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Dienstag, 10. Mai 2016

Rehabilitierung ist möglich

Am Wochenende sind wieder Tausende Menschen in Berlin auf die Straße gegangen, haben Gesicht gezeigt gegen den Aufmarsch von Rechtspopulisten und ein eindrucksvolles Zeichen gesetzt für Toleranz und Weltoffenheit. Hand aufs Herz - haben Sie eben mal kurz abgeschaltet? Das wäre nicht verwunderlich, denn der obige Satz ist in Phrasen erstarrt, besteht nur aus sinnentleerten Chiffren, die viel weniger über die Realität aussagen als über die „guten Absichten“ des Sprechers.
Insbesondere das seit einiger Zeit fast nur noch gemeinsam auftretende Begriffspärchen „Toleranz und Weltoffenheit“ ist – entgegen seinem „bunten“ Anspruch – farblos und nichtssagend geworden. Ja, es liegt bereits aufgebahrt im Mausoleum der totgedroschenen Phrasen, unbemerkt von denjenigen, die es weiterhin inflationär verwenden.


Für „Toleranz und Weltoffenheit“ stehen nicht nur sämtliche politischen Parteien in Deutschland (außer der AfD), sondern auch Kirchen, Gewerkschaften und Sportvereine. Als Motto wird es auf Luftballons, Fußballtrikots oder Brötchentüten gedruckt. Das durchgenudelte Duo ist zur reinen Propagandaformel degeneriert, so wie zu DDR-Zeiten „Weltfrieden“ oder Völkerfreundschaft“.

Ersetzte man es überall durch „Tortenguss und Wellpappe“, würde das kaum jemand bemerken, denn es bedeutet nichts mehr. Und das ist schade, besonders für die Weltoffenheit.
 
Weltoffen war früher, wer in die Fremde ging, weil es ihm daheim zu eng und kleinkariert wurde, wer andere Länder oder Kulturen kennenlernen wollte, Wanderburschen etwa, Forschungsreisende oder Eichendorffs „Taugenichts“. Neugierig und offenen Herzens zogen sie in die Welt hinaus. Aber erstens war das nicht jedermanns Sache – manche Menschen bescheiden sich mit dem, was sie haben und richten sich gern gemütlich darin ein – und zweitens galt es nur für eine bestimmte Lebensphase. Der Wanderbursche war so lange weltoffen, wie er auf Wanderschaft und somit auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen war. Wenn er sich nach einigen Jahren irgendwo niederließ, Meister wurde und eine Familie gründete, waren andere Tugenden gefragt.


Eine Gruppe war allerdings besonders darauf angewiesen, weltoffen zu sein: die Auswanderer. Meist wurden sie von Elend und Hunger aus der alten Heimat vertrieben, und um eine neue zu finden, brauchten sie dafür unbedingt die Bereitschaft, sich auf Fremdes und Ungewohntes einzulassen, sich anzupassen, Abstriche von eigenen Traditionen und Gewohnheiten zu machen. Und selbst wenn sie dazu bereit waren, wurde der Neuanfang noch schwer genug: „Dem Ersten den Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot“ lautete die Kurzformel für die deutschen Auswanderer nach Amerika, die deutlich machte, dass wohl erst die Enkel es dort zu einem bescheidenen Wohlstand bringen würden.

Das ist heute völlig anders. Die deutsche Aufnahmegesellschaft bietet Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten nicht nur kostenlos Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten auf höchstem Niveau, sondern ist sogar bemüht, sie ab dem Moment ihres Grenzübertritts den Einheimischen sozial und materiell gleichzustellen. Diese in der Welt einmalige Großzügigkeit ist der Hauptgrund, warum so viele gekommen sind und noch viel mehr kommen wollen.

Die heutige, zur bloßen Agitpropfloskel verkommene „Weltoffenheit“ stellt somit die Bedingungen echter Weltoffenheit auf den Kopf. Die Forderung, tolerant und weltoffen zu sein, ist in erster Linie an diejenigen zu richten, die zu uns kommen, insbesondere wenn sie kulturell-religiösen Prägungen entstammen, die weder Toleranz für Anders- oder gar Ungläubige noch Offenheit für ihnen fremde Lebensweisen kennen. Daraus ergibt sich die einzige Chance, diesen beiden todkranken Begriffen doch wieder Leben einzuhauchen: indem man ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgibt und sie an die Richtigen adressiert. Toleranz und Weltoffenheit sind das Mindeste, was wir den Neuankömmlingen abverlangen müssen.


In Deutschland haben Männer und Frauen gleiche Rechte. Wenn Frauen ohne Kopftuch herumlaufen, heißt das nicht, dass sie sexuell frei verfügbar sind. Jeder darf hier glauben, was er will. Er darf seine Religion verlassen, ohne dafür mit dem Tod bedroht zu werden. Die Gesetze dieses Landes stehen über religiösen Regeln, eine Paralleljustiz wird nicht geduldet. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden dürfen. So lautet die Willkommensbotschaft für alle, die hier bleiben wollen.

Und natürlich gilt das nicht nur für Migranten. Gerade wer die Forderung nach Toleranz und Weltoffenheit wie eine Monstranz vor sich herträgt, sollte imstande sein, auch Meinungen zu tolerieren, die er nicht teilt, ohne sie gleich reflexhaft als „rechts“ oder „rassistisch“ zu diffamieren.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.

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