Stationen

Freitag, 13. Mai 2016

Interne Ausschriftung

Gestern fand in Berlin das 19. Europaforum des WDR statt. An einem neutralen Ort, dem Welt-Saal des Auswärtigen Amtes, hochkarätig besetzt und von Spitzenkräften der ARD moderiert. Das Bundespresseamt hat uns eine „interne Ausschriftung“ des Gesprächs mit „BKin Merkel“ als PDF-Datei zur Verfügung gestellt, die nur im Intranet des AA verfügbar ist. Wir stellen sie  den achgut-Lesern für den internen Gebrauch zur Verfügung:


Frage (Buhrow): ... Es gab zwei große Reden zu Europa in den letzten Wochen ... , bezeichnenderweise beide nicht von gebürtigen Europäern gehalten: Die eine von US- Präsident Obama, der uns daran erinnerte, Mensch, Europäer, guckt doch mal, was ihr schon Gigantisches, Historisches geschaffen habt, setzt es nicht aufs Spiel; die andere von ... Papst Franziskus ... , er hat eher sehr kritisch zu Gericht gesessen mit Europa und gesagt, Europa, was ist aus dir geworden, du warst eine ernährende Mutter für deine Bürger und deine Nation, und jetzt bist du eine abgehalfterte Großmutter... Welche dieser beiden Visionen von Europa - die ungeschminkte Bestandsaufnahme in Rom (oder) die Erinnerung an historische Größe von Präsident Obama - entspricht Ihrer Sicht auf Europa mehr? Antwort: Ich finde, dass beide Reden sehr eindrücklich waren und dass sie uns nochmal gezeigt haben, was wir schon geschafft haben. Insofern habe ich sie beide auch als mutmachend empfunden. Der Papst hat ja auch gesagt: Was ist los mit dir, Europa? Also so ein bisschen, als müsste man sich mal schütteln und überlegen, wo sind die großen Linien, auf die wir uns zu konzentrieren haben. Insofern sehe ich sie beide als Ansporn eher, sich nicht zu verzetteln, sondern sich auf das Wichtige zu konzentrieren. Und da haben wir ja auch ausreichend Aufgaben, das zu tun.
Frage (de Weck): Obama wünschte sich ja ein starkes Europa. Was ist ihre Vision des weiteren Wegs zu einem starken Europa?
Antwort: Für mich ist ein starkes Europa ein Europa, das solche Strukturen hat, die bei den Fragen, wo Europa einen Mehrwert uns bringt - ich sag gleich, was das bedeutet, - auch funktionsfähig ist. Wir haben in den letzten Jahren zwei, so kann man sagen, Globalisierungstests auf Europa gehabt. Der eine war die Frage, steht ihr wirklich zu eurer Währung, haltet ihr zusammen, wenn es mal etwas härter kommt. Und der zweite Test ist jetzt durch die Migration die Frage, ist der Raum eurer Reisefreiheit, der Raum eurer Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit wirklich ein Raum, den ihr schützen könnt; könnt ihr eure Außengrenzen schützen?
Wir sind dabei zu lernen, wie wir das können. Wir brauchen die beiden Dinge aus meiner Sicht - eine gemeinsame Währung, jedenfalls für viele der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, und einen Schutz der Außengrenzen, um mit 500 Millionen Menschen dann auch agieren zu können für die Dinge, die uns wichtig sind: Kampf für Klimaschutz, Kampf für Freiheit in der Welt, Kampf für Demokratie in der Welt, Wettbewerbsstärke, Innovationskraft, was wir dann gemeinsam sehr viel besser nach außen repräsentieren können, als wenn wir das alle alleine tun.
Gleichzeitig kann Europa das Subsidiaritätsprinzip sehr ernst nehmen. Europa wird immer ein Gebilde der Vielfalt sein. Und deshalb müssen nationale Identitäten überhaupt nicht verschüttet werden. Aber da, wo wir gemeinsam mehr erreichen - und das sind viele Dinge in der Diskussion mit 1,3 Milliarden Chinesen, mit über einer Milliarde Inder, mit sehr prosperierenden Vereinigten Staaten von Amerika - , da müssen wir zusammenstehen. Und dafür brauchen wir bestimmte Grundvoraussetzungen.
