Gestern fand in Berlin das 19. Europaforum des WDR statt. An einem
neutralen Ort, dem Welt-Saal des Auswärtigen Amtes, hochkarätig besetzt
und von Spitzenkräften der ARD moderiert. Das Bundespresseamt hat uns
eine „interne Ausschriftung“ des Gesprächs mit „BKin Merkel“ als
PDF-Datei zur Verfügung gestellt, die nur im Intranet des AA verfügbar
ist. Wir stellen sie den achgut-Lesern für den internen Gebrauch zur
Verfügung:
Frage (Buhrow): ... Es gab zwei große Reden zu
Europa in den letzten Wochen ... , bezeichnenderweise beide nicht von
gebürtigen Europäern gehalten: Die eine von US- Präsident Obama, der uns
daran erinnerte, Mensch, Europäer, guckt doch mal, was ihr schon
Gigantisches, Historisches geschaffen habt, setzt es nicht aufs Spiel;
die andere von ... Papst Franziskus ... , er hat eher sehr kritisch zu
Gericht gesessen mit Europa und gesagt, Europa, was ist aus dir
geworden, du warst eine ernährende Mutter für deine Bürger und deine
Nation, und jetzt bist du eine abgehalfterte Großmutter... Welche dieser
beiden Visionen von Europa - die ungeschminkte Bestandsaufnahme in Rom
(oder) die Erinnerung an historische Größe von Präsident Obama -
entspricht Ihrer Sicht auf Europa mehr?
Antwort: Ich finde, dass beide Reden sehr
eindrücklich waren und dass sie uns nochmal gezeigt haben, was wir schon
geschafft haben. Insofern habe ich sie beide auch als mutmachend
empfunden. Der Papst hat ja auch gesagt: Was ist los mit dir, Europa?
Also so ein bisschen, als müsste man sich mal schütteln und überlegen,
wo sind die großen Linien, auf die wir uns zu konzentrieren haben.
Insofern sehe ich sie beide als Ansporn eher, sich nicht zu verzetteln,
sondern sich auf das Wichtige zu konzentrieren. Und da haben wir ja auch
ausreichend Aufgaben, das zu tun.
Frage (de Weck): Obama wünschte sich ja ein starkes Europa. Was ist ihre Vision des weiteren Wegs zu einem starken Europa?
Antwort: Für mich ist ein starkes Europa ein Europa,
das solche Strukturen hat, die bei den Fragen, wo Europa einen Mehrwert
uns bringt - ich sag gleich, was das bedeutet, - auch funktionsfähig
ist. Wir haben in den letzten Jahren zwei, so kann man sagen,
Globalisierungstests auf Europa gehabt. Der eine war die Frage, steht
ihr wirklich zu eurer Währung, haltet ihr zusammen, wenn es mal etwas
härter kommt. Und der zweite Test ist jetzt durch die Migration die
Frage, ist der Raum eurer Reisefreiheit, der Raum eurer Bewegungs- und
Niederlassungsfreiheit wirklich ein Raum, den ihr schützen könnt; könnt
ihr eure Außengrenzen schützen?
Wir sind dabei zu lernen, wie wir das können. Wir brauchen die beiden
Dinge aus meiner Sicht - eine gemeinsame Währung, jedenfalls für viele
der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, und einen Schutz der
Außengrenzen, um mit 500 Millionen Menschen dann auch agieren zu können
für die Dinge, die uns wichtig sind: Kampf für Klimaschutz, Kampf für
Freiheit in der Welt, Kampf für Demokratie in der Welt,
Wettbewerbsstärke, Innovationskraft, was wir dann gemeinsam sehr viel
besser nach außen repräsentieren können, als wenn wir das alle alleine
tun.
Gleichzeitig kann Europa das Subsidiaritätsprinzip sehr ernst nehmen.
Europa wird immer ein Gebilde der Vielfalt sein. Und deshalb müssen
nationale Identitäten überhaupt nicht verschüttet werden. Aber da, wo
wir gemeinsam mehr erreichen - und das sind viele Dinge in der
Diskussion mit 1,3 Milliarden Chinesen, mit über einer Milliarde Inder,
mit sehr prosperierenden Vereinigten Staaten von Amerika - , da müssen
wir zusammenstehen. Und dafür brauchen wir bestimmte
Grundvoraussetzungen.
