Am Wochenende sind wieder Tausende Menschen in Berlin auf
die Straße gegangen, haben Gesicht gezeigt gegen den Aufmarsch von
Rechtspopulisten und ein eindrucksvolles Zeichen gesetzt für Toleranz
und Weltoffenheit. Hand aufs Herz - haben Sie eben mal
kurz abgeschaltet? Das wäre nicht verwunderlich, denn der obige Satz ist
in Phrasen erstarrt, besteht nur aus sinnentleerten Chiffren, die viel
weniger über die Realität aussagen als über die „guten Absichten“ des
Sprechers.
Insbesondere das seit einiger Zeit fast nur noch gemeinsam
auftretende Begriffspärchen „Toleranz und Weltoffenheit“ ist – entgegen
seinem „bunten“ Anspruch – farblos und nichtssagend geworden. Ja, es
liegt bereits aufgebahrt im Mausoleum der totgedroschenen Phrasen,
unbemerkt von denjenigen, die es weiterhin inflationär verwenden.
Für „Toleranz und Weltoffenheit“ stehen nicht nur sämtliche
politischen Parteien in Deutschland (außer der AfD), sondern auch
Kirchen, Gewerkschaften und Sportvereine. Als Motto wird es auf
Luftballons, Fußballtrikots oder Brötchentüten gedruckt. Das
durchgenudelte Duo ist zur reinen Propagandaformel degeneriert, so wie
zu DDR-Zeiten „Weltfrieden“ oder Völkerfreundschaft“.
Ersetzte man es
überall durch „Tortenguss und Wellpappe“, würde das kaum jemand
bemerken, denn es bedeutet nichts mehr. Und das ist schade, besonders
für die Weltoffenheit.
Weltoffen war früher, wer in die Fremde ging, weil es ihm daheim zu
eng und kleinkariert wurde, wer andere Länder oder Kulturen kennenlernen
wollte, Wanderburschen etwa, Forschungsreisende oder Eichendorffs
„Taugenichts“. Neugierig und offenen Herzens zogen sie in die Welt
hinaus. Aber erstens war das nicht jedermanns Sache – manche Menschen
bescheiden sich mit dem, was sie haben und richten sich gern gemütlich
darin ein – und zweitens galt es nur für eine bestimmte Lebensphase. Der
Wanderbursche war so lange weltoffen, wie er auf Wanderschaft und somit
auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen war. Wenn er sich nach
einigen Jahren irgendwo niederließ, Meister wurde und eine Familie
gründete, waren andere Tugenden gefragt.
Eine Gruppe war allerdings besonders darauf angewiesen, weltoffen zu
sein: die Auswanderer. Meist wurden sie von Elend und Hunger aus der
alten Heimat vertrieben, und um eine neue zu finden, brauchten sie dafür
unbedingt die Bereitschaft, sich auf Fremdes und Ungewohntes
einzulassen, sich anzupassen, Abstriche von eigenen Traditionen und
Gewohnheiten zu machen. Und selbst wenn sie dazu bereit waren, wurde der
Neuanfang noch schwer genug: „Dem Ersten den Tod, dem Zweiten die Not,
dem Dritten das Brot“ lautete die Kurzformel für die deutschen
Auswanderer nach Amerika, die deutlich machte, dass wohl erst die Enkel
es dort zu einem bescheidenen Wohlstand bringen würden.
Das ist heute völlig anders. Die deutsche Aufnahmegesellschaft bietet
Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten nicht nur kostenlos Wohnraum,
Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten auf höchstem Niveau,
sondern ist sogar bemüht, sie ab dem Moment ihres Grenzübertritts den
Einheimischen sozial und materiell gleichzustellen. Diese in der Welt
einmalige Großzügigkeit ist der Hauptgrund, warum so viele gekommen sind
und noch viel mehr kommen wollen.
Die heutige, zur bloßen Agitpropfloskel verkommene „Weltoffenheit“
stellt somit die Bedingungen echter Weltoffenheit auf den Kopf. Die
Forderung, tolerant und weltoffen zu sein, ist in erster Linie an
diejenigen zu richten, die zu uns kommen, insbesondere wenn sie
kulturell-religiösen Prägungen entstammen, die weder Toleranz für
Anders- oder gar Ungläubige noch Offenheit für ihnen fremde Lebensweisen
kennen. Daraus ergibt sich die einzige Chance, diesen beiden todkranken
Begriffen doch wieder Leben einzuhauchen: indem man ihnen ihre
ursprüngliche Bedeutung zurückgibt und sie an die Richtigen adressiert.
Toleranz und Weltoffenheit sind das Mindeste, was wir den
Neuankömmlingen abverlangen müssen.
In Deutschland haben Männer und Frauen gleiche Rechte. Wenn Frauen
ohne Kopftuch herumlaufen, heißt das nicht, dass sie sexuell frei
verfügbar sind. Jeder darf hier glauben, was er will. Er darf seine
Religion verlassen, ohne dafür mit dem Tod bedroht zu werden. Die
Gesetze dieses Landes stehen über religiösen Regeln, eine Paralleljustiz
wird nicht geduldet. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden dürfen.
So lautet die Willkommensbotschaft für alle, die hier bleiben wollen.
Und natürlich gilt das nicht nur für Migranten. Gerade wer die
Forderung nach Toleranz und Weltoffenheit wie eine Monstranz vor sich
herträgt, sollte imstande sein, auch Meinungen zu tolerieren, die er
nicht teilt, ohne sie gleich reflexhaft als „rechts“ oder „rassistisch“
zu diffamieren.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.
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