Frage (Buhrow): Ich finde interessant, dass Sie eine Frage ... nach der Vision von Europa ... mit praktischen Herausforderungen beantworten. Das macht ja auch den Erfolg Ihrer Politik zum guten Teil aus.
Antwort: Mir wär’s ja recht, wenn es so gut funktionieren würde, dass man es nicht bald in den Bereich der Visionen und des jedenfalls Ziels einarbeiten müsste. Wir können es ja alles noch nicht hundertprozentig.
Frage: (Buhrow) ... Jean-Claude Juncker hat heute morgen ... gesagt, Europa darf sich nicht aufribbeln wie ein Pullover ... , wir müssen einen neuen Pullover stricken von Europa. Wie würde dieser neue Pullover aussehen, wenn Sie ihn stricken würden? ...
Antwort: Ehrlich gesagt, wie ich von dem aufzuribbelnden Pullover gleich wieder an einen neuen komme und ob ich nochmal neue Wolle kriege, das weiß ich nicht. Ich muss sagen, mit dem Bild kann ich mich jetzt nicht sofort identifizieren. Ich verstehe schon, was er meint: Es darf uns nicht unter den Fingern zerrinnen. Aber ich würde schon vor dem vollkommenen Aufribbeln mal ein Stoppzeichen machen und sagen, was haben wir und wo müssen wir uns gegebenenfalls verändern.
Es ist immer wieder versucht worden, das mit den beiden Endpunkten sozusagen zu beschreiben, der intergouvernementale Ansatz oder die Gemeinschaftsmethode und das staatliche Gebilde. Ich glaube, dass Europa noch auf sehr, sehr lange Zeit ein Gebilde sui generis, wie es, glaube ich, Joschka Fischer mal gesagt hat, ist, bei dem die Gemeinschaftsmethode nicht wegzudenken ist. Sie ist ein konstitutiver Bestandteil für alle die Dinge, von denen wir glauben, dass Europa sie besser lösen kann auf der europäischen Ebene. Und da kann ich nicht alles intergouvernemental machen. Und wenn ich es mal zeitweise intergouvernemental machen muss, muss ich irgendwann bereit sein, das dann auch in die Gemeinschaftsmethode zu überführen.
Gleichzeitig habe ich immer gesagt, wenn wir irgendwann rausfinden, dass Europa was geregelt hat, was wir vielleicht national angepasster und auch effektiver machen können, dann sollten wir nicht sagen, Europa ist zerstört, wenn man auch mal wieder was in die untere Ebene zurückgibt.
Insofern werden beide Pole dieses ganz besondere Gebilde mit vielen Sprachen, mit vielen nationalen Identitäten, aber gleichen Grundüberzeugengen von Demokratie, von Werten immer wieder ausmachen, charakterisieren. Wir Deutschen kennen ja das Zusammenleben auch im Föderalismus ganz gut. Insofern kann man dieses eigenständige europäische Gebilde, finde ich, gut erklären.
Frage (de Weck): Rund um Europa Krieg und Krisen; in Europa immer stärker werdende Fliehkräfte; eine Überforderung draußen und drinnen. Ist da die Lösung das, was man abschätzig auf Deutsch „Durchwursteln“, aber in sehr edlem Sinne auf Englisch „Muddling Through“ sagt? Sind Sie eine virtuose Muddling Through-Politikerin?
Antwort: Nein, ich bin eine Politikerin, die versucht, auftretende Probleme zu lösen. Ich habe zwei dieser Probleme benannt. Das, was uns in den letzten Monaten sehr beschäftigt hat, ist das Problem der Migration, der Flüchtlinge, der Bürgerkriegsflüchtlinge, aber auch von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen. Und hier stehen wir vor zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren:
Entweder jeder sagt, was ich am besten kann, ist, meine nationale Grenze schützen. Dann ist das aber nicht in Übereinstimmung mit dem Anspruch des Schengenraums und dem Schutz der Außengrenze. Oder ich stelle fest, ich kann meine Außengrenze, insbesondere da, wo es eine Seegrenze ist, nicht ausreichend schützen. Dann muss ich es lernen.