Frage (Buhrow): Ich finde interessant, dass Sie eine
Frage ... nach der Vision von Europa ... mit praktischen
Herausforderungen beantworten. Das macht ja auch den Erfolg Ihrer
Politik zum guten Teil aus.
Antwort: Mir wär’s ja recht, wenn es so gut
funktionieren würde, dass man es nicht bald in den Bereich der Visionen
und des jedenfalls Ziels einarbeiten müsste. Wir können es ja alles noch
nicht hundertprozentig.
Frage: (Buhrow) ... Jean-Claude Juncker hat heute
morgen ... gesagt, Europa darf sich nicht aufribbeln wie ein Pullover
... , wir müssen einen neuen Pullover stricken von Europa. Wie würde
dieser neue Pullover aussehen, wenn Sie ihn stricken würden? ...
Antwort: Ehrlich gesagt, wie ich von dem
aufzuribbelnden Pullover gleich wieder an einen neuen komme und ob ich
nochmal neue Wolle kriege, das weiß ich nicht. Ich muss sagen, mit dem
Bild kann ich mich jetzt nicht sofort identifizieren. Ich verstehe
schon, was er meint: Es darf uns nicht unter den Fingern zerrinnen. Aber
ich würde schon vor dem vollkommenen Aufribbeln mal ein Stoppzeichen
machen und sagen, was haben wir und wo müssen wir uns gegebenenfalls
verändern.
Es ist immer wieder versucht worden, das mit den beiden Endpunkten
sozusagen zu beschreiben, der intergouvernementale Ansatz oder die
Gemeinschaftsmethode und das staatliche Gebilde. Ich glaube, dass Europa
noch auf sehr, sehr lange Zeit ein Gebilde sui generis, wie es, glaube
ich, Joschka Fischer mal gesagt hat, ist, bei dem die
Gemeinschaftsmethode nicht wegzudenken ist. Sie ist ein konstitutiver
Bestandteil für alle die Dinge, von denen wir glauben, dass Europa sie
besser lösen kann auf der europäischen Ebene. Und da kann ich nicht
alles intergouvernemental machen. Und wenn ich es mal zeitweise
intergouvernemental machen muss, muss ich irgendwann bereit sein, das
dann auch in die Gemeinschaftsmethode zu überführen.
Gleichzeitig habe ich immer gesagt, wenn wir irgendwann rausfinden,
dass Europa was geregelt hat, was wir vielleicht national angepasster
und auch effektiver machen können, dann sollten wir nicht sagen, Europa
ist zerstört, wenn man auch mal wieder was in die untere Ebene
zurückgibt.
Insofern werden beide Pole dieses ganz besondere Gebilde mit vielen
Sprachen, mit vielen nationalen Identitäten, aber gleichen
Grundüberzeugengen von Demokratie, von Werten immer wieder ausmachen,
charakterisieren. Wir Deutschen kennen ja das Zusammenleben auch im
Föderalismus ganz gut. Insofern kann man dieses eigenständige
europäische Gebilde, finde ich, gut erklären.
Frage (de Weck): Rund um Europa Krieg und Krisen; in
Europa immer stärker werdende Fliehkräfte; eine Überforderung draußen
und drinnen. Ist da die Lösung das, was man abschätzig auf Deutsch
„Durchwursteln“, aber in sehr edlem Sinne auf Englisch „Muddling
Through“ sagt? Sind Sie eine virtuose Muddling Through-Politikerin?
Antwort: Nein, ich bin eine Politikerin, die
versucht, auftretende Probleme zu lösen. Ich habe zwei dieser Probleme
benannt. Das, was uns in den letzten Monaten sehr beschäftigt hat, ist
das Problem der Migration, der Flüchtlinge, der Bürgerkriegsflüchtlinge,
aber auch von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen.
Und hier stehen wir vor zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren:
Entweder jeder sagt, was ich am besten kann, ist, meine nationale
Grenze schützen. Dann ist das aber nicht in Übereinstimmung mit dem
Anspruch des Schengenraums und dem Schutz der Außengrenze. Oder ich
stelle fest, ich kann meine Außengrenze, insbesondere da, wo es eine
Seegrenze ist, nicht ausreichend schützen. Dann muss ich es lernen.
