, dass dies
möglicherweise ein Akt von "Israelkritik" gewesen sein könnte. Ein
Hakenkreuz war ein Hakenkreuz und der Antisemitismus nicht, wie man
heute sagt, "in der Mitte der Gesellschaft angekommen", wo er von
Motivforschern, Psychologen und Soziologen in Empfang genommen und so
lange untersucht wird, bis er sich in soziokulturellen Feinstaub
verwandelt hat.
Das
nächste große Erdbeben passierte neun Jahre später, am 7. November
1968. Beate Klarsfeld, 1939 in Berlin geboren und 1960 nach Paris als
Au-pair-Mädchen gezogen, wo sie einen jüdischen Rechtsanwalt heiratete,
dessen Vater in Auschwitz umgekommen war, hatte sich unter die Besucher
eines CDU-Parteitages in der Berliner Kongresshalle gemischt und war
dabei dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger so nahe gekommen,
dass sie ihn, "Nazi! Nazi!" rufend, ohrfeigen konnte. Sie tat es, um
die deutsche Öffentlichkeit auf Kiesingers NS-Vergangenheit aufmerksam
zu machen, die zu jener Zeit zwar bekannt war, aber nicht als besonders
anstößig empfunden wurde.
Klarsfeld
wurde festgenommen, noch am selben Tag in einem beschleunigten
Verfahren zu einem Jahr Haft verurteilt und umgehend nach Paris
abgeschoben, wo schon ein Strauß roter Rosen auf sie wartete, die
Heinrich Böll ihr geschickt hatte. Woher hatte der spätere Kölner
Literaturnobelpreisträger die Adresse der Antifa-Aktivistin?
Vermutlich von
ihrem Anwalt Horst Mahler, der später in RAF-Prozessen als Verteidiger
auftrat, sich zum Neonazi wandelte und seit 2009 wegen Volksverhetzung,
Leugnung des Holocaust und anderer Delikte eine längere Freiheitsstrafe
in einer brandenburgischen Haftanstalt verbüßt.
Beate
Klarsfeld hat sich inzwischen mit ihrer alten Heimat ausgesöhnt.
Nachdem sie Anfang 2012 von der Linkspartei als Kandidatin für das Amt
des Bundespräsidenten nominiert worden war, erklärte sie, ihre Wahl
würde "das Ansehen Deutschlands" in der Welt verbessern. Immerhin waren
126 Mitglieder der Bundesversammlung derselben Ansicht und stimmten für
Klarsfeld. Drei Jahre später wurde ihr und ihrem Mann, Serge Klarsfeld,
von Bundespräsident Gauck das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Kaum
eine andere Geschichte illustriert so anschaulich den Wandel der
Bundesrepublik vom Rechtsnachfolger des Dritten Reiches zu einer
Hochburg des praktizierten Gutmenschentums.
Wenn die DDR, wie Günter
Grass einmal gesagt hat, eine "kommode Diktatur" war, dann ist die
Bundesrepublik eine kommode Demokratie. Die kulturellen Eliten beziehen
täglich Stellung "gegen rechts" und für ein "tolerantes, weltoffenes
Deutschland", derweil das einfache Volk sich gerne regieren lässt und
nicht einmal dann aufmuckt, wenn die Kanzlerin droht, sie werde sich ein
anderes Land suchen, wenn man es ihr unmöglich mache, ein freundliches
Gesicht zu zeigen.
Am
Weltfrauentag pilgern kritische Intellektuelle zum Bundeskanzleramt, um
der Kanzlerin einen Strauß roter Rosen zu übergeben, als Zeichen ihrer
Dankbarkeit für die Politik der Regentin in der Flüchtlingskrise.
Gibt es noch ein anderes Volk, das seine Infantilisierung so bereitwillig mitmachen würde?
Die Kehrseite dieser Gemütsruhe ist ein Rigorismus,
der sich selbst zum Maß aller Dinge erhebt. Wer nicht "Refugees
welcome!" ruft oder es gar wagt, die Frage nach einer "Obergrenze" bei
der Zuwanderung zu stellen, wird schnell in die fremdenfeindliche Ecke
abkommandiert. Wer dagegen dazu aufruft, "den Terroristen mit Beten und
Liebe zu begegnen", der muss sich weder um sein Ansehen noch um sein Seelenheil sorgen. Dem ist ein Ehrenplatz zwischen Albert Schweitzer und Mutter Teresa sicher.
In
solchen Momenten frage ich mich: Ist es wirklich erst ein paar Jahre
her, dass wir über einen Bundespräsidenten hergefallen sind, der sich,
als er noch Regierungschef in Niedersachsen war, von einem Freund zum
Oktoberfest einladen ließ? Und wie lustig war es, einen Minister taumeln
zu sehen, der seine Doktorarbeit im Copy-and-Paste-Verfahren
hergestellt hatte! Oder eine Bundestagspräsidentin, die für ihre
Privatreisen die Flugbereitschaft der Bundeswehr nutzte.
Erinnert sich
noch jemand an das Gerangel um die "Eigenheimzulage", ein
milliardenschweres Förderprogramm für Häuslebauer, das erst im Jahre
2006, also gefühlt gestern, eingestellt wurde? Es hat wesentlich zur
Verödung der Innenstädte und Zersiedlung der Landschaft beigetragen.
Oder an den jahrelangen Streit um die "Pendlerpauschale", die jeder
Arbeitnehmer für den Weg zur Arbeit geltend machen kann, egal ob er mit
dem Auto, dem Motorrad, der Eisenbahn, der Straßenbahn, einem Bus, einem
Boot, einem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist?
Zweimal
musste das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort sprechen. Auch die
jahrelange Debatte um das Flaschen- und Dosenpfand war ein Aufreger
erster Güteklasse, eine Schicksalsfrage, die die Nation spaltete.
Und
heute? Heute, sagt die Kanzlerin, stehen wir "vor der größten
Herausforderung seit der Wiedervereinigung". Wir wollen, wir müssen, wir
werden Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Flüchtlingen
aufnehmen. Für sie Wohnungen bauen, ihnen Deutsch beibringen und dafür
sorgen, dass sie in den Arbeitsprozess "integriert" werden. Dazu, so
Simone Peter, die Vorsitzende der Grünen, "sind wir aus humanitären
Gründen verpflichtet". Wenn nicht wir, wer dann?
Mir
sind solche moralischen Hochseilakte mehr als suspekt, sie sind mir
unheimlich. "Es gehört zur Identität unseres Landes, Größtes zu
leisten", sagt die Bundeskanzlerin und
wird dafür mit stehenden Ovationen gefeiert. Wenn sie auf die
Kanaren-Insel Gomera in Urlaub fliegt, nimmt sie zwölf Leibwächter mit.
Dem Volk aber predigt sie, Angst sei "ein schlechter Ratgeber". Und aus jeder Krise gehen wir stärker hervor, "als wir hineingegangen sind", auch das hat uns die Kanzlerin feierlich in die Hand versprochen.
Mir wäre es wohler, wenn sie solche Leistungen der deutschen Fußballnationalelf überlassen würde. HB am 4.5. 2016
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.