Und jetzt gibt es zwei Probleme, mit denen wir uns beschäftigen im Augenblick. Das eine ist, dass es eine Enttäuschung gibt, eine Enttäuschung, dass an einer solchen Aufgabe, humanitäre Verantwortung wahrzunehmen, nicht alle Mitgliedsstaaten mit der gleichen Intensität teilnehmen wollen. Und ich sage mal, ein Bürgerkrieg wie Syrien, bei dem wir immerhin im Schengenraum durch Zypern ... Nachbarn von Syrien sind, erlegt uns als 500 Millionen Europäern ja vielleicht ähnliche Verpflichtungen auf wie einem Land Libanon, das auch ein Nachbar von Syrien ist mit fünf Millionen Einwohnern. Und das ist für viele schon auch etwas Ernüchterndes, dass viele sagen, damit wollen wir nichts zu tun haben, wir nehmen Flüchtlinge nicht auf, und vielleicht fühlen wir auch uns gar nicht so verantwortlich, Fluchtursachen zu bekämpfen.
Und die zweite Erkenntnis, die wir haben, ist: Da, wo z.B. eine Seegrenze ist, oder es kann auch eine Landgrenze sein, selbst wenn alle 500 Millionen Europäer genauso bereit wären wie Österreich, Schweden und Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen, könnten wir nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, die es gibt auf der Welt und die vielleicht gerne zu uns kommen wollen.
D.h. wir müssen lernen, Fluchtursachen zu bekämpfen, Menschen es zu ermöglichen, sich gar nicht erst auf die Flucht zu machen. Damit begeben wir uns natürlich - das wird jetzt ja oft in dem Abkommen mit der Türkei kritisiert - in Abhängigkeiten. Ja, wir sind eingebettet in eine Weltgemeinschaft, in der wir natürlich agieren müssen. Und wenn wir zu der Erkenntnis kommen, dass wir eine Verantwortung haben, dass wir auf der anderen Seite nicht alle aufnehmen können, dann müssen wir viel stärker Fluchtursachen bekämpfen.
Und damit bin ich dann natürlich in der Verantwortung für andere Länder, und das können Sie auch Abhängigkeit nennen. Das müssen wir auch lernen. Europa kann sich nicht irgendwie einfach abschotten und sagen, was um uns herum passiert, interessiert uns nicht. Zumal wir völlig unglaubwürdig werden, was unsere Werte anbelangt. Und das müssen wir jetzt lernen, mit der Türkei, mit Libanon, mit Libyen, in Zusammenarbeit mit vielen afrikanischen Ländern usw.
Frage (Buhrow): ... Kanalisieren der Migration - auch dazu braucht man eine geschützte Grenze, damit man irgendwann entscheiden kann, wer hat Zugang, wer hat nicht Zugang, ob die nun national ist oder ob die nun europäisch im Schengenraum ist ... Schengen kann es nicht, Europa schafft es nicht. National, sagen Sie, die Zeit ist eh vorbei, wo das realistisch wäre. Arno Schmidt ... hat mal gesagt, jedes Staatsgebilde hat drei Merkmale ...: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsregierung. Wenn mir jetzt sei es Europa oder meine nationale Regierung sagt, vergiss es, denn die nationale Grenze kann ich eh nicht schützen, dann fehlt doch ein Pfeiler der Staatlichkeit. Das muss doch zu Zweifeln am Staatsgebilde oder an der Europäischen Gemeinschaft führen.
Antwort: Ja, absolut. Deshalb sage ich doch, wir müssen es lernen, unsere Außengrenzen zu schützen und selbst zu entscheiden, wen möchten wir aufnehmen und wen möchten wir nicht aufnehmen. Der Zustand, der ja sehr lange jetzt geherrscht hat, war der, dass die Schmuggler und Schlepper bestimmt haben - das ist heute noch so über das Mittelmeer von Libyen ausgesehen - , wer zu uns kommt und wer nicht, wer das Geld bezahlen kann und wie viele Menschen da auch ihr Leben verloren haben.