Und jetzt gibt es zwei Probleme, mit denen wir uns beschäftigen im
Augenblick. Das eine ist, dass es eine Enttäuschung gibt, eine
Enttäuschung, dass an einer solchen Aufgabe, humanitäre Verantwortung
wahrzunehmen, nicht alle Mitgliedsstaaten mit der gleichen Intensität
teilnehmen wollen. Und ich sage mal, ein Bürgerkrieg wie Syrien, bei dem
wir immerhin im Schengenraum durch Zypern ... Nachbarn von Syrien sind,
erlegt uns als 500 Millionen Europäern ja vielleicht ähnliche
Verpflichtungen auf wie einem Land Libanon, das auch ein Nachbar von
Syrien ist mit fünf Millionen Einwohnern. Und das ist für viele schon
auch etwas Ernüchterndes, dass viele sagen, damit wollen wir nichts zu
tun haben, wir nehmen Flüchtlinge nicht auf, und vielleicht fühlen wir
auch uns gar nicht so verantwortlich, Fluchtursachen zu bekämpfen.
Und die zweite Erkenntnis, die wir haben, ist: Da, wo z.B. eine
Seegrenze ist, oder es kann auch eine Landgrenze sein, selbst wenn alle
500 Millionen Europäer genauso bereit wären wie Österreich, Schweden und
Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen, könnten wir nicht alle
Flüchtlinge aufnehmen, die es gibt auf der Welt und die vielleicht gerne
zu uns kommen wollen.
D.h. wir müssen lernen, Fluchtursachen zu bekämpfen, Menschen es zu
ermöglichen, sich gar nicht erst auf die Flucht zu machen. Damit begeben
wir uns natürlich - das wird jetzt ja oft in dem Abkommen mit der
Türkei kritisiert - in Abhängigkeiten. Ja, wir sind eingebettet in eine
Weltgemeinschaft, in der wir natürlich agieren müssen. Und wenn wir zu
der Erkenntnis kommen, dass wir eine Verantwortung haben, dass wir auf
der anderen Seite nicht alle aufnehmen können, dann müssen wir viel
stärker Fluchtursachen bekämpfen.
Und damit bin ich dann natürlich in der Verantwortung für andere
Länder, und das können Sie auch Abhängigkeit nennen. Das müssen wir auch
lernen. Europa kann sich nicht irgendwie einfach abschotten und sagen,
was um uns herum passiert, interessiert uns nicht. Zumal wir völlig
unglaubwürdig werden, was unsere Werte anbelangt. Und das müssen wir
jetzt lernen, mit der Türkei, mit Libanon, mit Libyen, in Zusammenarbeit
mit vielen afrikanischen Ländern usw.
Frage (Buhrow): ... Kanalisieren der Migration -
auch dazu braucht man eine geschützte Grenze, damit man irgendwann
entscheiden kann, wer hat Zugang, wer hat nicht Zugang, ob die nun
national ist oder ob die nun europäisch im Schengenraum ist ... Schengen
kann es nicht, Europa schafft es nicht. National, sagen Sie, die Zeit
ist eh vorbei, wo das realistisch wäre. Arno Schmidt ... hat mal gesagt,
jedes Staatsgebilde hat drei Merkmale ...: Staatsgebiet, Staatsvolk,
Staatsregierung. Wenn mir jetzt sei es Europa oder meine nationale
Regierung sagt, vergiss es, denn die nationale Grenze kann ich eh nicht
schützen, dann fehlt doch ein Pfeiler der Staatlichkeit. Das muss doch
zu Zweifeln am Staatsgebilde oder an der Europäischen Gemeinschaft
führen.
Antwort: Ja, absolut. Deshalb sage ich doch, wir
müssen es lernen, unsere Außengrenzen zu schützen und selbst zu
entscheiden, wen möchten wir aufnehmen und wen möchten wir nicht
aufnehmen. Der Zustand, der ja sehr lange jetzt geherrscht hat, war der,
dass die Schmuggler und Schlepper bestimmt haben - das ist heute noch
so über das Mittelmeer von Libyen ausgesehen - , wer zu uns kommt und
wer nicht, wer das Geld bezahlen kann und wie viele Menschen da auch ihr
Leben verloren haben.
