Stationen

Donnerstag, 7. April 2016

Wehmütiger Rückblick


Im Gegensatz zu vielen meiner Altersgenossen bin ich nicht der Ansicht, dass früher alles besser war. Ich will auch die Uhr nicht zurückdrehen. Im Gegenteil: Gäbe es eine Zeitmaschine, würde ich gerne in das Jahr 2116 reisen, nur um zu sehen, was aus der Energiewende, der Klimakatastrophe und der SPD geworden ist. Dennoch befällt mich eine seltsame Wehmut, wenn ich an die vergangenen Jahrzehnte denke, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Obwohl es keine guten Zeiten waren. Ein Krieg löste den anderen ab. Der Koreakrieg, der Vietnamkrieg, der Kalte Krieg. 1956 war das Jahr des Ungarnaufstands, 1961 wurde die Mauer gebaut; 1962 schauten wir in einen "Abgrund von Landesverrat" – die Spiegel-Affäre; die "heiteren Spiele" von 1972 gipfelten in einem Blutbad, angerichtet von palästinensischen Terroristen; 1977, im "deutschen Herbst", erklärte die Rote Armee Fraktion dem "Schweinesystem" den Krieg und mordete für die Revolution. Die Angst vor einem Atomkrieg, flankiert vom Ozonloch und dem Waldsterben, war allgegenwärtig und mitnichten unbegründet. 1962, zur Zeit der Kubakrise, war es beinah so weit.
Dennoch denkt es manchmal in mir: Lieber Gott, gib uns unsere Probleme von gestern wieder. Wir haben sie so geliebt!

Als wir – meine Eltern und ich – 1958 in Köln ankamen, gab es das Wort "Migrationshintergrund" nicht, und auch von einer "Willkommenskultur" war keine Rede. Kaum hatten wir uns mit Möbeln vom Sperrmüll in einer zweieinhalb Zimmer großen Sozialbauwohnung eingerichtet, fragten sich meine Eltern, ob sie nicht die Koffer packen und nach Polen zurückgehen sollten. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1959 war die eben frisch restaurierte und neu eingeweihte Synagoge in der Roonstraße mit Hakenkreuzen beschmiert worden. Obwohl es nicht der erste Vorfall dieser Art war und obwohl die Täter, zwei Neonazis, die, wie viel später bekannt wurde, im Auftrag der Stasi handelten, einen Tag darauf gefasst wurden, war die Aufregung gewaltig.
Der Bundestag trat zu einer Sondersitzung zusammen, Bundeskanzler Adenauer wandte sich an die Bevölkerung und rief die Menschen auf, für Ordnung zu sorgen und Trittbrettfahrern eine Lektion zu erteilen: "Wenn ihr irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und gebt ihm eine Tracht Prügel. Das ist die Strafe, die er verdient." 

Im Adenauer-Deutsch, also dem rheinischen Singsang, klang das nicht so brutal, wie es sich heute liest. Und da damals der Begriff "political correctness" ebenfalls noch unbekannt war, blieb ein "Shitstorm" aus. Es meldete sich niemand zu Wort, um den Kanzler zu belehren, dass dies möglicherweise ein Akt von "Israelkritik" gewesen sein könnte. Ein Hakenkreuz war ein Hakenkreuz und der Antisemitismus nicht, wie man heute sagt, "in der Mitte der Gesellschaft angekommen", wo er von Motivforschern, Psychologen und Soziologen in Empfang genommen und so lange untersucht wird, bis er sich in soziokulturellen Feinstaub verwandelt hat.

Das nächste große Erdbeben passierte neun Jahre später, am 7. November 1968. Beate Klarsfeld, 1939 in Berlin geboren und 1960 nach Paris als Au-pair-Mädchen gezogen, wo sie einen jüdischen Rechtsanwalt heiratete, dessen Vater in Auschwitz umgekommen war, hatte sich unter die Besucher eines CDU-Parteitages in der Berliner Kongresshalle gemischt und war dabei dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger so nahe gekommen, dass sie ihn, "Nazi! Nazi!" rufend, ohrfeigen konnte. Sie tat es, um die deutsche Öffentlichkeit auf Kiesingers NS-Vergangenheit aufmerksam zu machen, die zu jener Zeit zwar bekannt war, aber nicht als besonders anstößig empfunden wurde.
Klarsfeld wurde festgenommen, noch am selben Tag in einem beschleunigten Verfahren zu einem Jahr Haft verurteilt und umgehend nach Paris abgeschoben, wo schon ein Strauß roter Rosen auf sie wartete, die Heinrich Böll ihr geschickt hatte. Woher hatte der spätere Kölner Literaturnobelpreisträger die Adresse der Antifa-Aktivistin? 

Vermutlich von ihrem Anwalt Horst Mahler, der später in RAF-Prozessen als Verteidiger auftrat, sich zum Neonazi wandelte und seit 2009 wegen Volksverhetzung, Leugnung des Holocaust und anderer Delikte eine längere Freiheitsstrafe in einer brandenburgischen Haftanstalt verbüßt.