Und jetzt nehmen wir mal die Zeit von Anfang des Jahres bis zum Inkraftsetzen des Abkommens mit der Türkei: Da sind über 350 Menschen umgekommen; seit dieses Abkommen in Kraft ist, sind sieben Menschen umgekommen. Allein schon die Menschenleben zu retten und nicht noch Leuten Geld in die Kassen zu spülen, lohnt eine solche Abmachung mit der Türkei.
Nun sagt die Türkei: „Ich mache mit Euch aber eine Abmachung, wo Ihr Eure Grenzen schützen könnt, nur, wenn Ihr auch bereit seid, Verantwortung zu übernehmen, wenn wir uns die Lasten von drei Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen immerhin in der Türkei auch fairer teilen, als das bisher der Fall war. Denn Ihr habt ganz selbstverständlich angenommen, wir nehmen drei Millionen - Ihr habt mit Zypern auch einen Nachbarn -, und Ihr habt vielleicht 20.000 oder 30.000 oder 50.000 gehabt.“ Deshalb die Unterstützung durch die Flüchtlingsgelder, die wir geben für die Projekte, deshalb die Unterstützung mit freiwilligen - haben wir ja gesagt -, humanitären Kontingenten. Da sind wir noch nicht.
Und im Gegenzug die Absprache, dass wir gemeinsam daran arbeiten, dass diese Schengengrenze auch geschützt ist und von Illegalen nicht benutzt wird. Das ist die Aufgabe, die wir jetzt rundherum lernen müssen. Und dann können wir den Bürgerinnen und Bürgern auch wieder sagen: „Ja, wir haben das geschafft, und wir haben eine bestimmte Zeit dazu gebraucht.“ In dieser Zeit sind sehr viele Menschen auch nach Deutschland gekommen. Aber mir war es wichtig - und anderen ja auch -, dass wir nicht alles an der deutsch-österreichischen Grenze machen, uns damit dann sozusagen teilen in Europa, sondern dass wir es für die Außengrenze lernen.
Frage (de Weck): Horst Seehofer hat gesagt, dass diese Sperre der Grenze zu Österreich - das Abkommen, das getroffen wurde - das „notariell beglaubigte Ende der Willkommenskultur“ sei. Ist dem so?
Antwort: Das, was jetzt zwischen der bayerischen Regierung und unserem Innenminister oder dem bayerischen Innenminister und dem Bundesinnenminister vereinbart wurde, ist die Fortsetzung dessen, was wir seit dem 13. September ja schon tun - nämlich Binnenkontrollen an den Grenzen (durchzuführen). Die sind nach sechs Monaten dann auf eine neue europäische Rechtsgrundlage gestellt worden. Die Kommission hat dafür einen Vorschlag gemacht; die Mitgliedsstaaten haben das akzeptiert. Das ist das, was stattfindet.
Frage (de Weck): Hat ein Wechsel von der Gesinnungs- zur Verantwortungsethik stattgefunden?
Antwort: Nein. Es hat einen Lernprozess (gegeben) - und wie ich finde, einen bislang ganz erfolgreichen, obwohl das alles noch auf sehr fragilen Füßen steht, wie wir jeden Tag durch die Diskussionen sehen. Ein Lernprozess, wie wir besser in der Lage sind, in diesem Fall durch Kooperation mit der Türkei unsere Außengrenze zu schützen und Schmugglern und Schleppern das Handwerk zu legen.
Frage (Buhrow): Ich mache mal einen Sprung zum Thema „Europa ohne Europäer“. Rächt es sich jetzt, dass Europa immer ein Projekt der Eliten war? Joschka Fischer hat das als Außenminister mal gesagt im Interview. Wenn man an die vielen Griechenland-Krisen denkt: Okay, wir hatten mal geschworen, wir geben unsere Währung auf - große Vorausleistung, vor allem von Deutschland -, dafür ist aber eine sichere Grenze eingezogen: Wir werden nicht die Schulden anderer Länder bezahlen. Daraus geworden ist die größte Gelddruckmaschine seit der Hyperinflation in der Weimarer Republik ...