Und jetzt nehmen wir mal die Zeit von Anfang des Jahres bis zum
Inkraftsetzen des Abkommens mit der Türkei: Da sind über 350 Menschen
umgekommen; seit dieses Abkommen in Kraft ist, sind sieben Menschen
umgekommen. Allein schon die Menschenleben zu retten und nicht noch
Leuten Geld in die Kassen zu spülen, lohnt eine solche Abmachung mit der
Türkei.
Nun sagt die Türkei: „Ich mache mit Euch aber eine Abmachung, wo Ihr
Eure Grenzen schützen könnt, nur, wenn Ihr auch bereit seid,
Verantwortung zu übernehmen, wenn wir uns die Lasten von drei Millionen
syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen immerhin in der Türkei auch fairer
teilen, als das bisher der Fall war. Denn Ihr habt ganz
selbstverständlich angenommen, wir nehmen drei Millionen - Ihr habt mit
Zypern auch einen Nachbarn -, und Ihr habt vielleicht 20.000 oder 30.000
oder 50.000 gehabt.“ Deshalb die Unterstützung durch die
Flüchtlingsgelder, die wir geben für die Projekte, deshalb die
Unterstützung mit freiwilligen - haben wir ja gesagt -, humanitären
Kontingenten. Da sind wir noch nicht.
Und im Gegenzug die Absprache, dass wir gemeinsam daran arbeiten,
dass diese Schengengrenze auch geschützt ist und von Illegalen nicht
benutzt wird. Das ist die Aufgabe, die wir jetzt rundherum lernen
müssen. Und dann können wir den Bürgerinnen und Bürgern auch wieder
sagen: „Ja, wir haben das geschafft, und wir haben eine bestimmte Zeit dazu gebraucht.“ In dieser Zeit sind sehr viele Menschen auch nach
Deutschland gekommen. Aber mir war es wichtig - und anderen ja auch -,
dass wir nicht alles an der deutsch-österreichischen Grenze machen, uns
damit dann sozusagen teilen in Europa, sondern dass wir es für die
Außengrenze lernen.
Frage (de Weck): Horst Seehofer hat gesagt, dass
diese Sperre der Grenze zu Österreich - das Abkommen, das getroffen
wurde - das „notariell beglaubigte Ende der Willkommenskultur“ sei. Ist
dem so?
Antwort: Das, was jetzt zwischen der bayerischen
Regierung und unserem Innenminister oder dem bayerischen Innenminister
und dem Bundesinnenminister vereinbart wurde, ist die Fortsetzung
dessen, was wir seit dem 13. September ja schon tun - nämlich
Binnenkontrollen an den Grenzen (durchzuführen). Die sind nach sechs
Monaten dann auf eine neue europäische Rechtsgrundlage gestellt worden.
Die Kommission hat dafür einen Vorschlag gemacht; die Mitgliedsstaaten
haben das akzeptiert. Das ist das, was stattfindet.
Frage (de Weck): Hat ein Wechsel von der Gesinnungs- zur Verantwortungsethik stattgefunden?
Antwort: Nein. Es hat einen Lernprozess (gegeben) -
und wie ich finde, einen bislang ganz erfolgreichen, obwohl das alles
noch auf sehr fragilen Füßen steht, wie wir jeden Tag durch die
Diskussionen sehen. Ein Lernprozess, wie wir besser in der Lage sind, in
diesem Fall durch Kooperation mit der Türkei unsere Außengrenze zu
schützen und Schmugglern und Schleppern das Handwerk zu legen.
Frage (Buhrow): Ich mache mal einen Sprung zum Thema
„Europa ohne Europäer“. Rächt es sich jetzt, dass Europa immer ein
Projekt der Eliten war? Joschka Fischer hat das als Außenminister mal
gesagt im Interview. Wenn man an die vielen Griechenland-Krisen denkt:
Okay, wir hatten mal geschworen, wir geben unsere Währung auf - große
Vorausleistung, vor allem von Deutschland -, dafür ist aber eine sichere
Grenze eingezogen: Wir werden nicht die Schulden anderer Länder
bezahlen. Daraus geworden ist die größte Gelddruckmaschine seit der
Hyperinflation in der Weimarer Republik ...
Antwort: Wer sagt das? Frage (Buhrow): Sage ich. Antwort: Sagen Sie.