Beate Klarsfeld hat sich inzwischen mit ihrer alten Heimat ausgesöhnt. Nachdem sie Anfang 2012 von der Linkspartei als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten nominiert worden war, erklärte sie, ihre Wahl würde "das Ansehen Deutschlands" in der Welt verbessern. Immerhin waren 126 Mitglieder der Bundesversammlung derselben Ansicht und stimmten für Klarsfeld. Drei Jahre später wurde ihr und ihrem Mann, Serge Klarsfeld, von Bundespräsident Gauck das Bundesverdienstkreuz verliehen. 

Kaum eine andere Geschichte illustriert so anschaulich den Wandel der Bundesrepublik vom Rechtsnachfolger des Dritten Reiches zu einer Hochburg des praktizierten Gutmenschentums. 

Wenn die DDR, wie Günter Grass einmal gesagt hat, eine "kommode Diktatur" war, dann ist die Bundesrepublik eine kommode Demokratie. Die kulturellen Eliten beziehen täglich Stellung "gegen rechts" und für ein "tolerantes, weltoffenes Deutschland", derweil das einfache Volk sich gerne regieren lässt und nicht einmal dann aufmuckt, wenn die Kanzlerin droht, sie werde sich ein anderes Land suchen, wenn man es ihr unmöglich mache, ein freundliches Gesicht zu zeigen. 

Am Weltfrauentag pilgern kritische Intellektuelle zum Bundeskanzleramt, um der Kanzlerin einen Strauß roter Rosen zu übergeben, als Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Politik der Regentin in der Flüchtlingskrise.

Gibt es noch ein anderes Volk, das seine Infantilisierung so bereitwillig mitmachen würde? 

Die Kehrseite dieser Gemütsruhe ist ein Rigorismus, der sich selbst zum Maß aller Dinge erhebt. Wer nicht "Refugees welcome!" ruft oder es gar wagt, die Frage nach einer "Obergrenze" bei der Zuwanderung zu stellen, wird schnell in die fremdenfeindliche Ecke abkommandiert. Wer dagegen dazu aufruft, "den Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen", der muss sich weder um sein Ansehen noch um sein Seelenheil sorgen. Dem ist ein Ehrenplatz zwischen Albert Schweitzer und Mutter Teresa sicher. 

In solchen Momenten frage ich mich: Ist es wirklich erst ein paar Jahre her, dass wir über einen Bundespräsidenten hergefallen sind, der sich, als er noch Regierungschef in Niedersachsen war, von einem Freund zum Oktoberfest einladen ließ? Und wie lustig war es, einen Minister taumeln zu sehen, der seine Doktorarbeit im Copy-and-Paste-Verfahren hergestellt hatte! Oder eine Bundestagspräsidentin, die für ihre Privatreisen die Flugbereitschaft der Bundeswehr nutzte.

Erinnert sich noch jemand an das Gerangel um die "Eigenheimzulage", ein milliardenschweres Förderprogramm für Häuslebauer, das erst im Jahre 2006, also gefühlt gestern, eingestellt wurde? Es hat wesentlich zur Verödung der Innenstädte und Zersiedlung der Landschaft beigetragen. Oder an den jahrelangen Streit um die "Pendlerpauschale", die jeder Arbeitnehmer für den Weg zur Arbeit geltend machen kann, egal ob er mit dem Auto, dem Motorrad, der Eisenbahn, der Straßenbahn, einem Bus, einem Boot, einem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist? 

Zweimal musste das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort sprechen. Auch die jahrelange Debatte um das Flaschen- und Dosenpfand war ein Aufreger erster Güteklasse, eine Schicksalsfrage, die die Nation spaltete.
Und heute? Heute, sagt die Kanzlerin, stehen wir "vor der größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung". Wir wollen, wir müssen, wir werden Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Flüchtlingen aufnehmen. Für sie Wohnungen bauen, ihnen Deutsch beibringen und dafür sorgen, dass sie in den Arbeitsprozess "integriert" werden. Dazu, so Simone Peter, die Vorsitzende der Grünen, "sind wir aus humanitären Gründen verpflichtet". Wenn nicht wir, wer dann?

Mir sind solche moralischen Hochseilakte mehr als suspekt, sie sind mir unheimlich. "Es gehört zur Identität unseres Landes, Größtes zu leisten", sagt die Bundeskanzlerin und wird dafür mit stehenden Ovationen gefeiert. Wenn sie auf die Kanaren-Insel Gomera in Urlaub fliegt, nimmt sie zwölf Leibwächter mit. Dem Volk aber predigt sie, Angst sei "ein schlechter Ratgeber". Und aus jeder Krise gehen wir stärker hervor, "als wir hineingegangen sind", auch das hat uns die Kanzlerin feierlich in die Hand versprochen.
Mir wäre es wohler, wenn sie solche Leistungen der deutschen Fußballnationalelf überlassen würde.  HB am 4.5. 2016

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