Antwort: Wer sagt das? Frage (Buhrow): Sage ich. Antwort: Sagen Sie.
Frage (Buhrow): Also die Gelddruckmaschine mit Quantitative Easing ist enorm. Es wird so viel Geld in Umlauf gebracht wie nie zuvor. Das löst bei vielen Leuten ein Gefühl der Ohnmacht aus: Die da oben entscheiden das. Der Vertrag über den Euro ist im Prinzip nicht mehr wirksam. Rächt sich das jetzt? Ich nehme jetzt extra ein Beispiel, das nichts mit Fremdenhass oder sonstigen Sachen zu tun hat: Ist das nicht das, was sich jetzt rächt mit diesem Megatrend Rechtspopulismus?
Antwort: Also, ich stimme schon der Behauptung nicht zu, dass Europa ein Projekt der Eliten ist. Wenn Sie mal zu Studenten gehen und fragen, was sie von Erasmus halten und wie viele im Ausland studiert haben, dann ist dieses Programm zumindest kein Elitenprojekt. Wenn wir uns die Währung anschauen und wie erschrocken wir gucken, wenn wir dann in die Schweiz fahren, dass wir da irgendwie Geld tauschen müssen, dann hat sich vieles als selbstverständlich erwiesen: mit welcher Selbstverständlichkeit wir Grenzen überqueren. Das alles kommt vielen Menschen zugute und vielleicht ist es auch schön so, dass nicht jeder jeden Tag darüber nachdenkt, wie es vor 40 Jahren war. Das machen wir ja in anderen Dingen auch nicht. Aber wenn’s wieder zurückgeht, dann fällt einem schon auf, dass irgendwas schwieriger ist: Niederlassungsfreiheit, wirtschaftliche Dinge, gemeinsame Forschung, Erfolgsprojekte wie Airbus und ähnliches. Das alles steht auf der Habenseite.
Zweitens würde ich nicht in Abrede stellen, dass es manchmal auch Tendenzen gibt, ziemlich viel ziemlich akribisch zu regeln - wo die Menschen dann fragen: Ist das jetzt eigentlich nötig? - diese Fragestellung gibt es allerdings auch manchmal beim Bundesgesetz, was wir machen - auf der kommunalen Ebene. Das ist also auch nicht etwas ganz Neues. Und dass Gesetze jetzt von Politikern gemacht werden - und wenn man Politiker per se als Eliten bezeichnet -, dann kann man natürlich sagen: Die haben da Entscheidungen getroffen. Dafür haben wir ja auch alle paar Jahre Wahlen, in denen man wieder sich neue Politiker wählen kann. Deshalb müssen wir da sehr aufpassen.
Ich glaube, dass Europa im Augenblick wirtschaftlich nicht erfolgreich genug ist, und darüber gibt es wie überall politische Diskussionen: Woran liegt das? Ich bin der tiefen Überzeugung, wir sind der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet. Aber die Welt wartet nicht auf uns. Wenn wir so große Jugendarbeitslosigkeit haben, dann werden wir das nicht durch weiteres Geldausgeben und Schuldenmachen bewältigen, sondern dann müssen wir uns fragen, wie man mehr Arbeitsplätze schaffen kann durch mehr Attraktivität für Investitionen in Europa. Das werden staatliche Investitionen alleine nicht schaffen. Darüber geht die politische Debatte. Die geht aber auch schon seit Jahrzehnten in Deutschland, immer über diese Frage: Was ist das Verständnis des Staates? Wie viel unternehmerische Freiheit muss ich geben?
Und diese Diskussion müssen wir ganz stark führen. Neulich stand in einer großen deutschen Tageszeitung eine Bewertung eines Journalisten über das, was in asiatischen Ländern über Europa gesprochen wird. Da sagt man: „Sehr sympathisch, aber etwas weltfremd.“ Das sollten wir uns zu Herzen nehmen und nicht immer nur unsere Binnenbetrachtung machen - sondern ab und zu mal gucken, was woanders auf der Welt passiert. Wenn wir es nicht schaffen, den jungen Menschen wieder zu zeigen: „Ihr bekommt durch dieses Europa auch mehr Arbeit, Ihr habt da eine Zukunft“, dann werden wir Schwierigkeiten haben.