Frage (Buhrow): Also die Gelddruckmaschine mit
Quantitative Easing ist enorm. Es wird so viel Geld in Umlauf gebracht
wie nie zuvor. Das löst bei vielen Leuten ein Gefühl der Ohnmacht aus:
Die da oben entscheiden das. Der Vertrag über den Euro ist im Prinzip
nicht mehr wirksam. Rächt sich das jetzt? Ich nehme jetzt extra ein
Beispiel, das nichts mit Fremdenhass oder sonstigen Sachen zu tun hat:
Ist das nicht das, was sich jetzt rächt mit diesem Megatrend
Rechtspopulismus?
Antwort: Also, ich stimme schon der Behauptung nicht
zu, dass Europa ein Projekt der Eliten ist. Wenn Sie mal zu Studenten
gehen und fragen, was sie von Erasmus halten und wie viele im Ausland
studiert haben, dann ist dieses Programm zumindest kein Elitenprojekt.
Wenn wir uns die Währung anschauen und wie erschrocken wir gucken, wenn
wir dann in die Schweiz fahren, dass wir da irgendwie Geld tauschen
müssen, dann hat sich vieles als selbstverständlich erwiesen: mit
welcher Selbstverständlichkeit wir Grenzen überqueren. Das alles kommt
vielen Menschen zugute und vielleicht ist es auch schön so, dass nicht
jeder jeden Tag darüber nachdenkt, wie es vor 40 Jahren war. Das machen
wir ja in anderen Dingen auch nicht. Aber wenn’s wieder zurückgeht, dann
fällt einem schon auf, dass irgendwas schwieriger ist:
Niederlassungsfreiheit, wirtschaftliche Dinge, gemeinsame Forschung,
Erfolgsprojekte wie Airbus und ähnliches. Das alles steht auf der
Habenseite.
Zweitens würde ich nicht in Abrede stellen, dass es manchmal auch
Tendenzen gibt, ziemlich viel ziemlich akribisch zu regeln - wo die
Menschen dann fragen: Ist das jetzt eigentlich nötig? - diese
Fragestellung gibt es allerdings auch manchmal beim Bundesgesetz, was
wir machen - auf der kommunalen Ebene. Das ist also auch nicht etwas
ganz Neues. Und dass Gesetze jetzt von Politikern gemacht werden - und
wenn man Politiker per se als Eliten bezeichnet -, dann kann man
natürlich sagen: Die haben da Entscheidungen getroffen. Dafür haben wir
ja auch alle paar Jahre Wahlen, in denen man wieder sich neue Politiker
wählen kann. Deshalb müssen wir da sehr aufpassen.
Ich glaube, dass Europa im Augenblick wirtschaftlich nicht
erfolgreich genug ist, und darüber gibt es wie überall politische
Diskussionen: Woran liegt das? Ich bin der tiefen Überzeugung, wir sind
der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet. Aber die Welt wartet nicht
auf uns. Wenn wir so große Jugendarbeitslosigkeit haben, dann werden wir
das nicht durch weiteres Geldausgeben und Schuldenmachen bewältigen,
sondern dann müssen wir uns fragen, wie man mehr Arbeitsplätze schaffen
kann durch mehr Attraktivität für Investitionen in Europa. Das werden
staatliche Investitionen alleine nicht schaffen. Darüber geht die
politische Debatte. Die geht aber auch schon seit Jahrzehnten in
Deutschland, immer über diese Frage: Was ist das Verständnis des
Staates? Wie viel unternehmerische Freiheit muss ich geben?
Und diese Diskussion müssen wir ganz stark führen. Neulich stand in
einer großen deutschen Tageszeitung eine Bewertung eines Journalisten
über das, was in asiatischen Ländern über Europa gesprochen wird. Da
sagt man: „Sehr sympathisch, aber etwas weltfremd.“ Das sollten wir uns
zu Herzen nehmen und nicht immer nur unsere Binnenbetrachtung machen -
sondern ab und zu mal gucken, was woanders auf der Welt passiert. Wenn
wir es nicht schaffen, den jungen Menschen wieder zu zeigen: „Ihr
bekommt durch dieses Europa auch mehr Arbeit, Ihr habt da eine Zukunft“,
dann werden wir Schwierigkeiten haben.
Jetzt kommen wir zu der Geldpolitik. Natürlich sind Notenbanken
unabhängig. Also stehe auch ich da und muss zuschauen, welche
Entscheidungen die Europäische Zentralbank fällt - allerdings auch,
welche Entscheidung die amerikanische Bank, die FED, fällt, welche
Entscheidung die japanische Notenbank fällt und die britische. Da sind
wir aus gutem Grund beraten, uns da nicht täglich einzumischen. Aber das
ist nicht nur die Europäische Zentralbank, die so handelt - sie ist die
letzte gewesen, die auf die Niedrigzinspolitik eingestiegen ist -,
sondern viele andere Notenbanken dieser Erde vor ihr, weil man gesagt
hat: Wir brauchen mehr Wachstum.
Was können wir politisch tun? Die Notenbank, die europäische, ist
verpflichtet, eine bestimmte Preisstabilität und auch eine bestimmte
Inflationsrate einzuhalten. Die Inflationsrate ist zu niedrig. Das führt
dazu, dass man immer mehr Geld in die Wirtschaft gibt, um Investitionen
anzulocken, Wachstum anzulocken. Unsere Aufgabe ist es dann, die
Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen mit dem vielen Geld
Lust bekommen, in Europa zu investieren. Wenn hier jeder sagt, die
Umweltverträglichkeitsprüfung dauert zu lange und da ist es zu schwierig
und der Kündigungsschutz ist nicht ausreichend flexibilisiert, dann
kommt eben keiner nach Europa, dann geht man eben an andere Stellen. Wir
haben doch in Deutschland erlebt - die Sozialdemokratie mag es nicht
mehr so gerne hören -, aber die Reformen, die damals gemacht wurden,
auch die jahrelange Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften hat dazu
geführt, dass wir heute so viel Beschäftigte haben wie wir überhaupt
noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten. Das ist also kein
Wunderwerk oder so, sondern das kann man durch ganz überschaubare
Maßnahmen erreichen.
Frage (de Weck): Zurück zum Populismus. Ein halbes
Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg gab es wenig populistische
Parteien in ganz Europa. Jetzt gibt es überall welche, selbst in der
Bundesrepublik. Was ist der tiefere Grund? Hat man eventuell die zwei
Lektionen der beiden Weltkriege und des Holocaust vergessen? Die beiden
zivilisatorischen Lektionen waren soziale Marktwirtschaft - Rücksicht
auf die Schwächeren - und europäische Einigung - Rücksicht auf die
Nachbarn.
Antwort: Ich hoffe nicht, dass man es vergessen hat,
aber es ist für einige Bürgerinnen und Bürger Europas im Augenblick
nicht so wichtig, wie es vielleicht in der Vergangenheit war. Womit kann
das zusammenhängen? Ich mache mir darüber natürlich auch sehr viele
Gedanken. Es kann einmal damit zusammenhängen, dass dieses erkennbare
Friedensprojekt, das natürlich nach dem Zweiten Weltkrieg ganz evident
war, wo die Gräben tief waren, wo man zwischen Deutschland und
Frankreich von Erbfeindschaft - ein solches Wort muss man sich auf der
Zunge zergehen lassen - gesprochen hat -, dass das heute (als)
Normalität erscheint -, und dass unsere Aufgabe ist - ich empfinde es
jedenfalls als meine Aufgabe - immer wieder dafür zu werben, wie schnell
auch wieder Vorurteile entstehen können.
Wir haben in der Eurokrise gesehen, dass plötzlich gesagt wurde: Die
Griechen sind so, die Deutschen sind so, die Italiener sind so. Wenn wir
in dem Moment so anfangen und sagen, wir klassifizieren Nationen, und
nicht mehr auf den einzelnen Menschen schauen, auf das, was passiert,
dann sind wir ganz stark schon auf diesem Weg, Vorurteile wachsen zu
lassen. Deshalb sollten wir uns dem Erbe der Gründerväter Europas immer
verpflichtet fühlen. Und es ist die Aufgabe, das auch weiterzugeben und
nicht für gegeben anzunehmen.