Jetzt kommen wir zu der Geldpolitik. Natürlich sind Notenbanken unabhängig. Also stehe auch ich da und muss zuschauen, welche Entscheidungen die Europäische Zentralbank fällt - allerdings auch, welche Entscheidung die amerikanische Bank, die FED, fällt, welche Entscheidung die japanische Notenbank fällt und die britische. Da sind wir aus gutem Grund beraten, uns da nicht täglich einzumischen. Aber das ist nicht nur die Europäische Zentralbank, die so handelt - sie ist die letzte gewesen, die auf die Niedrigzinspolitik eingestiegen ist -, sondern viele andere Notenbanken dieser Erde vor ihr, weil man gesagt hat: Wir brauchen mehr Wachstum.
Was können wir politisch tun? Die Notenbank, die europäische, ist verpflichtet, eine bestimmte Preisstabilität und auch eine bestimmte Inflationsrate einzuhalten. Die Inflationsrate ist zu niedrig. Das führt dazu, dass man immer mehr Geld in die Wirtschaft gibt, um Investitionen anzulocken, Wachstum anzulocken. Unsere Aufgabe ist es dann, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen mit dem vielen Geld Lust bekommen, in Europa zu investieren. Wenn hier jeder sagt, die Umweltverträglichkeitsprüfung dauert zu lange und da ist es zu schwierig und der Kündigungsschutz ist nicht ausreichend flexibilisiert, dann kommt eben keiner nach Europa, dann geht man eben an andere Stellen. Wir haben doch in Deutschland erlebt - die Sozialdemokratie mag es nicht mehr so gerne hören -, aber die Reformen, die damals gemacht wurden, auch die jahrelange Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften hat dazu geführt, dass wir heute so viel Beschäftigte haben wie wir überhaupt noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten. Das ist also kein Wunderwerk oder so, sondern das kann man durch ganz überschaubare Maßnahmen erreichen.
Frage (de Weck): Zurück zum Populismus. Ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg gab es wenig populistische Parteien in ganz Europa. Jetzt gibt es überall welche, selbst in der Bundesrepublik. Was ist der tiefere Grund? Hat man eventuell die zwei Lektionen der beiden Weltkriege und des Holocaust vergessen? Die beiden zivilisatorischen Lektionen waren soziale Marktwirtschaft - Rücksicht auf die Schwächeren - und europäische Einigung - Rücksicht auf die Nachbarn.
Antwort: Ich hoffe nicht, dass man es vergessen hat, aber es ist für einige Bürgerinnen und Bürger Europas im Augenblick nicht so wichtig, wie es vielleicht in der Vergangenheit war. Womit kann das zusammenhängen? Ich mache mir darüber natürlich auch sehr viele Gedanken. Es kann einmal damit zusammenhängen, dass dieses erkennbare Friedensprojekt, das natürlich nach dem Zweiten Weltkrieg ganz evident war, wo die Gräben tief waren, wo man zwischen Deutschland und Frankreich von Erbfeindschaft - ein solches Wort muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - gesprochen hat -, dass das heute (als) Normalität erscheint -, und dass unsere Aufgabe ist - ich empfinde es jedenfalls als meine Aufgabe - immer wieder dafür zu werben, wie schnell auch wieder Vorurteile entstehen können.
Wir haben in der Eurokrise gesehen, dass plötzlich gesagt wurde: Die Griechen sind so, die Deutschen sind so, die Italiener sind so. Wenn wir in dem Moment so anfangen und sagen, wir klassifizieren Nationen, und nicht mehr auf den einzelnen Menschen schauen, auf das, was passiert, dann sind wir ganz stark schon auf diesem Weg, Vorurteile wachsen zu lassen. Deshalb sollten wir uns dem Erbe der Gründerväter Europas immer verpflichtet fühlen. Und es ist die Aufgabe, das auch weiterzugeben und nicht für gegeben anzunehmen.
Das Zweite ist, dass eben die Globalisierung Europa sozusagen das Merkmal nimmt: Bei uns ist es schon am besten auf der Welt, wir sind überall vorne mit dabei. Das sind wir nicht mehr überall. Wir müssen erleben, dass Arbeitsplätze abwandern, dass die Unternehmen der Digitalisierung des Internets nicht mehr die Großen in Europa sind, sondern in Amerika und in Asien. Und das verunsichert Menschen, glaube ich auch. Und sie suchen dann im kleineren Kreis wieder die Lösung, vielleicht auch die einfachere Lösung. Und deshalb ist die Aufgabe, zu werben, einladend zu sein, zu integrieren.
Das ist die Aufgabe, die ich als Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands sehe: zu integrieren in die Mitte, positive Antworten zu geben, Brücken zu schlagen. Die CDU ist stark geworden, indem sie Gräben überwunden hat in Europa zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern. Heute müssen wir diese Brücken auch wieder schlagen, sodass wir einladend wirken und gute Antworten geben. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Jede Generation hat ihre Herausforderung. Und gemessen an dem, was man zu Beginn der Römischen Verträge leisten musste, finde ich, lohnt es sich doch auch, sich gemeinsam hinzustellen und für dieses Europa zu werben.
Frage (Buhrow): Hatten wir, was Europa angeht, das Europa, was Sie im Sinn haben, nicht als Deutsche immer eine besondere Hinwendung dazu? Wir hatten einfach durch unsere nationale Identitätskrise nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Teilung eine ganz besondere Sehnsucht danach, aufzugehen und zu sagen: Okay, wir sind keine Deutschen mehr. Der Nationalstaat ist überwunden. Wir sind Europäer. In Paris war das ein Joke bei diesen Stand-up-Comedians, wenn die sich ans Publikum wenden: „Wo sind Sie her?" und wollen Witze über die Herkunft machen. Wenn dann jemand sagt: „Ich bin Europäer.“ - „Ja, dann sind Sie Deutscher, weil das sagen nur Deutsche.“ Ist das jetzt nicht die Stunde, wo wir mal eine realistische Bestandaufnahme machen und sagen: Okay, lasst uns mal gucken, was wollen wir von Europa, was sind wir bereit zu geben an Europa? In Großbritannien findet die Diskussion gerade statt. In Deutschland wurde das Volk ja noch nie bei irgendeiner Schicksalsfrage von Europa gefragt.
Antwort: Na ja, wir haben nicht das Referendum als Fragestellung. Aber wir haben politische Parteien, die sich zur Wahl stellen. Helmut Kohl, an den ich mich noch gut erinnere, hat nie hinterm Berg gehalten, welche Meinung er über Europa hatte. Und wer ihn gewählt hat, der hat gewusst, was er wählt. Er hat immer gesagt: Deutschland und Europa, auch die deutsche Einheit und die europäische Einigung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das heißt, wir haben nie gesagt, dass wir jetzt nicht auch Deutsche sind. Das ist ja nicht richtig. Das kann sein, dass jedes Land seinen Blick auf Europa hat. Und es wandeln sich ja auch die Aufgaben. Den ursprünglichen Friedensimpuls haben wir jetzt schon sehr viele Jahrzehnte leben können in Europa.
Aber jetzt kommt ein anderes hinzu: die Herausforderung durch die Globalisierung - ich muss es nochmal sagen -, der Wettbewerb zwischen sehr, sehr großen Einheiten auf der Welt. Wenn wir für den Klimaschutz kämpfen, wenn wir für die Würde des Menschen, für Freiheiten kämpfen, dann tun wir das doch mit 500 Millionen Europäern sehr viel nachhaltiger, als wenn selbst wir großen Deutschen dort mit einer wieder differenziell anderen Position ankommen - aber mit 80 Millionen kommen Sie auch nicht besonders weit in dieser Welt, wenn jetzt Absprachen geführt werden oder wenn es eben um Wirtschaftspolitik geht, wenn es um die Frage geht: Staatsverschuldung oder eben solideres Haushalten?