Das Zweite ist, dass eben die Globalisierung Europa sozusagen das
Merkmal nimmt: Bei uns ist es schon am besten auf der Welt, wir sind
überall vorne mit dabei. Das sind wir nicht mehr überall. Wir müssen
erleben, dass Arbeitsplätze abwandern, dass die Unternehmen der
Digitalisierung des Internets nicht mehr die Großen in Europa sind,
sondern in Amerika und in Asien. Und das verunsichert Menschen, glaube
ich auch. Und sie suchen dann im kleineren Kreis wieder die Lösung,
vielleicht auch die einfachere Lösung. Und deshalb ist die Aufgabe, zu
werben, einladend zu sein, zu integrieren.
Das ist die Aufgabe, die ich als Vorsitzende der Christlich
Demokratischen Union Deutschlands sehe: zu integrieren in die Mitte,
positive Antworten zu geben, Brücken zu schlagen. Die CDU ist stark
geworden, indem sie Gräben überwunden hat in Europa zwischen
Protestanten und Katholiken, zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern.
Heute müssen wir diese Brücken auch wieder schlagen, sodass wir
einladend wirken und gute Antworten geben. Das ist die Aufgabe, vor der
wir stehen. Jede Generation hat ihre Herausforderung. Und gemessen an
dem, was man zu Beginn der Römischen Verträge leisten musste, finde ich,
lohnt es sich doch auch, sich gemeinsam hinzustellen und für dieses
Europa zu werben.
Frage (Buhrow): Hatten wir, was Europa angeht, das
Europa, was Sie im Sinn haben, nicht als Deutsche immer eine besondere
Hinwendung dazu? Wir hatten einfach durch unsere nationale
Identitätskrise nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Teilung eine ganz
besondere Sehnsucht danach, aufzugehen und zu sagen: Okay, wir sind
keine Deutschen mehr. Der Nationalstaat ist überwunden. Wir sind
Europäer. In Paris war das ein Joke bei diesen Stand-up-Comedians, wenn
die sich ans Publikum wenden: „Wo sind Sie her?" und wollen Witze über
die Herkunft machen. Wenn dann jemand sagt: „Ich bin Europäer.“ - „Ja,
dann sind Sie Deutscher, weil das sagen nur Deutsche.“ Ist das jetzt
nicht die Stunde, wo wir mal eine realistische Bestandaufnahme machen
und sagen: Okay, lasst uns mal gucken, was wollen wir von Europa, was
sind wir bereit zu geben an Europa? In Großbritannien findet die
Diskussion gerade statt. In Deutschland wurde das Volk ja noch nie bei
irgendeiner Schicksalsfrage von Europa gefragt.
Antwort: Na ja, wir haben nicht das Referendum als
Fragestellung. Aber wir haben politische Parteien, die sich zur Wahl
stellen. Helmut Kohl, an den ich mich noch gut erinnere, hat nie hinterm
Berg gehalten, welche Meinung er über Europa hatte. Und wer ihn gewählt
hat, der hat gewusst, was er wählt. Er hat immer gesagt: Deutschland
und Europa, auch die deutsche Einheit und die europäische Einigung sind
zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das heißt, wir haben nie gesagt,
dass wir jetzt nicht auch Deutsche sind. Das ist ja nicht richtig. Das
kann sein, dass jedes Land seinen Blick auf Europa hat. Und es wandeln
sich ja auch die Aufgaben. Den ursprünglichen Friedensimpuls haben wir
jetzt schon sehr viele Jahrzehnte leben können in Europa.
Aber jetzt kommt ein anderes hinzu: die Herausforderung durch die
Globalisierung - ich muss es nochmal sagen -, der Wettbewerb zwischen
sehr, sehr großen Einheiten auf der Welt. Wenn wir für den Klimaschutz
kämpfen, wenn wir für die Würde des Menschen, für Freiheiten kämpfen,
dann tun wir das doch mit 500 Millionen Europäern sehr viel
nachhaltiger, als wenn selbst wir großen Deutschen dort mit einer wieder
differenziell anderen Position ankommen - aber mit 80 Millionen kommen
Sie auch nicht besonders weit in dieser Welt, wenn jetzt Absprachen
geführt werden oder wenn es eben um Wirtschaftspolitik geht, wenn es um
die Frage geht: Staatsverschuldung oder eben solideres Haushalten?
Dann sind Sie schon mit 500 Millionen Menschen, wenn Sie sich auf
eine gemeinsame Position einigen, immer nur von den sieben Milliarden
auf der Welt ein kleiner Teil. Aber dann immerhin doch eine
schlagkräftige Truppe. Das heißt die Fragen, die uns im Kern allen
gemeinsam wichtig sind, die gemeinsam vertreten zu können in einer
globalen Welt, bei der wirklich viele ganz andere Vorstellungen von
dieser Welt haben - das, finde ich, ist ein solcher wesentlicher Wert,
um überhaupt das leben zu können, was uns wichtig ist, dass es sich
allemal lohnt, dafür auch ein zweites festes, neues Standbein Europas zu
schaffen - neben der Friedensaufgabe.
Frage (de Weck): Wäre ein Kerneuropa nicht stärker? Antwort: Wer ist denn Kerneuropa?
Frage (de Weck): Die Gründerstaaten und ein paar
derjenigen, die dazugestoßen sind und wirklich an der weiteren
Integration teilhaben möchten.
Antwort: Richtig. Wir haben ja das Europa der
unterschiedlichen Geschwindigkeiten in vielen Fragen. Der Euro, das sind
19 Mitgliedsstaaten. Wir haben das Schengenabkommen, auch dort sind
nicht alle Mitgliedsstaaten dabei. Großbritannien hat sich immer wieder
Opt-out-Optionen genommen, Dänemark hat sich für Opt-out-Optionen
entschieden, also hat bei vielen Sachen nicht mitgemacht. Das haben wir
immer sehr gut bewältigt.
Ich glaube, es muss nur ein einziges Prinzip geben: Wer
Mitgliedsstaat ist, hat ein Recht darauf, bei jeder neuen Aufgabe, die
nach Europa übertragen wird, mitzumachen, wenn er möchte. Wir können
nicht sagen: Pass mal auf, jetzt haben wir uns was überlegt, das gilt
jetzt nur für die Gründungsstaaten. Das geht auf gar keinen Fall. Offen
sein, aber nicht fordern, dass jeder sofort mitmacht. Das kann man tun.
Meine Erfahrung ist, dass bei sehr, sehr vielen Dingen dann doch sehr
viele Mitgliedsstaaten mitmachen wollen. Insofern ist das Kerneuropa
oder das Gründungsstaaten-Europa aus meiner Sicht nicht mehr das Europa,
das wir in der heutigen Konstellation als sozusagen das leuchtende
Beispiel nehmen können - zumal wir auch in Mitgliedsstaaten der
Gründerstaaten ja durchaus auch ganz schöne Probleme haben.
Frage (Buhrow): Gibt es irgendwann die Vereinigten Staaten von Europa?
Antwort: Ich hoffe, dass es ein schlagkräftiges
Europa gibt, das von seinen Bürgerinnen und Bürgern noch mehr anerkannt
wird. Ob das eines Tages so oder so heißt, das weiß ich nicht. Heute
heißt es Europäische Union. Ich kann damit prima leben, und das ist
nicht mein zentrales Problem. Mein zentrales Problem ist, dass jede
Ebene die Aufgaben findet, die gut und richtig dort angesiedelt sind. Da
haben wir alle Hände voll zu tun.
Frage (Buhrow): Und Sie haben heute auch noch viel
zu tun am Tage. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir haben
im Vorfeld der Kanzlerin versprochen, es wird pünktlich nach einer
halben Stunde Schluss gemacht ...
Antwort: Aber haben Sie nicht Sendezeiten, wo Sie auch schließen müssen? (Gelächter im Publikum und Applaus)
Frage (Buhrow): Auch das.
Antwort: Wenn ich mal wieder zur ARD eingeladen
werde, dann werde ich sagen: Ich habe heute unendlich Zeit. Sie haben
mir damals gesagt, ich hätte keine mehr. Mein nächster Auftritt ...
Frage (Buhrow): Jetzt weiß ich, warum alle Männer in
der EU um vier Uhr morgens alle Waffen strecken und sich Ihrem Charme
ergeben. Danke, dass Sie hier waren, danke, dass Sie sich die Zeit
genommen haben und die Fragen beantwortet haben. Es war sehr
interessant. Einen guten weiteren Arbeitstag für Deutschland und Europa.
Antwort: Dankeschön.
Und hier geht es weiter
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