Dann sind Sie schon mit 500 Millionen Menschen, wenn Sie sich auf eine gemeinsame Position einigen, immer nur von den sieben Milliarden auf der Welt ein kleiner Teil. Aber dann immerhin doch eine schlagkräftige Truppe. Das heißt die Fragen, die uns im Kern allen gemeinsam wichtig sind, die gemeinsam vertreten zu können in einer globalen Welt, bei der wirklich viele ganz andere Vorstellungen von dieser Welt haben - das, finde ich, ist ein solcher wesentlicher Wert, um überhaupt das leben zu können, was uns wichtig ist, dass es sich allemal lohnt, dafür auch ein zweites festes, neues Standbein Europas zu schaffen - neben der Friedensaufgabe.
Frage (de Weck): Wäre ein Kerneuropa nicht stärker? Antwort: Wer ist denn Kerneuropa?
Frage (de Weck): Die Gründerstaaten und ein paar derjenigen, die dazugestoßen sind und wirklich an der weiteren Integration teilhaben möchten.
Antwort: Richtig. Wir haben ja das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten in vielen Fragen. Der Euro, das sind 19 Mitgliedsstaaten. Wir haben das Schengenabkommen, auch dort sind nicht alle Mitgliedsstaaten dabei. Großbritannien hat sich immer wieder Opt-out-Optionen genommen, Dänemark hat sich für Opt-out-Optionen entschieden, also hat bei vielen Sachen nicht mitgemacht. Das haben wir immer sehr gut bewältigt.
Ich glaube, es muss nur ein einziges Prinzip geben: Wer Mitgliedsstaat ist, hat ein Recht darauf, bei jeder neuen Aufgabe, die nach Europa übertragen wird, mitzumachen, wenn er möchte. Wir können nicht sagen: Pass mal auf, jetzt haben wir uns was überlegt, das gilt jetzt nur für die Gründungsstaaten. Das geht auf gar keinen Fall. Offen sein, aber nicht fordern, dass jeder sofort mitmacht. Das kann man tun. Meine Erfahrung ist, dass bei sehr, sehr vielen Dingen dann doch sehr viele Mitgliedsstaaten mitmachen wollen. Insofern ist das Kerneuropa oder das Gründungsstaaten-Europa aus meiner Sicht nicht mehr das Europa, das wir in der heutigen Konstellation als sozusagen das leuchtende Beispiel nehmen können - zumal wir auch in Mitgliedsstaaten der Gründerstaaten ja durchaus auch ganz schöne Probleme haben.
Frage (Buhrow): Gibt es irgendwann die Vereinigten Staaten von Europa?
Antwort: Ich hoffe, dass es ein schlagkräftiges Europa gibt, das von seinen Bürgerinnen und Bürgern noch mehr anerkannt wird. Ob das eines Tages so oder so heißt, das weiß ich nicht. Heute heißt es Europäische Union. Ich kann damit prima leben, und das ist nicht mein zentrales Problem. Mein zentrales Problem ist, dass jede Ebene die Aufgaben findet, die gut und richtig dort angesiedelt sind. Da haben wir alle Hände voll zu tun.
Frage (Buhrow): Und Sie haben heute auch noch viel zu tun am Tage. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir haben im Vorfeld der Kanzlerin versprochen, es wird pünktlich nach einer halben Stunde Schluss gemacht ...
Antwort: Aber haben Sie nicht Sendezeiten, wo Sie auch schließen müssen? (Gelächter im Publikum und Applaus)
Frage (Buhrow): Auch das.
Antwort: Wenn ich mal wieder zur ARD eingeladen werde, dann werde ich sagen: Ich habe heute unendlich Zeit. Sie haben mir damals gesagt, ich hätte keine mehr. Mein nächster Auftritt ...
Frage (Buhrow): Jetzt weiß ich, warum alle Männer in der EU um vier Uhr morgens alle Waffen strecken und sich Ihrem Charme ergeben. Danke, dass Sie hier waren, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben und die Fragen beantwortet haben. Es war sehr interessant. Einen guten weiteren Arbeitstag für Deutschland und Europa.
Antwort: Dankeschön.
Und hier geht es weiter

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